Im Strudel des Schicksals. Dietmar Schenk
und liegt wie ein Häufchen Elend auf dem Bett, als Jessica wieder ins Zimmer stürmt.
„Mom! Mama“, ruft sie. „Was ist los? Was ist mit dir? Es ist nicht alles gut. Sag, was ist mit dir?“ Sie beginnt zu weinen. Ihre Lippen zittern. Hilflos steht das Kind im Raum und blickt auf seine Mutter.
Sandra versucht, sich hochzudrücken, schafft es aber nicht. Zu groß ist der Schmerz im mittleren Oberbauch. Sie würde gerne antworten. Stattdessen kann sie nur die Hand heben. Sie tastet nach Jessica und erreicht ihre Wange nur, weil das Kind sich vorbeugt. Plötzlich verspürt sie den Drang, zur Toilette zu eilen. Mit letzter Kraft rafft sie sich auf, verlässt das Bett und stolpert ins Bad, wo sie den Klodeckel hochreißt und sich unter dramatischen Geräuschen übergibt. Immer wieder kommt galliger Magensaft hoch.
Jessica eilt hinzu, kniet sich neben Sandra und legt ihr eine Hand auf den Rücken. „Mama, was muss ich tun?“, fleht sie. „Ich hab solche Angst um dich.“
Sandra reagiert nicht. Zu sehr plagen sie die bitteren Schübe aus dem Körperinneren.
Jessica weint ärger als zuvor. „Ich rufe einen Arzt“, stammelt sie. Planlos läuft sie durch die kleine Wohnung. In der Küche findet sie ihr Handy. Sie ergreift es, erinnert sich aber im gleichen Augenblick, dass sie kein Guthaben mehr hat. Sie sucht Sandras Handy. Als sie es auf dem Nachttisch entdeckt und an sich nimmt, ertönt ein Glockenton. Auf dem Display steht zu lesen: ‚Ladegerät anschließen‘. Sie läuft kreuz und quer durch die Wohnung, sucht das Ladegerät, während sie weiterhin das Leiden ihrer Mama aus dem Bad wahrnimmt. Sie stürzt zurück in die Küche, findet nichts, ins kleine Wohnzimmer, durchwühlt jede Schublade – nichts. Zurück ins Schlafzimmer. Da, die Handtasche auf dem Bett. Jessica reißt sie auf. Ein schwarzes Kabel mit Stecker dran bietet sich ihr an. Sie fingert es heraus – Gott sei Dank: Das Ladegerät. Sie und Mom haben nur dieses eine gemeinsame, so, wie sie sich auch diese Wohnung und das Bett teilen. Hastig fingert sie das Kabel in den schmalen Slot an der Seite des Handys, doch bevor sie den Stecker in eine Steckdose stecken kann, erlischt es. Derweil werden Sandras Würggeräusche intensiver. Es scheint, dass ihre Innereien mit hochkommen, und zwischen zwei Schüben hört es sich an, als ob sie laut weint. Derweil presst Jessica ihren Daumen auf den Schaltknopf. Es dauert lange. Endlos lange. Das Handy reagiert: ‚Geben Sie ihre PIN ein – noch 3 Versuch(e)‘. Die PIN! Jessica eilt ins Bad, wo ihre Mutter schlaff und kraftlos vor der Toilette kniet. „Mom, deine PIN“, schluchzt Jessica.
Sandra ereilt ein Würgreflex nach dem andern, der sich mit krampfhaftem Husten abwechselt.
Jessica erkennt, dass sie keine Antwort erhalten wird und stürzt wieder zurück ans Handy. Sie versucht Moms Geburtstag und erhält die Meldung: Sie haben noch 2 Versuch(e). Ihr eigener Geburtstag – noch 1 Versuch(e). „Was mach ich nur?“ Sie weint bitterlich. „Lieber Schutzengel, bitte hilf mir. Wie lautet Mamas PIN? Bitte, ich muss den Arzt rufen!“ Sie schaut auf das Handy, als erwarte sie dort die Antwort. Es ist kein Smartphone und schon gar nicht ein iPhone. Es ist ein 0815-Klotz. So hat Sandra es einmal genannt. Das ist es! Mama ist so kreativ, dass sie 0815 als PIN genommen haben könnte. Aber was, wenn sie nicht stimmt? Jessica kennt sich nicht so gut aus mit Handys. Ob das Teil kaputt ist, wenn man dreimal eine falsche Nummer eingibt?
Im Bad ist es gerade still. Vielleicht geht es Mom ja besser? Vielleicht braucht sie keinen Arzt? Doch gerade, als Jessica das Handy ablegt und nach ihr schauen will, hört sie ihre Mutter erbärmlich weinen. Sie schnappt sich das Handy und tippt mit zittrigen Fingern 0-8-1-5 ein. Als sie den Daumen auf den OK-Knopf legt, pocht ihr kleines Herz zum Zerbersten. Wie von einer fremden Macht gesteuert, drückt sie den Knopf…
Das Display zeigt eine von einem blechern klingenden Sound begleitete Grafik. Das Handy ist wahrhaftig wieder zum Leben erwacht. Hastig blättert sie das Adressbuch durch. Bei Dr. Schröder erlebt sie einen Freudentaumel. Sie wählt diesen Eintrag aus und drückt auf den grünen Hörer. Doch anstatt einer Verbindung, bekommt sie die Nachricht: Kein Netz!
Jessica schreit verzweifelt auf, als Sandra in der Tür erscheint. Kraftlos lehnt sie am Türrahmen. Ihr Kopf ist rot und aufgedunsen, die langen blonden Haare sind strähnig und verklebt, und sie reibt sich die verquollenen Augen. „Was machst du da, meine Kleine?“, fragt sie.
„Ich will einen Arzt anrufen“, antwortet Jessica. „Aber wir haben kein Netz.“
Sandra drückt sich ein Taschentuch vor den Mund und begegnet damit ihrem nun unkontrollierbaren Speichelfluss. Sie tupft sich den Mund trocken und sagt: „Ich weiß. Sie haben das Handy gesperrt, weil ich die Rechnungen nicht mehr bezahlen konnte. Aber morgen fliegen wir ja nach England. Dann brauchen wir das Handy nicht mehr.“
„Aber der Flug kostet doch auch Geld“, antwortet Jessica. „Wie sollen wir den denn bezahlen, wenn wir keines haben?“
Sandra schlurft zum Küchentisch und sinkt auf einen Stuhl nieder. Das Gesicht in die Hände gestützt, murmelt sie: „Unsere Vermieter waren so lieb und haben uns die letzte Miete geschenkt, damit wir nach Hause fliegen können.“
Das ist natürlich eine sehr freie Umschreibung der Tatsachen. Ja, die Vermieter haben ihr die letzte Miete erlassen, mit den Worten: „Die brauchst du nicht mehr zu bezahlen. Verpisst euch einfach und kommt nicht wieder.“ Nicht, dass Sandra nicht hatte bezahlen wollen, nein, sie konnte es nicht, und so war sie in letzter Zeit immer wieder in Rückstand geraten. Als ihre Schmerzen anfingen, wurde das Geld immer knapper. Hatte sie vorher noch in einer Kneipe gejobbt, um sich und Jessica über Wasser halten zu können, so war ihr das immer seltener möglich, sodass sie am Ende fast gar keine Einkünfte mehr erzielte. Zwar könnte sie eine kleine Unterstützung vom Amt erreichen, aber die Bearbeitung des Antrags dauert immer noch an. Bisher kann sie keinen Geldeingang auf dem Konto verzeichnen. Sandra schaut Jessica aus rotgeränderten, wässrigen Augen an. „Wenn wir in England sind, wird alles besser, mein Schatz.“
Jessica stellt sich neben ihre Mutter und streichelt ihr den Rücken. „Ja, in England wird alles besser. Wann geht denn unser Flug?“
„Morgen Nachmittag. Eine Bekannte holt uns um 12 Uhr ab und bringt uns zum Flughafen. Und dann: Good bye, Germany.“ Sandra bringt ein schwaches Lächeln zustande, und Jessica reibt ihr den Rücken etwas schneller. „Geht es dir wieder besser?“, fragt sie.
„Ja, danke. Ich muss mir irgendwie den Magen verdorben haben. Mach dir keine Sorgen, versprochen?“
„Versprochen“, antwortet Jessica. Doch hinter ihrem Rücken kreuzt sie zwei Finger.
2. Kapitel – Hello England
Durch eine große, helle, recht leere Halle wird ein Gepäckwagen geschoben, auf dem ein abgenutzter Koffer sich in Gesellschaft von drei Plastiktüten und einer in die Jahre gekommenen Handtasche befindet. Das Bild, das die beiden Damen damit abgeben, lässt absolut nicht vermuten, dass sie gerade einen One-Way-Flug absolviert und nicht die Absicht haben, wieder dorthin zurückzukehren, wo sie hergekommen sind. Das ratternde Gepäckband haben sie bereits hinter sich gelassen. Eine schallende Stimme ruft zu zwei Flügen auf, für die die Gates nun geöffnet sind. Hoch über den Eingängen, die in die weite Welt führen, zeigen Tafeln die Ankünfte und Abflüge an. Auf der Abflugtafel findet Sandra einen Flug nach Berlin. Er würde in einer Stunde starten. Ein wohliger Seufzer entfährt ihr bei dem Gedanken, dass sie dieses Gate wohl nie mehr benutzen wird. England hat sie wieder – für immer, wenn vielleicht auch nicht für lange.
Die Gepäckstücke befinden sich erst seit ein paar Minuten auf dem Trolley. Ihn durch die Ankunftshalle des Bristoler Airports zu schieben, hat Jessica sich zur Aufgabe gemacht. Sie hat richtig Spaß daran, bringt den Wagen in Fahrt und hängt sich über die Griffstange, sodass sie mit dem Gepäck mühelos schneller ist, als ihre Mutter, die, obwohl nur mit einer Umhängetasche beschwert, kaum folgen kann. Zu sehr hängt ihr noch der gestrige Anfall in den Knochen. Sie ist heilfroh, wenigstens auf dem Flug vor Attacken verschont geblieben zu sein, für die sie immerhin allen Grund gehabt hätte, saß doch dieser krausbärtige Mann in ihrer Nähe. Er hat horrende Erinnerungen in ihr geweckt und schlimme Ängste geschürt. Er sah ihrem Peiniger nicht nur ähnlich,