Im Strudel des Schicksals. Dietmar Schenk
Malcolm House nicht?“, fragt Gwynn verwundert zurück. „Na gut, woher auch! Er ist ein sehr bekannter Konzertpianist, ein guter Freund von Duncan und permanenter Gast im Golfclub. Vor ungefähr zwei Jahren hat er sein Haus in Bristol verkauft. Seither bewohnt er eine Suite und lässt es sich gutgehen. Geld genug hat er ja bestimmt. Er ist alleinstehend, dürfte so zwischen 70 und 75 sein und hat seinen Beruf an den Nagel gehängt. Das Klavierspielen kann er aber trotzdem nicht lassen, weshalb er abends manchmal im Club sein Können beweist. Es ist immer wunderschön, wenn er was spielt.“
Sandra denkt laut nach. „Was wird er denn von mir wollen?“
„Sicher will er dir zeigen, wie man Klavier spielt“, antwortet Jessica.
„Das wahrscheinlich eher nicht“, gibt Sandra lachend zurück. „Auf jeden Fall bin ich sehr gespannt drauf, was er vorhat.“
„Genau. Und jetzt hast du ein Handy mit Prepaid-Karte, dein erster Schritt auf dem Weg zur erfolgreichen Geschäftsfrau.“
Jessica und Boy sind ein paar Yards vor ihren Müttern und necken sich gegenseitig. Sie sind so sehr mit sich beschäftigt, dass Sandra sicher sein kann, dass sie ihre Frage an Gwynn nicht hören werden. Trotzdem flüstert sie: „Apropos Handy. Hat schon jemand wegen meiner Anzeige angerufen?“
Gwynn schüttelt den Kopf. „Nein, niemand. Ein Zeichen dafür, dass du niemanden brauchen wirst für Jessica. Nur du kannst ihr die beste Mutter sein.“
„Da gebe ich dir recht. Aber das ändert nichts an den Tatsachen.“
Gwynn nimmt Sandra an der Hand, bleibt stehen und dreht sie zu sich hin. „Ich will dich nicht verlieren.“
Der Satz trifft Sandra mitten ins Herz, und auch, wenn sie für sich keine Genesung mehr sieht, nickt sie.
Nach einer geruhsamen Nacht ohne Störungen durch den nächtlichen Verfolger betritt Sandra pünktlich um Neun die Hotelhalle und hält schnurstracks auf die Rezeption zu. Ihr Herz pocht in freudiger Erwartung auf das, was sich ihr offenbaren soll. Die Empfangsdame weist auf eine braune Ledersitzgruppe neben dem Eingang und bittet Sandra, noch ein wenig Platz zu nehmen. Sie folgt der Anweisung und vertreibt sich die Zeit mit einem Prospekt des Hauses, das auf dem Tisch liegt. Wenig später kommt Malcolm House auf sie zu. Sandra möchte aufstehen, aber Malcolm drückt sie nieder, streicht über ihre Hand, die er sich vom Tisch angelt und meint: „Bleib sitzen. Ich bin Malcolm House. Nenn mich Malcolm, ja?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, lässt er sich in einem Sessel nieder, winkt in Richtung Rezeption und schnippt mit den Fingern. Als die Frau reagiert, spreizt er Daumen und Zeigefinger auseinander und signalisiert damit die Zahl Zwei. „Du trinkst doch einen Tee mit mir?“, fragt er, und als Sandra nickt, hebt er zur Bestätigung noch einmal den Daumen. Das Hotelpersonal hat seine Signalsprache in den zwei Jahren, die er hier wohnt, bestens verinnerlicht, und seine Wünsche werden zu Malcolms vollster Zufriedenheit ausgeführt. Natürlich erfreut er sich als gut zahlender Dauergast gewisser Hoheitsrechte, aber auch ohne seine Bekanntheit wäre hier der Service 1A. Malcolm deutet auf das Prospekt. „Wunderschön hier, nicht wahr?“ Er wartet Sandras Meinung erst gar nicht ab und fügt hinzu: „Natürlich hab ich recht. Es gibt keinen schöneren Platz auf Erden, als diesen gepflegten Golfclub. Ich habe ihn bereits vor 20 Jahren kennengelernt, als ich anfing, Golf zu spielen und noch nicht mal wusste, was ein Caddy ist. Inzwischen macht mir da keiner mehr was vor. Mein Gott, wie oft ich am Anfang den Ball suchen musste.“ Er schlägt sich lachend vor die Stirn, und Sandra muss unwillkürlich mitlachen. „Da draußen gibt es einen Teich. Hast du den schon gesehen? Wahrscheinlich nicht. Da hatte ich meinen Ball einmal versenkt. Zwar nur etwa zwei Handbreit tief, aber er war unter Wasser. Es hat meine Hose und die Schuhe ruiniert und mich viel Zeit gekostet, ihn wiederzufinden, und dann brauchte ich 20 Schläge, um ihn aus dem Wasser heraus zu katapultieren und an Land zu befördern. Das war kein guter Tag. Spielst du Golf?“
Sandra schüttelt den Kopf. „Nein. Noch nicht einmal Minigolf. Aber ich höre gerne zu, wenn du davon erzählst, Malcolm.“
„Gut, das ist wunderbar. Ich bin jetzt 72 und noch so voller Energie, dass ich das Golfen brauche, um nicht zu verbrennen, weißt du? Dafür ist dieser Platz genau richtig. Riesig, von einzigartiger Gestaltung und vorwitzigen Hindernissen, die es zu erforschen und zu erfahren gilt. Ich liebe es, mit dem Caddy hier herum zu düsen, und wenn mir mein Gefühl sagt: Stopp, dann halte ich an, packe meinen Schläger aus und lege los. Aber was ich nicht verstehe: Ganz England hat Linksverkehr, und die Caddys sind auf Rechtsverkehr ausgelegt. Sie haben das Lenkrad auf der falschen Seite. Ganz komisch. Macht aber nichts, man gewöhnt sich an alles, und auf dem Platz ist es egal. Auf diese Weise haben wir sogar ein bisschen Europa hier.“
Eine Küchenkraft bringt zwei Kännchen Tee und die dazu gehörenden Tassen, etwas Milch und Zucker und verteilt alles auf dem Tisch. „Wohl bekomm’s, sagt sie.
Malcolm bedankt sich, sagt: „Schreib’s auf mein Zimmer, Darling“, und wendet sich wieder Sandra zu. „So, mein Kind. Duncan sagt, du suchst einen Job?“
„Ja, das stimmt“, bestätigt sie. „Eigentlich wollte ich bei ihm eine Putzstelle aufnehmen. Dann hat sich aber gezeigt, dass ich dem nicht gewachsen bin. Bin leider ziemlich krank.“
„Ich hab davon gehört“, berichtet Malcolm. „Sieh es Duncan bitte nach, dass er dich nicht einstellen kann. Es ist ihm schwergefallen, dir abzusagen, aber er hat mit seiner Mutter erlebt, wie es ist, wenn sich jemand plagt, obwohl er Ruhe bräuchte. Sie hatte trotz ihrer Krankheit bis zuletzt im Hotel mithelfen wollen. Es war ihr Ein und Alles. Sie hatte es mit aufgebaut. Vor vier Jahren ist sie dann gestorben. Zu arbeiten, wenn es einem nicht gutgeht, ist eine Herausforderung. Es ist aber auch wichtig, dass wir Geld verdienen. Unsere Gesellschaft ist nun mal darauf ausgerichtet. Ohne Geld läuft nichts. Manche plagen sich mit Arbeit ab, die sie nicht mögen und die ihnen nicht liegt. Andere schlagen sich als Minimalisten durchs Leben, und wieder andere machen ihr Hobby zum Beruf, gehen darin auf und verdienen gut. Ich darf von mir behaupten, dass ich zur letzten Kategorie gehöre.“
Das Gespräch wird für Sandra immer interessanter. Sie hat ganz vergessen, dass ihr Tee auf dem Tisch wartet, erinnert sich wieder daran, als Malcolm seine Kanne hebt und ihr zunickt und füllt sich ihre Tasse. Bisher hat sie den Tee immer ohne Milch und Zucker getrunken. Jetzt aber, beim Gespräch mit diesem interessanten Herrn, steigt ihre Lebenslust ein wenig. Es genügt, um in ihr den Funken zu entfachen, sich was Extravagantes zu gönnen, und seien es nur Milch und Zucker im Tee. Sie macht reichlich davon Gebrauch und eifert damit Malcolm nach, der sich fleißig der Zugaben bedient. Sie nimmt einen Schluck und dreht sich im Sessel Malcolm zu. „Erzähl weiter“, fordert sie ihn auf. „Ich bin total neugierig. Wirklich sehr spannend.“
„Diese Worte aus dem Mund einer schönen Frau beflügeln mich.“
Sandra errötet. „Ich gebe im Moment bestimmt kein gutes Bild ab.“
„Stelle dein Licht nicht unter einen Scheffel, mein Kind.“
Nur aus Verlegenheit, und um Malcolm nicht anschauen zu müssen, nimmt Sandra ihren Löffel auf und rührt in der Tasse herum.
„Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, bei der Kategorie der Geldverdiener. Wie gesagt, ich habe mein Leben lang gut verdient, indem ich mein Hobby zum Beruf machte. Weißt du, welches Hobby ich habe?“
Sie legt den Löffel ab und schaut ihn wieder an. „Klavierspielen?“
„Perfekt. Spielst du auch ein Instrument?“
„Nein, leider nicht.“
„Sonst irgendwelche Hobbys?“
Sie schüttelt den Kopf.
„Talente? Außergewöhnlichkeiten?“
„Auch nicht.“
„Vorlieben? Interessen?“
„Malcolm, ich fürchte, ich kann Ihnen nicht geben, was Sie sich von mir erhoffen.“
„Erstens, mein Kind, waren wir bereits beim Du, und zweitens: Was glaubst du, dass ich mir erhoffe? Ist es nicht vielmehr so, dass du einen Job suchst, also viel mehr