Im Strudel des Schicksals. Dietmar Schenk

Im Strudel des Schicksals - Dietmar Schenk


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sich und kann wenig später wieder aufstehen. Duncan hilft ihr dabei.

      Sandra ist ihr Auftritt total peinlich. Wie sie wohl aussehen mag, nach diesem Anfall? Das gewohnte Bild aus den vergangenen Tagen und Wochen baut sich vor ihr auf und spiegelt sie mit rotgeränderten Augen in einem blassen Gesicht, das, umrahmt von zerzausten, farblosen Haaren ein Jammerbild abgibt. Mit einem Tuch, das sie noch in der Hand hat, wischt sie sich über den Mund, wirft es in die Toilette und betätigt die Spülung. „Entschuldigen Sie, es tut mir so leid“, stammelt sie.

      „Es muss Ihnen nichts leidtun, Frau Pearson.”

      „Was haben Sie mit mir gemacht? Auf meinem Rücken, meine ich. Das tat so gut und hat irgendwie geholfen. Was war das?“

      Duncan hebt die Schultern und sagt: „Soll ich uns einen Tee hierher auf die Toilette bringen lassen, oder wollen wir ihn lieber in meinem Büro einnehmen?“ Er setzt ein Lächeln auf, das Sandra sprachlos macht. Dieses Lächeln, zusammen mit der Anwendung auf ihrem Rücken, entzünden in ihr den Impuls, ihm um den Hals zu fallen. Sie kann ihm nur schwer widerstehen. Allein ihre Schwäche hält sie davon ab, es zu tun. Sie könnte sich zusammensacken lassen, damit er sie auffängt, aber das ist nicht ihr Stil.

      „Nun kommen Sie, lassen Sie uns alles Weitere bei einem Tee in meinem Büro besprechen.“

      Nach wenigen Minuten finden sich die beiden erneut in den Sesseln vor dem Kamin wieder und halten duftend-dampfende Teetassen in den Händen. Sandra hat sich zwar ein wenig erholt, aber die Schwäche ist noch voll präsent. Sie ist froh, in diesem weichen, bequemen Sessel sitzen zu können.

      „Sie haben vollkommen recht, Frau Pearson. Ein gutes Feedback sollte ein ganzes Haus betreffen, und nicht eine ausgesuchte Handlung. Selbstverständlich bietet der Golfclub exklusiven Service an. Dass ich Ihnen diese Putzstelle nicht zumuten möchte, hat aber nichts mit schlechtem Service zu tun. Bitte verstehen Sie das.“

      Sandra nickt. „Ja, ich sehe es ein. Ich habe mich da wohl überschätzt. Ich wollte nicht unhöflich sein.“

      „Sie sind eine bemerkenswerte Frau und es ist nicht leicht, Ihnen diese Absage zu erteilen, aber wissen Sie was? Ich glaube, dass Sie das schaffen werden, wovon Ihre Tochter überzeugt ist.“

      „Sie meinen, dass ich wieder gesund werde?“

      Duncan nickt. „Kinder haben uns Erwachsenen so viel voraus.“ Seine Augen beginnen zu leuchten, als er das sagt, und einen Moment später weiß Sandra auch den Grund. Er zückt seine Brieftasche und fingert ein Bild hervor, das er ihr entgegenstreckt. „Das ist Edward, mein Sohn. Er ist erst vier, hat aber die Weisheit eines Buddhas. So scheint es mir zumindest. Immer wieder verblüfft er mich mit Fragen, oder er hält mir einen Spiegel vor. Ich bin kein Mann, der sich gerne die Hände schmutzig macht, wissen Sie? Als ich neulich aber in mein Auto steigen wollte, stellte ich fest, dass ich einen platten Reifen habe. Meine erste Reaktion war ein Tritt dagegen. Edward stand neben mir und fragte: ‚Warum trittst du denn dein Auto, Papa?‘ Ich schaute ihn irritiert und belustigt zugleich an, während er hinzufügte: ‚Jetzt hast du dir deine schönen Schuhe schmutzig gemacht.‘ Tja, das hätte ich mir echt ersparen können.“

      „Kinder sind so unschuldig und natürlich“, entgegnet Sandra. Sie stellt ihre Teetasse ab und steht auf. „Danke, dass Sie sich diese Zeit für mich genommen haben. Es war sehr inspirierend.“

      Nun erhebt sich auch Duncan. „Keine Ursache. Kommen Sie, ich begleite Sie hinaus.“

      Als die Tür sich hinter ihr mit einem satten ‚Klack‘ schließt, fühlt Sandra sich irgendwie und trotz allem befreit. Sie geht zu Gwynns Haus, holt Jessica ab, die gerne noch bei Boy geblieben wäre und begibt sich mit ihr zurück zum Unicorn Lodge.

      7. Kapitel – Rückblicke

      „Warst du so lange in Stonehenge?“ So hatte Brian ihre Rückkehr am Abend dokumentiert. „Du warst ja Stunden unterwegs! Hat es dir wenigstens geholfen?“ Sandra kam das, was er sagte und die Art, wie er es sagte, provozierend vor. Als sie ihm ruhig erklärte, dass sie auf der Suche nach Job und neuer Bleibe auch noch einen Termin wahrgenommen habe, da hatte er sich, irgendetwas brummelnd, hinter seiner Zeitung verkrochen, und das Gespräch war beendet.

      Karen hatte immerhin noch gefragt, wie der Termin denn verlaufen wäre und wo er stattgefunden hätte, aber ansonsten sprachen sie nur über Belanglosigkeiten. Alle Seiten waren darum bemüht, Streit zu vermeiden und sich möglichst sachlich zu geben, was Brian dadurch gelang, dass er seine Beteiligung an der Unterhaltung auf das Nötigste beschränkte.

      Die Einzige, die wirklich ungezwungen war, war Jessica, was nicht bedeutet, dass sie sich ihrer bekannten Fröhlichkeit hingegeben hätte. Sie vermisste Boy.

      Nun liegen sie wieder zusammen im Bett und kuscheln sich aneinander. Der Kamin wärmt wie schon am Tag zuvor das Zimmer, nur der Mond, der gestern noch durchs Fenster schien und zusammen mit einer Straßenlaterne ein wenig Licht spendete, fehlt. Der Himmel ist bewölkt, die Wolken verdecken den Trabanten.

      Jessica ist absolut ruhig und bewegt sich nicht in Sandras Arm. Als sie sich, geschlaucht von den Ereignissen des Tages, von ihr lösen und zum Schlaf umdrehen möchte, sagt sie: „Mama, kennst du Liebe?“

      Diese Frage verpasst ihr einen Stich durchs Herz. Sie muss sich eingestehen, dass sie noch niemals so richtig Liebe kennengelernt hat. Was soll sie dem Mädchen antworten? Dass es ohne Liebe auf die Welt gekommen ist? Jessica hat schon hin und wieder nach ihrem Vater gefragt, hat gesagt, dass andere Kinder doch auch Väter hätten, nur sie nicht, und sie wollte wissen, warum das so ist. Neben der Unwahrheit bezüglich ihrer Krankheit war die Aussage über Jessicas Vater die zweite Lüge, die Sandra ihrer Tochter bisher zugemutet hat. Es tut ihr jedes Mal in der Seele weh, wenn sie das Kind anlügt. Sie beruhigt sich aber immer damit, dass es doch Notlügen seien, die nur dazu da sind, größeren Schaden von der geliebten Tochter abzuwenden. Um die Klippe zu umschiffen, fragt sie: „Was meinst du damit?“

      „Weißt du, wie das ist, jemanden zu lieben“, fragt Jessica und fügt hinzu: „Ich zum Beispiel liebe Boy.“

      Sandra ist froh, eine Chance zu haben, nicht auf die erste Frage antworten zu müssen und meint: „Ihr kennt euch doch noch gar nicht so richtig.“

      „Doch, das tun wir. Und wir wollen immer zusammenbleiben.“

      Sandras Herz erfährt einen zweiten Stich. Was, wenn sich auf die Anzeige jemand von weiter weg meldet? Aus dem Norden Englands, zum Beispiel. Was, wenn sie Jessica und Boy trennen müsste, womit das Kind zum ersten Mal Trennung erführe, um sie ein paar Monate später noch einmal zu erleben? Unwillkürlich nimmt sie Jessica fester in den Arm. „Du bist doch noch viel zu klein dafür“, sagt sie. „Und jetzt lass uns schlafen, ja? Es war ein anstrengender Tag für mich.“

      „Wir lieben uns und werden heiraten“, bestimmt Jessica. „Und du und Gwynn werden auf die Hochzeit eingeladen.“

      „Das ist ganz lieb von dir, meine Kleine. Aber erst schlafen wir, okay?“

      „Gehen wir morgen wieder zu Gwynn und Boy?“

      „Ja.“

      „Versprochen?“

      „Ja. Aber warum ist er eigentlich zuhause? Sind gerade Schulferien?“

      „Das weiß ich nicht.“ Jessica löst sich nun selbst aus dem Arm ihrer Mutter und dreht sich rum. „Mir egal. Ich freu mich auf ihn! Gute Nacht.“

      „Gute Nacht.“

      Als Sandra gestern spontan bei Gwynn aufgetaucht war, um sich ihr Auto zu leihen, da hatte ihre Freundin erklärt, dass sie spätestens um neun auf den Beinen sei, schon wegen Boy, der dann sein Frühstück erwarte. Tatsächlich finden gerade die Frühlingsferien statt. Doch wenn sie beendet sind, dann fährt Boy wieder täglich früh zu Schule nach Kingsham und kommt abends gegen 17 Uhr zurück. Das würde eine eventuelle Trennung ein wenig einfacher gestalten. Aber zurzeit sind noch Ferien, und irgendwann müsste ja auch Jessica eingeschult


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