Im Strudel des Schicksals. Dietmar Schenk
ihre Beerdigung. Spätestens! Angesichts dieser Idylle kommt ihr das nun echt wahnwitzig vor. In diesem wunderbaren Moment fühlt sie sich überhaupt nicht so, als müsse sie sterben. Sie blickt zu Jessica, ihrer geliebten Tochter, und schaut ihr zu, wie sie, über die Brückenmauer gebeugt, Kieselsteine in den Bach wirft. ‚Was wird dann wohl aus ihr?‘ Sandra möchte weinen, aber dann verdrängt sie den Gedanken an das nahende Ende wieder und lenkt ihre Wahrnehmung auf diese wunderschöne Umgebung, die sie sehr vermisst hat. Es war ihr gar nicht so bewusst gewesen in all den Jahren in Berlin. Die Sehnsucht tritt erst jetzt heftig zutage, da sie sie gar nicht mehr braucht, weil sie ja wieder zuhause ist.
„Mama, schau mal, ich kann Steine in den Wellenkreis vom anderen Stein werfen!“
Sandra gleitet von der Mauer runter und stützt sich neben Jessica auf die niedrige Brüstung. Sie schaut in das stille Wasser, das gerade mal eine Handbreit tief ist, und schon stürzt ein Kiesel hinab und bildet einen Wellenkreis. Gleich darauf folgt der zweite. „Jaaa!“ Jessica hat getroffen. „Gut gemacht, meine Kleine“, sagt Sandra.
Jessica wirft noch einen weiteren Stein hinterher, aber Sandra sieht es nicht mehr. Ganz plötzlich ist es dunkel geworden. Sie tastet nach dem Grund, die ihr die Sicht nimmt, als sie eine Stimme hört, die zu ein paar wohlig warmen Händen gehört: „Erst raten, wer hier ist.“
Der erste Name, der Sandra einfällt, ist: „Gwynn?“
Die Dunkelheit macht dem Sonnenlicht Platz. „Ja, natürlich Gwynn, deine beste Freundin aus alten Tagen. Wer denn sonst?“
Sandra wirbelt herum und blickt in ein Gesicht, das sich in den letzten zehn Jahren kaum verändert hat. Es ist immer noch umrahmt von langen, dunkelbraunen Locken, die so wunderbar zu den braunen Augen passen, und auch die Haut ist noch genauso makellos und beneidenswert wie damals, als Sandra zur gleichen Zeit unter grässlicher Akne litt. „Gwynn!“ Sie fällt der Frau um den Hals. „Wieso bist du hier? Wohnst du nicht in Bristol?“
„Das war einmal. Mensch, Sandra, so lange nicht gesehen, und trotzdem noch erkannt. Ich hab dich von meiner Wohnung aus beobachtet.“ Sie deutet auf ein Haus auf der anderen Seite des Bachs. „Ich schaue so durchs Fenster und denke: ‚Das gibt’s doch nicht. Die sieht ja aus wie Sandra.‘ Und stell dir vor: Als ich die Kleine dabei beobachtete, wie sie Steine ins Wasser wirft, da war ich mir sicher, dass du es wirklich bist. Sie sieht genauso aus wie du früher. Deine Tochter, nicht wahr?“
„Ja.“ Sandra winkt das Mädchen herbei. „Komm mal her, Jessica. Das ist Gwynneth, meine beste Freundin. Wir kennen uns schon seit ganz-ganz-ganz-ganz vielen Jahren.“
Jessica reicht Gwynn kichernd die Hand und macht einen Knicks.
„Wie wohlerzogen“, sagt Gwynn. „Respekt. Aber kommt doch mit zu mir, da ist es gemütlicher, als hier auf der Brücke.“
„Mama, ich hab Hunger“, wirft Jessi ein.
„Wir wollen zu meinen Großeltern“, antwortet Sandra auf Gwynns Vorschlag. „Aber lass uns doch heute Nachmittag zusammenkommen.“
„Da muss ich arbeiten“, sagt Gwynn. „Nun los, kommt schon. Ich hab auch was ganz Feines zu Essen da.“
Sandra blickt Jessica an, die vor der Brückenmauer steht und zwischen ihr und Gwynn hin- und herschaut. „Was meinst du, Kleines, gehen wir kurz mit?“
Als Jessica sich unschlüssig zeigt, schiebt Gwynn nach: „Ich hab auch einen Sohn, der ist ungefähr so alt wie du. Der freut sich sicher, wenn du uns besuchst.“
Jessica richtet ihren Blick auf Gwynns Haus und erkennt das Gesicht eines offenbar netten Jungen am Fenster. Sie nickt, und noch bevor sie eine Antwort artikulieren kann, klatscht Gwynn in die Hände und ruft: „Prima!“
Wenig später sitzen sie zu viert an einem altertümlichen Tisch aus dunklem Holz, der genau an jenem Fenster steht, aus dem der Junge geschaut hat. Jessica hockt auf einem herrlich weich gepolsterten Stuhl direkt an diesem Sprossenfenster mit Blick auf den Bach, dem Jungen gegenüber, der zwar George heißt, von Gwynn aber nur „Boy“ genannt wird. Neben ihr sitzt Sandra.
Boy sieht lustig aus, findet Jessica, mit wilden braunen Locken, die ihm in die Stirn fallen und sogar die Ohren bedecken. Mit seinen großen dunklen Augen erinnert er sie an ein Alpaka. Jessica muss unwillkürlich lachen. Boy lacht mit.
Gwynn erhebt sich, als ein Wasserkessel pfeift. Sie geht durch einen Steinbogen in die angrenzende Küche, aus der man sie reden hört: „Ihr werdet staunen, was ich hier habe. Bin schon auf eure Gesichter gespannt.“ Wasser plätschert in eine Kanne. „Boy, komm her und verteil schon mal das Geschirr.“
Der Junge klettert gelenkig aus dem engen Erker heraus, eilt in die Küche und kommt mit in schlichtem Weiß gehaltenen Tellern und Tassen wieder, die er auf die vier Plätze verteilt. Zu jedem Set legt er gespielt ordentlich ein offenbar wertvolles Messer aus Silber und einen Löffel, bevor er sich behände wieder auf seinen Stuhl schwingt und Jessica angrinst.
Gwynn bringt ein Tablett mit Teekanne, Milchkännchen, einer Schüssel voller Gebäck, Erdbeermarmelade, sowie vier kleinen Behältnissen, die eine hellbeige Creme enthalten. Sie stellt es auf dem Tisch ab.
„Sieht lecker aus“, sagt Sandra. „Was ist das?“
„Nun komm aber“, sagt Gwynn, während sie Tee auf die Tassen verteilt. „Du kennst Cream Tea nicht?“
Sandra schaut ein wenig erstaunt drein und schüttelt den Kopf. „Sollte ich?“
Gwynn rollt die Augen und legt mit einer Zange jedem ein Gebäckstück auf den Teller. Mit dem letzten wedelt sie direkt vor Sandras Nase herum. „Das hier ist ein Scone. Mensch, Sandra, wir sind zwar nicht in Cornwall, aber Cream Tea kennt doch jeder. Ich hab damit sogar einen Preis gewonnen. Ich mache den besten Cream Tea der Welt.“ Sie setzt sich und nimmt ihren Scone aus der Zange, um die traditionelle Vorgehensweise beim Verspeisen zu demonstrieren. „Also: Ihr schneidet ihn auf, schmiert erst die Marmelade drauf, und dann die Creme. Sie wird Clotted Cream genannt. Manche machen es auch anders herum, die Creme unten, und oben die Marmelade. Ist eigentlich egal.“ Sie ist so beschäftigt, dass sie Sandras fortschreitende Blässe nicht mitbekommt. Auch die beiden Kinder sehen es nicht.
Jessica hat ordentlich Hunger und widmet sich voller Hingabe ihrem Scone. Sie liebt Süßes. Boy tut es ihr grinsend gleich.
Erst, als Sandra in ihrer Handtasche herumkramt, die neben ihr auf dem Boden steht, blickt Gwynn auf. Sanda fördert eine Schachtel hervor und entnimmt ihr zwei Tabletten. Das Sonnenlicht, das durch das kleine Sprossenfenster fällt, lässt Schweißperlen auf ihrer Stirn glänzen, die sie sich mit einem Papiertaschentuch abtupft.
„Ist was?“, fragt Gwynn. „Hättest du gerne ein Glas Wasser?“
Nun blickt auch Jessica ihre Mama an. Besorgnis macht sich auf ihrem Gesicht breit.
„Wasser, ja bitte“, flüstert Sandra, und Gwynn eilt in die Küche.
Jessica legt ihrer Mama eine Hand aufs Knie, während Sandra bemüht ist, ihre Tochter nicht anschauen zu müssen. Als der Griff fester wird, kann sie es nicht mehr ignorieren. „Alles gut, meine Kleine“, versichert sie mit schwacher Stimme und betätschelt Jessicas Hand.
Gwynn stellt ein großes Glas Wasser vor Sandra ab. „Was sind das für Pillen?“, will sie wissen.
Sandra spürt, dass sie ihrer Freundin nichts vormachen kann. Sicher hat sie die Packung bereits analysiert, auch, wenn sie in Deutsch beschriftet ist. Sie wirft die Medikamente ein, murmelt: „Enzyme“, und spült sie mit mehreren großen Schlucken runter.
„Aha.“ Gwynn hat genug Feingefühl, um nicht weiter nachzuhaken. „Na dann mal ran an den Cream Tea. Wie gesagt, damit hab ich den ersten Preis gewonnen. Vielleicht schmeckt ihr ja den Honig aus den Scones heraus.“
Als die Tafel leergeputzt ist, haben Jessica und Boy sich bereits einander angenähert. Sie flüstern und kichern miteinander. Gwynn nimmt die Gelegenheit wahr. Sie knufft Boy mit dem Ellenbogen und sagt: „Zeig Jessi doch mal dein Zimmer.