Im Strudel des Schicksals. Dietmar Schenk
beiden sind allerdings verblasst. Man hat die Kerle wohl niemals geschnappt.“
Brian sitzt wie versteinert auf dem Sofa und rührt sich nicht.
Karen ist nicht minder entsetzt. „Mein Gott, mein Kind“, stößt sie schwach hervor. Sie möchte sich erheben, fällt aber in den Sessel zurück.
„Ja, Oma, so war das. Aber irgendjemand hat mich schreien gehört. Deshalb war schon bald ein Krankenwagen da, der mich ins Hospital brachte. Ich hatte sieben Stiche im Bauch und musste mehrmals operiert werden. Wie durch ein Wunder waren keine tödlichen Verletzungen dabei. Erst nach drei Monaten bin ich wieder entlassen worden. Aber ich war schwanger. Ein halbes Jahr später kam Jessica zur Welt. Das ist jetzt knapp neun Jahre her. Sie hat im Mai Geburtstag.“
Brian erhebt sich, um eine Kanne Tee zu kochen, und Karen ringt nach Fassung. Nach einer Minute fragt sie: „Und wie ging es dann weiter? Ohne Job, ohne Bleibe, aber mit einem Kind? Und das Krankenhaus war sicherlich auch nicht umsonst.“
„Die Krankenhausrechnung hat eine deutsche Hilfsorganisation für Verbrechensopfer übernommen“, erzählt Sandra. „Der Chefarzt selbst hatte sich darum gekümmert, weil er da jemanden gut kannte. Von denen bekam ich auch eine kleine Entschädigung, mit der ich mir für einige Monate ein Zimmer mieten und was zu essen kaufen konnte. Danach fand ich eine Stelle in einem Hotel als Zimmermädchen.“
„Und Jessica?“, fragt Karen. „Wo war denn das Kind, wenn du gearbeitet hast?“
„Ich musste Jessica in einem Heim abgeben und hielt mir die Option frei, sie baldmöglichst wieder dort abzuholen.“ Sandra weint fest, als sie ergänzt: „Das war das Schlimmste, was ich je getan habe. Das arme Kind. Ich sehe heute noch seinen traurigen Blick vor mir, als ich es der Schwester in den Arm legte, mich umdrehte und ging. Es war furchtbar.“
„Und wie lange war sie im Heim?“, fragt Karen. Als Sandra aber vornüber zusammensackt und sich dem Leid hingibt, hört sie auf, weiter zu bohren. Nicht nur, weil auch sie nun keine Stimme mehr herausbringt.
„Ich hatte immer eure Telefonnummer im Geldbeutel“, schluchzt Sandra nach einer Weile. „Ich hätte euch angerufen, ganz bestimmt. Ich dachte nur: Warte noch, bis es dir bessergeht, denn ich hätte es nicht übers Herz gebracht, euch was vorzumachen. Einfach zu sagen, es geht mir gut, das ging nicht. Und die Wahrheit sagen, das hätte ich auch nicht gekonnt. Dann kam die Vergewaltigung. Die Kerle haben mir meinen Geldbeutel abgenommen. Ich hatte eure Telefonnummer nicht mehr. Nach dem Aufenthalt im Krankenhaus hatte ich sie vergessen. Was hätte ich denn tun sollen?“
Nach einigen Minuten kommt Brian mit dem Tee zurück. Er geht in die Küche, verteilt drei Tassen auf dem Tisch am Fenster und ruft die beiden Frauen hinzu. Karen schlurft herbei, in einer Hand den Stock, und auf der anderen Seite von Sandra gestützt. Sie schluchzt noch immer, während sie sich setzt. Sandra hat sich inzwischen wieder gefangen.
Brian füllt die Tassen, während er sagt: „Es tut mir so leid, Sandra. Es tut mir so leid.“ Seine Augen werden ganz klein. Eine Träne tritt hervor und platscht auf den Tisch. Er stellt die Kanne ab und setzt sich. „Ich habe dir die Schuld dafür gegeben, dass Karen immer schwächer wurde. Sie hatte sich solche Sorgen um dich gemacht, und in ihren Gram hat sie ihre ganze Lebenskraft gesteckt. Ich konnte förmlich zusehen, wie sie sich verzehrte.“ Er schnieft, zuppelt ein buntes Stofftuch aus der Hosentasche und putzt sich die Nase. Dann wiederholt er: „Es tut mir so leid.“
„Ist schon gut, Opa“, stammelt Sandra.
„Mir tut es auch leid“, fügt Karen hinzu. „Wir hätten uns nicht so benehmen dürfen, nicht, ohne die Wahrheit zu kennen. Ich möchte mich nicht für unser Benehmen entschuldigen, aber vielleicht verstehst du uns auch ein wenig, nach allem, was wir mit deiner Mutter durchgemacht haben.“
Sandra nickt. „Ich weiß, ihr habt sicher sehr gelitten. Hat man noch mal was von ihr gehört?“
Brian winkt ab, während Karen den Kopf schüttelt. „Sie war ein schwer erziehbares Mädchen“, sagt sie. „Nächtelang wussten wir nicht, wo sie sich gerade aufhielt, und eines Tages verschwand sie für zwei volle Jahre – nach Berlin, wie sie uns später erzählte, weil sie angeblich ihre große Liebe kennengelernt hatte. Aber so groß kann sie nicht gewesen sein, denn sie kehrte ja reumütig zurück und brachte ein Kind mit. Dich. Du weißt das ja schon alles. Sie hatte sich wieder hier eingenistet, als wäre nichts gewesen, aber schon wenige Wochen später ist Ronda erneut abgehauen, diesmal für immer. Seither haben wir nichts mehr von ihr gehört. Dich hatte sie bei uns gelassen, einfach so. Nicht mal einen winzigen Zettel mit Nachricht hatte sie für uns übrig gehabt. Die beiden Alten werden sich schon drum kümmern, und ich bin dann mal weg. So in der Art.“ Während Karen das erzählt, stiert sie in eine andere Welt, in der offenbar gerade dieser Film abläuft.
„Als du plötzlich mit dem Kind aufgetaucht bist, da dachte ich, dieser Horror würde sich wiederholen“, erklärt Brian. „Karen hat aber schon genug Kraft verloren. Eine Wiederholung würde sie mit Sicherheit das Leben kosten, Sandra. Sie würde das nicht schaffen. Deshalb haben wir so reserviert auf deine Ankunft reagiert.“
Sandra nickt. „Ihr habt ja so recht. Das Ganze ist eine verhängnisvolle Verstrickung von Missverständnissen.“
Nach einer Pause fügt sie hinzu: „Darf ich euch noch was sagen?“
„Ja,“, antwortet Brian. „Lass alles raus, meine Kleine.“
„Ihr seid mir nicht böse, auch, wenn es vielleicht schwer zu begreifen ist, was jetzt kommt?“
„Nein“, beteuert Brian, „ganz bestimmt nicht. Wir haben uns ja jetzt ausgesprochen.“
Sandra ringt nach Worten, um die bittere Wahrheit so sanft wie möglich rüber zu bringen. „Ich wäre sicher niemals auf Dauer in Berlin geblieben“, beginnt sie. „Ich hatte immer den Wunsch, euch wiederzusehen. Dass ich aber gerade jetzt wieder hier bin, hat einen ganz besonderen Grund. Ich hatte tatsächlich gehofft, ihr könntet euch um Jessica kümmern, denn ich muss gehen.“
„Du willst wieder weg?“, fragt Karen.
„Ich muss“, antwortet Sandra. „Ich habe noch drei Monate zu leben.“
Die beiden Alten sagen nichts und schauen drein, als hätten sie es nicht verstanden.
„Ich habe Krebs. Die Ärzte geben mir noch bis Mai. Hoffentlich erlebe ich Jessicas Geburtstag noch.“
Die Großeltern bleiben stumm. Zu tief sitzt der Schock, als dass sie etwas sagen könnten.
„Ich möchte nicht, dass Jessi noch einmal in ein Heim kommt. Dieser Gedanke ist das Schlimmste für mich, schlimmer noch, als der nahende Tod. Dann habe ich gesehen, dass ihr damit überfordert wärt und habe eine Anzeige aufgegeben, mit der ich für sie Pflegeeltern suche.“
Brian erholt sich als erster und sagt: „Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Sandra. Deiner Oma geht es nicht anders. Aber ich bin überzeugt davon, dass du das einzig Richtige getan hast.“ Er wendet sich an Karen. „Hab ich recht?“
Nun ist auch Karen wieder imstande, ein paar Worte zu sagen. „Ja, dein Großvater hat recht. Und dass du sterben musst, kann ich einfach nicht glauben. Ärzte irren sich auch schon mal.“
„Ja“, pflichtet Sandra bei, „aber seit ich in Stonehenge nicht zum Zuge kam, glaube ich nicht mehr an meine Heilung. Mein Schicksal ist besiegelt.“
„Stonehenge ist nicht alles“, sagt Brian. „Gehe mal zu einem guten Arzt und lass dich untersuchen. Konsultiere einen Spezialisten. Wir bezahlen ihn.“ Er hebt seine Tasse an und fügt hinzu: „Euer Tee wird kalt.“
Drei Tassen werden zum Mund geführt und senken sich wieder wie eine.
„Vielleicht werde ich das wirklich tun“, sagt Sandra. „Ihr seid so lieb. Danke.“
„Wir lieben dich“, beteuert Karen. „Wir haben dich immer geliebt.“
„Ich euch auch. Alle beide. Und es ist für euch in Ordnung, wenn ich zunächst