Im Strudel des Schicksals. Dietmar Schenk

Im Strudel des Schicksals - Dietmar Schenk


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von vor zehn Jahren endlich zum Abschluss bringen? Unwillkürlich reibt sie sich die Stelle am Bauch, in die damals sein Stilett mehrmals eingetaucht war. Er und seine Kumpels hatten ihr auch den Geldbeutel abgenommen, in dem nicht mehr als 20 Euro drin gewesen waren und sie blutend auf dem schmutzigen Berliner Pflaster zurückgelassen. Sie hatte nie viel Geld besessen, und aktuell ist sie blanker, als jemals zuvor.

      Was für ein Glück, dass der Flug wahnwitzig billig gewesen war, so billig, dass Sandra sich nun sogar ein Taxi nach Combe Manor leisten kann. Die Bekannte hatte ihr den Flug über ein Vergleichsportal gebucht. Er war so günstig, dass Sandra sich allen Ernstes fragte, wie da noch jemand was dran verdienen konnte, nach Abzug von Gebühren, Treibstoff- und Personalkosten. Aber natürlich war es ihr recht, fast umsonst – selbst für ihre finanziellen Verhältnisse - in die alte Heimat zurückgefunden zu haben.

      Obwohl Sandra sich nicht als Spirituelle bezeichnen würde, liebt sie den Gedanken, das Schicksal habe sie zurück nach England gebracht. Fast ist sie geneigt zu denken: ‚Für ein besseres und glücklicheres Leben‘. Doch dann sieht sie ihre Tochter mit dem Gepäckwagen davoneilen, spürt ihre Schwäche und erinnert sich an ihre Krankheit. Wie eine schlechte Nachricht aus einem versiegelten Umschlag taucht sie plötzlich auf und drosselt ihre Atemluft. „Nicht so schnell“, ruft sie Jessica hinterher, die sich immer weiter von ihrer Mutter entfernt und das gar nicht merkt. Erst jetzt, da Mama sie ruft, bremst sie den Trolley ab, schaut sich um und ist erstaunt, wie weit sie noch zurückliegt. Sie hebt die Hand, so hoch sie kann und winkt ihr zu.

      Aber Sandra winkt nicht zurück. Es ist ihr deutlich anzusehen, wie schwer ihr das Laufen fällt, das eigentlich gar kein Laufen ist. Es ist ein Sich-dahinschleppen. Waren ihre langen blonden Haare im Flugzeug noch ordentlich und sogar ein wenig glänzend, so wirken sie nun mit einem Mal fahl und zerzaust, als hätte sie jemand mit einem bösen Zauber belegt. Jetzt, wo Jessica auf sie wartet, verlegt Sandra sich aufs Gehen. Sie möchte sich erholen und zu Atem kommen, damit das Mädchen nicht ihre Schwäche bemerkt, aber es gelingt ihr nicht. Sie fühlt sich, als hätte sie einen Sprint hinter sich gebracht, um einem bissigen Hund zu entkommen. Sandra hat keine andere Wahl, als eine Bank anzusteuern, die nur ein paar Meter von ihr entfernt ist und darauf zu warten scheint, ihr Gewicht aufzunehmen. Dort angekommen, stützt sie sich an der Rückenlehne ab, hält sich die Hand vor die Brust, beginnt zu keuchen und sinkt kraftlos auf die Sitzgelegenheit. Ein Hustenanfall schüttelt sie plötzlich, der, gefolgt von einem Würgen, schnell ihren Hals brennen lässt, als habe sie pure Essigessenz getrunken. ‚Nur nicht übergeben‘, schießt es ihr durch den Kopf. Ihre Augen füllen sich mit Wasser und hindern sie daran, etwas zu sehen. Aber spüren kann sie noch. Eine Hand, die sich auf ihre Schulter legt - und hören kann sie, eine Stimme, die „Mama“ sagt. Wie blind, durchwühlt sie ihre Umhängetasche, in der Hoffnung, ein Papiertaschentuch zu ertasten. Und ja, da ist eines. Sie zupft es aus dem Päckchen heraus und wischt sich die Augen frei. Schuldbewusst schaut sie Jessica an. Wie lange kann sie ihr Lügengerüst noch aufrechterhalten, ohne, dass es zusammenbricht und Jessica mit ihr mitleidet? Das Kind ist aufgeweckt und von schneller Auffassungsgabe. Gestern war es der verdorbene Magen, der zur Erklärung herhalten musste, in den drei Tagen davor eine angeblich heranrollende Grippe. Und heute? Soll sie den Anfall auf den Flug schieben? Sie schaut in Jessicas Augen und erkennt darin Offenheit. Nicht für eine weitere Lüge, sondern für die Wahrheit. „Jessi-Schatz, ich…“

      In ihrer kindlichen Weisheit unterbricht sie ihre Mom. „Lass uns ein Taxi finden, damit wir schnell zu Oma und Opa kommen und du dich erholen kannst“, sagt sie.

      Sandra nickt dankbar.

      Diesmal rast Jessica nicht mit dem Trolley davon. Sie bleibt neben ihrer Mutter und hält Ausschau nach einem Zeichen, das ihnen den Weg zu den Taxen zeigt. Enthusiastisch deutet sie darauf. „Da, Mom, schau. Da geht’s zu den Taxis.“

      Sandras Anfall ist noch immer nicht vorüber. Sie hält sich das Taschentuch vor den Mund, als könne sie damit das Würgen aufhalten. Das Gesicht ist rot und aufgedunsen, und im Magen scheint wieder dieser Stein zu liegen. Die durch die wässrigen Augen verschwommene Wirklichkeit gibt nur spärlich einen Eindruck von der Umgebung wieder, aber als sie sich erneut die Augen freimacht, erkennt auch Sandra das Zeichen, dem sie folgen müssen.

      Als sie endlich in der Droschke sitzen – Sandra hätte sich ein original englisches Taxi gewünscht, doch leider hält das Universum nur eine beige 0815-Karrosse für sie bereit – geht es ihr mit einem Schlag wieder gut. Sie freut sich einfach riesig auf Combe Manor. Ihr plötzliches Wohlgefühl reduziert die Reaktion des Fahrers auf ihre angeschlagene Erscheinung auf ein Stirnrunzeln. Sandra, die mit Jessica im Fond des Wagens sitzt, bekommt das nicht mit.

      Der Fahrer schaut in den Rückspiegel. „Soll ich die Autobahn nehmen? Das ist zwar drei Meilen weiter, als über die Landstraße, aber zehn Minuten schneller.“

      „Mom, der Mann sitzt ja auf der falschen Seite“, flüstert Jessica.

      Sandra legt einen Finger auf die Lippen und macht „Pscht“, bevor sie fragt: „Was ist günstiger?“

      „Wir können einen Festpreis vereinbaren. Sagen wir: 50 Pfund?“

      Sandra hat mit mehr gerechnet. Und so ist sie sehr zufrieden mit dem Angebot, das der freundliche Fahrer ihr macht. Sie wählen die Landstraße, damit sie sich schon während der Fahrt wunderbar auf ihr Zuhause einstimmen können und genießen das Wetter, das hier um so viel besser ist, als es in Berlin war. So viel besser, dass Jessica fragt: „Gibt es in England keinen Winter?“

      Die Fahrt geht über für Berliner Verhältnisse schmale, teilweise von Hecken gesäumte Straßen. Schon, als sie den Airport verlassen, macht Jessica ihre Mutter auf einen Missstand aufmerksam, den diese wohl noch gar nicht bemerkt hat: „Mama, wir fahren auf der falschen Seite. Was, wenn uns einer entgegen kommt?“

      Sandra lächelt. „Das ist so hier in England“, erklärt sie. „Deshalb sitzt der Mann ja auch rechts. In England herrscht Linksverkehr. Hier ist alles ein bisschen anders, als in Deutschland.“

      Jessica ist begeistert. „Ich find’s cool“, sagt sie. „Linksverkehr ist viel schöner, als anders herum.“

      Nach einer entspannten einstündigen Fahrt erreicht das Taxi Combe Manor. Der Fahrer ist im Begriff, in den Ort hineinzufahren, aber Sandra möchte bereits am Ortsrand aussteigen.

      „Und Ihr Gepäck?“, gibt der Fahrer zu bedenken.

      Sandra und Jessica antworten nicht. Sie öffnen ihre Türen und verlassen das Auto.

      Der Fahrer hebt die Schultern, bevor auch er seine Tür öffnet und es ihnen gleichtut. Er gräbt die Taschen aus dem Kofferraum und stellt alles auf die Straße. Derweil stemmt Sandra ihre Hände in den Rücken und streckt sich genüsslich, während Jessica ausgelassen umherhüpft. „Hier ist es schön“, entfährt es ihr.

      Sandra kramt eine abgenutzte Geldbörse aus ihrer Umhängetasche und wählt einen von zwei 50-Pfund-Noten aus, die sie herauszieht und dem Fahrer übergibt. „Danke“, sagt sie.

      Der Fahrer verbeugt sich ein wenig. „Madam!“

      Sandra ist sich nicht so ganz klar darüber, ob er sie gerade hofiert oder verarscht. Sicherheitshalber schenkt sie ihm ein Lächeln, woraufhin der Mann wieder sein Taxi besteigt, auf der engen Straße gekonnt wendet und davonfährt.

      Jessica rennt auf ihre Mom zu und schlingt ihr die Arme um die Taille.

      Sandra streichelt ihren Kopf. Sie fühlt sich unsagbar wohl. Nach einer Weile löst sie behutsam die Arme des Mädchens, das sie offenbar gar nicht mehr loslassen möchte, und sagt: „Komm!“ Sie beladen sich mit Koffer, Taschen und Tüten wie zwei Packesel und machen sich an einem kleinen, idyllischen Bach entlang auf den Weg zur Dorfmitte. Schon nach wenigen Hundert Metern erreichen sie eine steinerne Brücke, die geradewegs in den Ort hineinmündet. Sandra lässt ihr Gepäck fallen und stemmt sich schwerfällig und unter Aufbieten aller Kräfte auf die Brückenmauer hoch, um sich für ein paar Momente zu setzen. Der Stein ist kälter, als der Sonnenschein vermuten lässt. Immerhin ist es Winter.

      Winter!!!

      Im


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