Im Strudel des Schicksals. Dietmar Schenk

Im Strudel des Schicksals - Dietmar Schenk


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einer halben Stunde weisen Schilder den Weg zum nahen Heritage, dem Jahrtausende alten Vermächtnis einer vergangenen Kultur, von dem nicht viel bekannt ist. Sandra, den Schreck vom Kreisel noch immer in den Knochen, fährt langsam und vorsichtig, ohne dass der nachfolgende Verkehr sie drängen würde. Ihre ‚Follower‘ scheinen alle viel Zeit zu haben.

      Sandra meint, sich noch recht gut an einen großen Parkplatz erinnern zu können, von dem aus man durch eine Unterführung auf die andere Straßenseite und zu dem Steinkreis gelangte. Früher, vor Sandras Zeit, war Stonehenge einmal frei zugänglich gewesen, und jährlich am 21. Juni fanden sich viele Neokelten ein, um die Sommersonnenwende zu feiern. Da solche Feste jedoch mit immer mehr Verschmutzung des Kulturerbes einhergingen, wurden diese zunächst verboten, und später bekam Stonehenge einen Zaun mitsamt ständiger Bewachung. Gegen Zahlung eines kleinen Beitrags war es aber immer noch möglich gewesen, den Steinkreis zu betreten und zwischen den Megalithen des Bauwerks umher zu pilgern. Wenn nicht viele Menschen vor Ort waren, konnte man sogar zur Besinnung verweilen und die Kraft spüren. Sandra erinnert sich daran, dass es immer geregnet hatte, wenn sie mit ihren Großeltern nach Stonehenge gefahren war. Das fällt ihr jetzt erst auf, nach mindestens 20 Jahren. Bei Regen hierher zu fahren hatte sicher auch den Grund gehabt, möglichst alleine dort zu sein.

      Die Schilder führen Sandra in eine andere Richtung, als sie sich zu erinnern glaubt, und bald stellt sie fest, dass sich hier alles verändert hat. Die alten Parkplätze, auf denen Oma und Opa immer ihr Auto abgestellt hatten, sind verschwunden, wurden wahrscheinlich der Natur zurückgegeben, und die Unterführungen sind zugeschüttet und damit nun Teil des Straßendamms. Sandra wird auf einen anderen großen Parkplatz geleitet, auf dem sie schon aus einiger Entfernung Busse stehen sieht. Sie lenkt das Fahrzeug dorthin, und als sie den Schildern zum Eingang folgt, ist sie erschrocken und entsetzt, wie sehr sich alles verändert hat. Wo ist die Andacht des Monuments geblieben, wo die heilige Atmosphäre? Stonehenge gleicht einem überfüllten Rummelplatz, degradiert zum Touristenmagnet mit Ausstellungshalle zur Geschichte des Monuments. Ein kleines Freilichtmuseum ist ebenso dabei, wie ein paar Ticketschalter und eine Bushaltestelle, von wo aus die Touristen nach Stonehenge gebracht werden. Der Steinkreis ist nur noch in der Ferne zu erahnen.

      Sandra begibt sich zu einem der Schalter, vor dem sich bereits eine Schlange gebildet hat. Sie erhascht einen Blick auf die Preistafel, die ihr einen Seufzer der Enttäuschung entlockt. „26 Pfund, die Hälfte von dem, was ich noch habe“, stöhnt sie. „Für den Eintritt zu einem Heiligtum, wo ich garantiert keine Besinnung finde, und schon gar keine Heilung, bei dem Rummel.“ Enttäuscht geht sie zum Auto zurück.

      5. Kapitel – Der Entschluss

      Es ist recht früher Nachmittag, als Sandra wieder bei Gwynn eintrifft und ihr den Schlüssel zurückbringt. Früh genug, dass Gwynn noch nicht wieder zur Arbeit gegangen ist. Sie hätte schon eine Stunde früher wieder zurück sein können, wenn sie nicht in einer einsamen Bucht am Straßenrand gehalten und sich der Verzweiflung hingegeben hätte. Das schöne Wetter kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie nicht die ersehnte Heilung bekommen hat. ‚Noch drei Monate!‘, schießt es ihr durch den Kopf. Es ist gerade so, wie andere über den nächsten Urlaub nachdenken. ‚Noch drei Monate, dann fliegen wir in den Süden!‘ Mit dem Unterschied, dass Sandras Süden wo ganz anders ist. Seltsamerweise waren bei dem Stopp keine Schmerzen aufgetreten, keine Fieberattacken oder andere Anfälle. Sie hatte sich nur dem Schicksal ergeben – und ihren Tränen. Sie hatte so sehr geweint, dass sie Durst bekommen hatte. Dieses Signal des Körpers – he, ich brauche Wasser – konnte sie jedoch nicht befriedigen, weil sie vergessen hatte, welches mitzunehmen. Aber für Sandra war der Durst sowieso nur ein Zeichen dafür gewesen, dass sie ‚Unmengen von Tränen‘ vergossen hatte. So kam es ihr jedenfalls vor.

      Als sie sich beruhigt hatte und der Kopf wieder klarer wurde, da wusste sie, dass sie einen Entschluss fassen musste. Es gab nichts mehr drum herum zu reden, denn die Fakten waren klar: Sie würde sterben, und zwar schon bald. Sandra hatte in diesem Moment der Verzweiflung nicht in Erwägung gezogen, dass der Arzt sich geirrt haben könnte. Dass sie kein Vierteljahr, sondern vielleicht noch 12 Monate hatte. Oder gar noch mehr? Jetzt ging es nur noch darum, eine Lösung für Jessica zu finden und sich irgendwie über Wasser zu halten, bis der Tod sie erlöste.

      Sandra hält den Autoschlüssel mit Daumen und Zeigefinger am Schlüsselring und lässt ihn in Gwynns offene Hand fallen. „Ich danke dir, meine beste Freundin.“ Diese Worte begleiten das Herabfallen des Schlüssels. „Wann musst du weg?“

      „In zwei Stunden. Wir können uns gerne noch ein wenig unterhalten.“ Gwynn lächelt. „Cream Tea?“

      „Lieber Wasser“, entgegnet Sandra. „Ich hab solch einen Durst.“ ‚Wie gut, dass ich mich bereits ausgeweint und mit dem nahenden Ende abgefunden habe‘, fügt sie in Gedanken hinzu.

      „Kriegst du, meine Liebe. Setz dich schon mal in den Erker. Bin gleich bei dir.“

      Augenblicke später sitzen sie an dem Tisch mit Blick auf den Bach. Sandra leert ihr Glas in einem Zug, und Gwynn schenkt aus einer Kanne nach, die sie mitgebracht hat. „Und, wie war Stonehenge?“, fragt sie.

      Sandra wischt sich den Mund trocken und winkt ab. „Total anders, als ich es in Erinnerung hatte. Ich habe mein Ziel nicht erreicht.“ Sie beugt sich zu Gwynn über den Tisch vor und flüstert: „Wo ist Jessi?“

      Gwynn deutet zur Decke. „Oben, mit Boy. Warum?“

      „Gwynn, du musst mir helfen“, sagt Sandra.

      „Natürlich, immer. Was kann ich für dich tun?“

      „Hast du einen PC?“

      „Ja“, antwortet Gwynn, „aber…“

      „Hör zu“, unterbricht Sandra. „Zwei Dinge. Erstens: Ich muss eine Anzeige aufgeben. Am besten online. Und zweitens: Ich brauche einen Job, denn bei meinen Großeltern kann ich nicht wohnen. Meinst du, ich könnte ein paar Wochen im Golfclub arbeiten? Könntest du mir helfen, dort eine Anstellung zu bekommen?“

      „Ich denke, das ist kein Problem“, sagt Gwynn. „Aber was soll das heißen, ein paar Wochen? Und was soll das für eine Anzeige werden? Für einen neuen Job? Willst du nicht erst mal gesund werden und dann nach einer passenden Stelle schauen?“

      „Ich werde nicht mehr gesund“, antwortet Sandra. „Und die Anzeige ist für Jessi.“

      Gwynn hebt die Hände hoch. „Nun red doch nicht solch einen Blödsinn. Natürlich wirst du gesund.“ Das war geradezu herausposaunt, viel lauter, als Gwynn eigentlich wollte. Erschrocken über sich selbst, schaut sie über die Schulter zur Treppe, aber es bleibt still. Sie beugt sich zu Sandra vor und flüstert: „Was soll das? Klar wirst du gesund.“

      Sandra schüttelt energisch den Kopf. „Ich hab keine Kraft mehr, zu kämpfen. Deshalb suche ich nun per Anzeige Pflegeeltern für Jessi.“

      Gwynn wird es ganz seltsam zumute. „Aber Sandra!“

      „Ich will nicht, dass sie in ein Heim kommt. Meine Großeltern werden sich nicht um sie kümmern, dir will ich sie nicht aufbürden, und in ein Heim soll sie auf gar keinen Fall. Also suche ich gute Pflegeeltern für sie, solange ich noch kann, und dann gehe ich.“

      Gwynn, sonst nicht auf den Mund gefallen, weiß nicht, was sie sagen soll.

      „Meinst du, es wäre möglich, auch eine Unterkunft im Golfclub zu bekommen?“, fährt Sandra fort. „Oder einfach gegen freie Kost und Logis dort zu arbeiten?“

      „Du scheinst es wirklich ernst zu meinen“, entgegnet Gwynn. „Das tut so weh, Sandra. Kann ich denn nichts für dich tun? Dich auf andere Gedanken bringen? Oder zu einem guten englischen Arzt? Ich habe keine Ahnung, was deutsche Ärzte so draufhaben, aber eine zweite Meinung wäre sicher nicht schlecht, oder? Warte, ich suche dir mal einen in Bristol raus.“ Gwynn nimmt ihr iPhone zur Hand und will mit der Suche beginnen.

      Sandra drückt Gwynns Hand nieder. „Lass gut sein, Süße, es hat keinen Zweck.


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