Im Strudel des Schicksals. Dietmar Schenk
was mir Schönes geblieben ist aus dieser Ehe. Seither hab ich ein Problem mit Männern, weißt du?“
Sie weinen beide, doch aus dem Weinen wird ein Lachen. Sie fassen sich bei den Schultern und schauen sich in die nassen und geröteten Gesichter.
„Ich habe ein so gutes Gefühl bei dem Gedanken, dass du den Krebs besiegen wirst“, sagt Gwynn lächelnd.
„Du hast Krebs?“
Ihre Köpfe fliegen herum. Gwynn und Sandra haben ihre Kinder gar nicht kommen gehört. Doch nun schauen sie beide in das von Entsetzen gezeichnete Gesicht von Jessica.
„Nein-nein, das hast du falsch verstanden“, beteuert Gwynn. „Es ist alles okay, nicht wahr, Sandra?“
„Ich kann nicht mehr lügen“, antwortet Sandra. „Ich habe Jessica schon zu viel vorgemacht. Ich kann jetzt einfach nicht mehr schwindeln.“ Sie streichelt Jessica über die Wange. „Ja, ich habe Krebs und weiß das seit November. Jetzt weißt du es auch, Schatz. Aber du hast ja Gwynn gehört: Ich werde ihn besiegen. Hilfst du mir dabei?“
„Deshalb sind wir nun in England, ja? Nur, weil du Krebs hast. Du hast mich die ganze Zeit belogen.“ Die letzte Silbe schwingt noch in der Luft, als Jessica versteht, warum ihre Mom sie beschwindelt hat: Nur aus Liebe zu ihr. Es tut ihr auf einmal unendlich leid, was sie gerade gesagt hat. Schnell wie eine Schnappfalle, umschlingt sie Sandras Taille, wie sie es so oft zu tun pflegt, und drückt sich an sie. „Mama, ich helfe dir! Ja, du schaffst das.“
Sandra nickt lächelnd. „Wir müssen jetzt gehen. Zu Oma und Opa.“
„Darf Jessi wiederkommen?“, fragt Boy. Es ist der erste Satz, den er sagt, seit sie hier sind.
„Natürlich“, antworten Gwynn und Sandra wie aus einem Munde. „Also dann, bis später. Gwynn muss bestimmt auch gleich zur Arbeit. Wohin eigentlich?“
Sie schaut auf ihre Armbanduhr. O Gott, ist es schon so spät? Ich muss jetzt rüber zum Golfhotel. Mädchen für alles. Vom Zimmermachen bis zur Bar ist alles drin. Aber die Kohle stimmt. Das ist die Hauptsache. Optimal ist es nicht, weil Boy den ganzen Abend alleine ist und nur am Computer rumhängt, aber was will ich machen? Es kommen auch wieder bessere Zeiten.“
Es findet eine umfangreiche Umarmung statt, und zum Abschluss heben Sandra und Jessi die Hände. „Bis die Tage. Bye.“
3. Kapitel – Bei den Großeltern
Combe Manor ist ein kleiner Ort mit nur wenigen Hundert Einwohnern. Er wird vor allem geprägt von einer schmalen Hauptstraße, die von der Brücke aus leicht ansteigt und beidseitig von kleinen beigen Sandsteinhäusern gesäumt wird. In der Sonne wirken sie, als ob sie leuchten. Jessicas Augen verlieben sich gerade in das Bild, das sich ihr bietet. „Das ist ein sehr schönes Dorf“, sprudelt es aus ihr heraus. Kindliche Freude steht ihr ins Gesicht geschrieben.
Sie brauchen nicht weit zu gehen, denn Sandras Elternhaus, das eigentlich nie ihr Elternhaus war, ist nur 50 Meter von der Brücke entfernt. Nach wenigen Minuten stehen sie bereits davor, stellen ihr Gepäck ab, und Sandra zeigt mit dem Finger drauf. „Das ist es. Da wohnen deine Urgroßeltern.“
Jessica fasst Sandra am Rock und zieht daran, während sie auf ein gusseisernes Gebilde über der Haustür deutet. Die Figur zeigt ein liegendes Einhorn. An der Wand gibt ein Schild in Form eines Wappens Auskunft über den Namen des Hauses. „Mama, schau doch. Das Haus heißt Unicorn Lodge. Weißt du, dass ich nachts ab und zu mit einem Einhorn wegfliege? Das ist so schön. Und da wohnen wir nun?“ Das Mädchen fühlt sich gerade wie im Märchen.
„Ja“, antwortet Sandra mit einem befreienden Seufzer. „Ja, da werden wir wohnen.“
„Was bedeutet denn ‚Lodge‘?“
Noch bevor Sandra erklären kann, dass damit ein kleines Haus gemeint ist, wackelt eine Gardine an dem nur kniehoch über der Straße gelegenen Fenster neben der Tür. Schemenhaft ist dahinter das Gesicht eines älteren Mannes zu erkennen. Es verschwindet wieder. Kurz darauf wird zaghaft die schwere hölzerne Haustür geöffnet. Der ältere Herr zeigt sich. Es ist Brian Pearson, Sandras Opa. Verwundert schiebt er seine buschigen, dunklen Augenbrauen hoch. „Sandra? Bist du das?“, fragt er. Dabei bewegt er sich nicht von der Stelle. An der Haustür harrt er der Dinge, die da kommen mögen.
„Ja, ich bin das, Opa. Wie geht es dir?“
Ohne auf die Frage einzugehen, deutet er mit seinem klobigen Zeigefinger auf Jessica. „Und wer ist das?“
Sandra dreht sich zu dem Mädchen um, winkt es herbei und legt ihr, als sie neben ihr steht, voller Stolz eine Hand auf die Schulter. „Das ist Jessica, deine Urenkelin.“
„So-so, Urenkelin.“ Endlich macht er einen Schritt zur Seite und sagt, begleitet von einer eindeutigen, wenn auch nur flüchtigen Handbewegung: „Nun kommt schon rein.“
Die beiden schnappen sich ihr spärliches Gepäck und drängen sich an Brians ausgeprägtem Leibumfang vorbei in einen engen, dunklen Flur. Unschlüssig, was sie den Taschen machen sollen, wartet Sandra auf weitere Anweisungen. Endlich wird die Tür geschlossen. Das sorgt für eine gewisse Dunkelheit, an die sich die Augen erst gewöhnen müssen.
„Geht weiter“, sagt Brian und bedient sich dabei einer Geste, als wolle er ein paar Gänse vor sich hertreiben. „Du kennst dich ja hier aus, auch wenn’s lange her ist…“
Sie gehen durch den Flur in den hinteren Teil des Hauses, wo rechts eine nach Bohnerwachs riechende steile Treppe unters Dach führt und sich links zwei Zimmer befinden. Das Fenster zur Straße gehört zur Küche. Dahinter liegt ein kleines Wohnzimmer. Eine große gläserne Terrassentür gestattet einen Blick auf den kleinen, auch zu dieser Jahreszeit üppig bewachsenen Garten. Selbst der Turm der mittelalterlichen Kirche ist von hier aus zu sehen.
„Geht ins Wohnzimmer“, befiehlt Brian. „Das Gepäck stellt ihr am besten unter die Treppe, damit man nicht drüber stolpert.“
Während die beiden wie geheißen ihre Sachen verstauen, fragt Sandra: „Ist Oma auch da?“
Brian geht derweil ins Wohnzimmer und setzt sich auf eine alte, aber gut erhaltene dunkelbraune Ledercouch. Er nimmt eine Zeitung vom Tisch und antwortet. „Sie schläft.“ Dann schiebt er seine Brille auf die Nasenspitze und schaut über deren Rand zu, wie Sandra und Jessica sich müde in die ebenso alten, gepflegten Sessel fallen lassen. „Was wollt ihr eigentlich hier?“
Sandra beugt sich vor und legt die Fingerspitzen aneinander. Sie wagt den Versuch einer Erklärung, als Schritte auf der knarrenden Treppe zu vernehmen sind, die sich vorsichtig nach unten bewegen. Sie werden vom Klacken eines Stocks begleitet. Als die letzte Stufe genommen ist, erscheint Oma Karen im Türrahmen. Sandra erschrickt. Sie hat sie zuletzt gesehen, als sie nach Berlin ging, und seither ist sie um Jahrzehnte gealtert. Dabei ist sie erst 70, sieht aber 20 Jahre älter aus als ihr Mann mit 73. Es ist ihr anzusehen, dass auch sie einmal eine ausgeprägte Leibesfülle hatte. Jetzt aber wirkt sie ausgezehrt. Nur das schlohweiße Haar, kurz und ordentlich frisiert, scheint vom Kräfteverfall verschont geblieben zu sein. Sandra erhebt sich und geht auf Karen zu. Sie erfasst deren freie Hand und führt sie für einen Kuss an den Mund. „Guten Tag, Oma.“
Die Frau zieht ihre Hand weg. „Schön, dass man dich auch wieder mal sieht.“ Auf schwachen Beinen bahnt sie sich ihren Weg zum Sofa und setzt sich neben Brian, der die Zeitung inzwischen aufgenommen hat. Sandra sieht von ihm nur die Finger. Der Rest der fülligen Gestalt ist hinter bedrucktem Papier verschwunden.
„Oma, es tut mir leid“, beteuert Sandra und setzt sich wieder hin. „Ich weiß, ich hätte mich mal melden sollen. Aber ich konnte nichts dafür, das musst du mir glauben.“
„Telefonieren kann man immer mal. Wenigstens einmal in zehn Jahren hätte doch drin sein müssen, selbst für dich. Hast du eine Ahnung, was wir uns für Sorgen gemacht haben?“ Karens Stimme klingt zittrig und schwach. Sandra kann nicht einordnen, ob es ihre Gebrechlichkeit ist, oder ob sie dem Weinen nahe