Im Strudel des Schicksals. Dietmar Schenk
hat, hallt sie immer wieder mal auf. Auch mitten in der Nacht, wenn Sandra meint, zu schlafen.
Das triste Grau da draußen macht dem fiktiven Bild einer Arztpraxis Platz. Vor ihr sitzt an einem ungewöhnlich aufgeräumten Schreibtisch mit PC ein Arzt wie aus dem Bilderbuch: Um die 60, die vollen Haare graumeliert, mit Stethoskop um den Hals und zwei Kugelschreibern in der Brusttasche des weißen Kittels. Er sitzt ihr gegenüber und dirigiert mit gepflegten Händen per Maus den Cursor über den Monitor. Langsam und lange. Dann schaut er über den Rand seiner Lesebrille Sandra an, und sein Blick bekommt einen Hauch von Mitgefühl, als er sagt: „Frau Pearson, es tut mir unendlich leid, Ihnen sagen zu müssen, dass sie Bauchspeicheldrüsenkrebs haben.“
Sandra hört sich selbst unfassbar gefasst antworten: „Aha. Und wie lange hab ich noch?“
Der Arzt schaut wieder auf den Monitor, als könnte er dort die Antwort ablesen, und antwortet nach einer gefühlten Ewigkeit: „Maximal sechs Monate.“
„Sechs Monate“, wiederholt Sandra. „Dann kann ich den Winter noch durchleben und dann gehen.“
Nun nimmt wieder die lichtlose Suppe ihren Platz in Sandras Realität ein. Sie wird sich auch wieder des Bildes in ihren Händen gewahr, hebt es ein wenig an und senkt ihren Blick darauf. „Da war noch alles in Ordnung“, flüstert sie. „Wo ist mein Leben nur hingegangen?“ Tränen quellen aus den Augen und rollen die blassen Wangen hinab. Sie legt das Bild in den Koffer und wischt sie mit dem Handrücken weg, während in ihrem Bewusstsein wie aus dem Nichts das bärtige Gesicht eines über sie gebeugten Mannes aufpoppt.
„Mama, du weinst?“
Sandra schreit laut auf und reißt die Hände vors Herz. „O mein Gott, Kleines, was hast du mich erschrocken.“
Das Kind ist ganz verdattert. „Was ist denn mit dir?“ Jessica steht im Türrahmen. Ihre kindliche Hand hält krampfhaft drei Finger der anderen umklammert. Zu dem sorgenvollen Gesichtsausdruck, umrahmt von blondem Engelshaar, sieht das herzzerreißend aus. Das Lächeln, das Sandra von ihrer Tochter gewohnt ist, fehlt gänzlich. Sie fingert ein zerknülltes Papiertaschentuch aus der Jeans, schnäuzt sich und tupft sich noch eine Träne ab, bevor sie es wieder einsteckt. Dann klopft sie mit der Hand neben sich aufs Bett und sagt: „Alles gut, meine Kleine. Komm, setz dich.“ Sandra hat Jessicas Schritte nicht gehört. Zu sehr hat der Arztbesuch von letzter Woche wieder von ihr Besitz genommen. Dabei hüpft Jessica doch meistens durch die Wohnung. Sie ist ja auch erst acht.
Jessica lässt sich aufs Bett fallen und schlingt ihre Arme um den Leib der Mutter. Diese zieht das Mädchen an sich und drückt seinen Kopf an ihre Brust. „Bald sind wir bei Oma und Opa“, sagt sie. „Da geht es uns bestimmt besser als hier.“
„Aber ich kenne sie doch gar nicht.“
Sandra versucht, ihre Bedenken zu zerstreuen. „Mach dir keine Sorgen. Die sind ganz lieb und werden dich mögen.“
„Wo liegt denn England?“, fragt Jessica, nun in Englisch. Bisher haben sie sich in Deutsch unterhalten. Jessica berlinert sogar ein wenig. Aber Sandra hat immer darauf geachtet, dass Jessica auch ihre Muttersprache erlernt, damit das Mädchen Englisch kann, sollten sie einmal in die alte Heimat zurückkehren. Und das ist nun der Fall.
Sandra deutet auf das Fenster. „Weißt du noch“, fragt sie in Englisch, „wie da abends die Sonne reinscheint, wenn das Wetter schön ist?“
„Jaaa, wenn du mich ins Bett bringst, dann scheint manchmal die Sonne herein.“ Jessicas Stimme nimmt einen schwärmerischen Tonfall an, den Sandra nur zu gerne wahrnimmt. Offenbar hat sie schon wieder vergessen, dass ihre Mom geweint hat.
Sandra drückt das Mädchen noch fester an sich. „Und manchmal scheint sie auch noch, wenn ich etwas später zu dir ins Bett komme. Dann schläfst du schon und schnarchst leise.“
Jessica erbost sich. „Tu ich nicht. Ich schnarche nicht.“
„Ein bisschen.“
„Gar nicht.“
„Nur manchmal, und nur ein bisschen.“ Als Jessica sich von ihr löst und sie verschämt anschaut, muss Sandra lachen.
Nun lacht auch Jessica und schmiegt sich wieder an ihre Mama. Sie ist froh darüber, dass es nur ein Witz war. Es würde ihr leidtun, die Mama beim Schlafen zu stören. Dazu liebt sie sie zu sehr.
„Nein, du schnarchst nicht“, bestätigt Sandra dann auch. „Und da, wo die Sonne am Abend steht, da ungefähr ist England“, erklärt sie.
Jessica gönnt sich einen tiefen Atemzug, bevor sie fragt: „Ist es schön da?“
Sandra nickt eifrig. „England ist umgeben von Meer, mein Schatz. Es ist eine riesige Insel. Da gibt es große Städte, wie zum Beispiel London, und es gibt ganz-ganz kleine Dörfer, wie Combe Manor, wo Oma und Opa leben. Aber da ist auch eine große schöne Stadt in der Nähe. Das ist Bristol. Und die Dörfer sind mit engen Straßen verbunden, die sich durch wunderschöne Landschaften schlängeln. Combe Manor ist das schönste Dorf der Welt. Dort sieht es noch genauso aus wie vor ganz-ganz-ganz-ganz langer Zeit.“ Bei jedem ‚ganz‘ sticht Sandra sie mit dem Zeigefinger auf die kurzen Rippen, eine Stelle, wo Jessica besonders kitzelig ist. Sie möchte sich aufbäumen vor Lachen, aber Sandra hat sie fest im Arm, und so lacht das Mädchen hell und schrill.
Als es sich erholt hat, bittet es: „Mach’s noch mal, Mom.“
Sandra lächelt, streckt langsam den Zeigefinger aus, zieht den Start qualvoll in die Länge, während Jessica bereits vor gierigem Verlangen kichert und sich krümmt. Dann endlich kommt die Erlösung: „Da sieht es aus wie vor ganz-ganz-ganz-ganz langer Zeit.“
Wieder bäumt Jessica sich unter dem Piksen mit dem Finger auf und ist dabei so gut gelaunt, wie lange nicht mehr.
Sandra lacht herzhaft mit. Als die beiden sich erholt haben, fährt sie weiter fort: „Da stehen lauter alte Häuser, eine wuchtige alte Kirche mit Friedhof, und es darf dort nichts verändert werden, damit alles so bleibt, wie es ist.“
Jessica legt einen schwärmerischen Blick auf. „Wie schön.“
„Und weißt du was?“ Sandra hebt die Augenbrauen.
Jessica weiß, wenn Mom so schaut, dann macht sie es spannend. „Nein, was denn? Komm, sag schon.“
„Och, ich sag’s doch nicht. Vielleicht später.“
„Nein, jetzt, Mom. Bitte.“
„Na gut. Aber nur, weil du mein lieber Schatz bist. England ist sehr mystisch!“
„Was bedeutet mystisch?“, will Jessica wissen.
„Das bedeutet ein bisschen so viel wie märchenhaft.“
„Und was gibt es da aus dem Märchen?“, bohrt sie weiter.
Sandra schmunzelt. „Feen, Elfen, Einhörner, Zwerge, Drachen…“
Jessica klatscht in die Hände und hüpft auf dem Bett herum. „Wow wie schön. Werden wir die dort auch sehen?“
„Vielleicht?“
„O jaaa.“ Jessica strahlt über das ganze Gesicht.
„Dann freust du dich, dass wir zu Oma und Opa fahren?“
„Ja, ich freue mich.“
Sandra fällt ein Stein vom Herzen. „Dann lass mich jetzt weiter packen, ja?“
Jessica springt vom Bett auf. „Ja“, ruft sie aus. „Ich decke schon mal den Tisch. Ich habe Hunger.“
„In Ordnung“, sagt Sandra, und während sie sich den Klamotten auf dem Bett widmet, hört sie Jessica fragen: „Warum fahren wir denn eigentlich nach England?“
Die rege Unterhaltung mit dem Mädchen hatte Sandra von ihrer Krankheit abgelenkt, ja, sie hatte sie für ein paar Minuten vollkommen vergessen. Doch nun kracht sie wieder mit voller Wucht in ihr Gedächtnis wie eine Kanonenkugel in eine Kiste. Wie aus dem