Im Strudel des Schicksals. Dietmar Schenk
und weg sind sie.
Gwynn rückt mit dem Stuhl ein wenig näher an den Tisch und streckt sich vor, als wolle sie Sandra ein Geheimnis verraten. „Nun erzähl!“
Sandra ist es immer noch nicht wohl, aber sie ist froh, dass ihr System nicht so rebelliert wie noch gestern in Berlin. „Was willst du wissen?“
„Alles. Was ist los mit dir? Dass es dir nicht gutgeht, sieht doch ein Blinder.“
Sandra hebt die Schultern. „Ich hab momentan eine Schwäche. Geht wieder vorbei.“
„Und die Kapseln, die du einwirfst? Enzyme?“
Sandra nimmt einen tiefen Atemzug und sagt: „Lass uns lieber von was Schönem reden. Wir haben uns so lange nicht gesehen. Über zehn Jahre nicht.“
„Du hast recht“, erwidert Gwynn. „13 Jahre sind es, was für eine lange Zeit.“
„Irgendwie haben wir uns aus den Augen verloren, als ich die Lehre in Bristol machte. Trotz der langen Pause fühle ich aber immer noch diese herzliche Verbindung zwischen uns. Wir haben uns nie gestritten, nicht wahr?“
Gwynn nickt. „Nie, selbst nicht, wenn es um Kerls ging. Weißt du noch, wie wir in denselben Jungen verknallt waren? Wie hieß er noch gleich?“
„Vic!“
„Richtig, Vic. Mann, was haben wir den umschwärmt. Aber gewollt hat er uns beide nicht.“
„Na ja, Junge ist eine nette Umschreibung“, sagt Sandra. „Wir waren 15, und er? 30?“
„Kann hinkommen“, bestätigt Gwynn. „Dann wäre er jetzt 45. Eh zu alt für uns.“ Sie winkt ab. „Und außerdem will ich gar keinen mehr. Hab die Schnauze voll. Wenn ich nur an meinen Ex denke, diesen Vollpfosten.“
Sandra lacht. „Wollten wir nicht von was Schönem reden?“
„Wenn du lachst, Sandra, dann muss es doch was Schönes sein. Ich hab dich – entschuldige meine Direktheit – nur selten lachen sehen. Eigentlich gar nicht. Auch damals nicht, als wir Kinder waren.“
„Da haben wir oft drunten im Bach gespielt, weißt du noch?“ Sandra beugt sich zum Sprossenfenster vor und schaut zu dem Gewässer hinüber, das ruhig und gemächlich dahinfließt. Wehmut erfasst sie. „Was bin ich so froh, wieder hier zu sein. Berlin war eine Katastrophe.“
„Warst du eigentlich schon jemals glücklich?“, fragt Gwynn vorsichtig.
Sandra legt die Hände zusammen und schaut zur Decke. Nach einer Weile antwortet sie: „Hättest du mich das gefragt, bevor ich nach Berlin ging, dann hätte ich gesagt: Nein. Heute sage ich: Ja. Es ist wohl immer eine Frage der Perspektive. Hätte ich die Zeit in Berlin nicht erlebt, dann würde ich meine Jugendzeit hier in Combe Manor nicht zu schätzen wissen. Ich bin froh, wieder hier zu sein, auch, wenn meine Großeltern immer nur an mir rumnörgelten. Vielleicht haben sie sich ja inzwischen geändert. Aber weißt du was, Gwynn? Ich habe das sogar vermisst. Das Nörgeln bedeutet im Nachhinein für mich, dass jemand für mich da ist. In Berlin war ich mutterseelenallein mit Jessica.“
„Wie hast du das denn gemacht? Das Baby, und gleichzeitig Geld verdienen?“
„Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Es ist irgendwie weg, nicht mehr auf dem Schirm. Es war eine verdammt schwere Zeit.“ Sandra treten Tränen in die Augen.
Gwynn umfasst erschrocken die zittrigen Hände ihrer Freundin, die gefaltet auf dem Tisch liegen. „Entschuldige, ich wollte das nicht.“
Sandra nickt und wischt sich mit der Schulter die Tränen weg. „Jessi darf das nicht mitkriegen“, schluchzt sie.
Gwynn stiert ihr in die Augen und nickt ihr aufmunternd zu – nun mach schon, erzähl.
„Ich habe Krebs.“ Sandras Hände zittern mehr, und Gwynns Griff wird fester.
„Bauchspeicheldrüse. Deshalb die Enzyme.“
Gwynn umklammert nun entsetzt Sandras Hände.
„Laut Ärzten hab ich noch drei Monate.“ Sie beginnt, fest zu weinen.
„Das ist ja furchtbar“, sagt Gwynn gerührt. Es gelingt ihr kaum, ihre eigenen Tränen zurückzuhalten. Sie möchte stark sein, um Sandra beizustehen. Doch es ist so verdammt schwer.
„In Berlin hatte ich gestern noch einen ganz schlimmen Anfall. Aber jetzt, wo wir wieder hier sind, habe ich das Gefühl, ich könnte den Krebs besiegen. Ich fühle mich so wohl, trotz auftretender Schmerzen. Endlich wieder zuhause.“
Gwynn schnieft kurz und runzelt die Stirn. „Warum eigentlich Berlin?“
„Ich glaube, ich muss ein wenig weiter ausholen“, sagt Sandra. „Du weißt doch, dass mein Vater Berliner ist und ich dort geboren wurde, bevor er meine Mutter verließ und sie mit mir als Baby wieder zurückkam.“
„Ja, ich glaube, das hast du mir mal erzählt.“
„Ich bin von meinen Großeltern aufgezogen worden, nachdem meine Mutter mich bei ihnen allein ließ und abhaute, als ich vier war. Seitdem hab ich sie nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht mal, ob es sie noch gibt. Bei dem Lebenswandel, den sie hatte, ist es gut möglich, dass sie unter die Räder gekommen ist.“
Gwynn hört nur aufmerksam zu und unterbricht Sandra nicht.
„Ich bin dann nach Bristol gezogen und hab dort eine Lehre in der Gastronomie gemacht. Danach wurde ich aber nicht übernommen, und eine neue Anstellung fand ich nicht. Ich hatte mir damals eingebildet, in Berlin größere Chancen zu haben, aber dann kam alles ganz anders. Ich hab für ein paar Euro in Kneipen und Fast Food Restaurants gejobbt und bin nie so richtig in die Pötte gekommen. Und dann ist das Schlimmste passiert, das sich eine Frau vorstellen kann.“ Sandra treten wieder vermehrt Tränen ins Gesicht. Mit weinerlicher Stimme fährt sie fort: „Als ich eines frühen Morgens von der Arbeit nach Hause ging, bin ich von drei jungen Männern vergewaltigt und niedergestochen worden.“
Jetzt erst lässt Gwynn Sandras Hände los, um sie sich vors Gesicht zu reißen. „Nein“, haucht sie durch die Finger.
Sandra putzt sich kräftig die Nase und wischt erneut die Augen frei. „Ich habe nur überlebt, weil ich schnell gefunden und notoperiert wurde. Das alles ist nun schon fast zehn Jahre her.“
„Oh Gott, und Jessi…?“
„…stammt aus der Vergewaltigung. Aber ich liebe sie über alles, vielleicht auch nur, weil es mir damit einfacher fällt, den Kerlen zu verzeihen und die Geschichte aufzuarbeiten.“
Gwynn entrüstet sich. „Verzeihen? So jemand gehört ge-…“
„Seither plagen mich immer wieder gesundheitliche Probleme“, unterbricht Sandra. „Inzwischen ist Bauchspeicheldrüsenkrebs daraus geworden. Es wurde in letzter Zeit immer schlimmer, bis ich es nicht mehr aushielt. So war ich im November beim Arzt, der mir sagte, dass ich nicht mehr lange zu leben habe. Nun bin ich wieder hier und möchte Jessi zu meinen Großeltern bringen. Ich hoffe, sie sind noch rüstig genug, um sich um sie zu kümmern.“
Gwynn zieht hörbar die Nase hoch. Als Sandra ihr ein Taschentuch reicht, nimmt sie es gerne an. „Sandra-Schatz, das ist ja alles so entsetzlich,“ murmelt sie.
„Gestern hatte ich den bisher schlimmsten Anfall. Mir wird ganz plötzlich übel, es entsteht Druck im Oberbauch, als ob ich einen riesigen Stein drin hätte, ich würge bittere Galle hoch und bekomme hohes Fieber, manchmal all das auf einmal. Auf dem Flug nach Bristol hatte ich minütlich mit neuen Anfällen gerechnet, aber sie blieben erstaunlicherweise aus. Auf der Fahrt hierher ging es mir dann noch besser, und seit wir hier in Combe Manor sind, habe ich sogar das Gefühl, ich könnte echt wieder gesund werden. Ich bin so froh, hier zu sein. Und dann das Treffen mit dir – Wahnsinn!“ Sandra lässt ihren Tränen freien Lauf, diesmal eher aus einer wohligen Erleichterung heraus. Sie erhebt sich und fällt Gwynneth um den Hals. Sie drückt sie fest an sich, und dann noch fester. „Ach Gwynn, meine beste Freundin. Wie schön, dass du auch wieder hier bist.