Im Strudel des Schicksals. Dietmar Schenk

Im Strudel des Schicksals - Dietmar Schenk


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gut auf dich auf. Opa kann dir helfen, euer Gepäck runter ins Dorf zu bringen.“

      Brian nickt, leert seine Tasse und erhebt sich. „Dann lass uns gehen, bevor der Regen mehr wird.“

      8. Kapitel – Veränderungen, und auch wieder nicht

      Nach ein paar Regentagen, in denen sich Sandra und Jessica so häuslich eingerichtet haben, wie irgend möglich, kommt die Sonne zum Vorschein und lässt den Bach wunderbar freundlich aussehen. Sie spiegelt sich in der recht ruhigen Wasseroberfläche und verpasst ihm eine einzigartige Lebendigkeit. Es ist nun ein paar Grad wärmer, als vor dem Regen. Obwohl es erst Ende Februar ist, liegt ein Hauch von Frühling in der Luft.

      Boy ist mit Jessica unterwegs. Er zeigt ihr ein bisschen was vom Dorf. Für seine Freundin, die bisher nur die Großstadt Berlin gesehen hat, ist diese kleine mittelalterliche Siedlung mit ihrer Ruhe und Beschaulichkeit ein kleines Wunder. Sie laufen zusammen die Dorfstraße hinauf, am Unicorn Lodge vorbei zur Mitte, wo sich auf dem ehemaligen Marktplatz ein auf vier Pfeilern ruhendes Dach seines Daseins erfreut. Unter dem Dach sind um eine Säule in der Mitte herum steinerne Bänke angebracht. Boy nimmt Jessica an der Hand und hüpft mit ihr die drei Stufen hinauf zu den Bänken. Sie lassen sich drauffallen. Boy legt seinen Arm um Jessicas Schultern, wie er es auch bei einem Kumpel aus der Schule tun würde. Während seine Hand den Oberarm seiner Freundin tätschelt, erklärt er: „Das war einmal der Dorfbrunnen. Hier haben die Leute früher Wasser geholt. Da gab es noch keine Wasserleitung.“

      Jessica schaut sich um. Nichts deutet mehr auf einen Brunnen hin. „Und wo ist das Wasser jetzt?“, fragt sie.

      Boy gibt fachmännisch Auskunft. „Ich glaube, in der Leitung.“

      „Das ist auch viel praktischer“, weiß Jessica. „Sonst müssten wir es ja mit Eimern nach unten tragen.“

      Sie geben sich dem wunderbaren Anblick der leeren Dorfstraße hin, durch die nur selten ein Auto fährt. Jessica deutet zum Ende der Straße hin, wo Gwynns Haus zu erahnen ist und schwärmt: „Da unten wohnen wir jetzt. Wie schön.“

      Boy drückt Jessica noch fester an sich. „Ich freu mich, dass du da bist.“

      „Ich mich auch. Was unsere Mamas wohl gerade machen?“

      Diese sitzen auf einer Bank vor dem Haus. Die wärmende Sonne hat die beiden Frauen in Freie gelockt.

      Als schweres Geläut von der nahen Kirche aus dem 12. Jahrhundert herüberklingt, schaut Gwynn auf die Armbanduhr. „Schon Zwölf“, sagt sie. „Boy und Jessi werden bald wieder hier sein. Soll ich uns was in den Ofen schieben? Pizza?“

      „Die Kinder haben sicher Hunger“, erwidert Sandra betrübt.

      „Nun komm, lass dich nicht so hängen. Willst du mir nicht sagen, was los ist? Wir haben so ein tolles Wetter. Kein Grund, Trübsal zu blasen.“

      Sie hebt die Schultern. „Schon Ende Februar.“

      Gwynn tut so, als verstünde sie nicht. „Ja, und?“

      „Bald ist Mai.“

      „Das bedeutet gar nichts.“ Gwynn, die bisher wie Sandra geradeaus auf den Bach geschaut hat, klatscht in die Hände und wendet sich spontan ihrer Freundin zu. „Weißt du was?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fügt sie hinzu: „Ich habe heute und morgen frei, und Boy hat noch zwei Tage Ferien. Lass uns das ausnutzen. Damit du auf andere Gedanken kommst, fahren wir heute Nachmittag nach Bath. Wir nutzen das warme Wetter aus und machen uns einen schönen Tag. Wir können eine Stadtrundfahrt mit dem Bus machen, vorher setzen wir uns in ein Café, und am Abend essen wir was Feines. Na, wie wäre das.“

      „Du, das ist total lieb von dir, Gwynn, aber ich habe nur noch 50 Pfund und keine Arbeit. Ich möchte bei dir nicht in der Kreide stehen. Ich bin so froh, bei euch wohnen zu können. Ich erlebe eine Fürsorge und Harmonie, wie ich sie noch niemals gekannt habe und fühle mich zum ersten Mal in meinem Leben fast rundum wohl. Ich möchte deine Gastfreundschaft nicht überstrapazieren.“

      „Warum fühlst du dich nur ‚fast‘ wohl?“, fragt Gwynn. „Die Aussage dieses Arztes ist doch keine unabwendbare Prophezeiung, Liebes. Mach dich endlich mal frei von dieser Angst.“

      „Wenn es nicht der Krebs ist, der mich tötet, dann eben was anderes.“

      Gwynn hebt die Hände zum Himmel. „Was faselst du denn da? Was soll dich um Gottes Willen denn sonst noch töten?“

      „Vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt“, sagt Sandra. „Nicht ‚etwas‘ wird mich töten, sondern ‚jemand‘.“

      „Also entschuldige, meine Liebe. Ich glaube, du leidest unter Verfolgungswahn.“

      Sandra schüttelt den Kopf. „Ich hab ihn gesehen. Er saß im gleichen Flugzeug wie wir.“

      „Aha, und wer, bitte schön?“

      „Der Kerl, der mich schon einmal umbringen wollte.“

      Gwynn legt Sandra eine Hand aufs Knie. „Du irrst dich bestimmt. Das war ein anderer. Was soll der denn in einem Flugzeug nach Bristol gewollt haben?“

      „Gwynn, glaub mir, ich werde dieses Gesicht nie vergessen. Oft genug taucht es vor mir auf und ist mir dann so präsent wie jetzt deines. Ich bin mir sicher, er ist mir gefolgt, um mich endgültig alle zu machen. Immerhin kann ich ihn belasten und hinter Gitter bringen.“

      Gwynn ist eine Zeitlang still. Dann setzt sie erneut an, um Sandras Gedanken zu zerstreuen. „Wie lange ist die Vergewaltigung nun her? Fast zehn Jahre, nicht wahr?“

      „Er wird mich bisher nicht gefunden haben.“

      „Aber plötzlich hat er Wind davon gekriegt, dass du nach England fliegst, ja?“ Gwynn rollt die Augen. „Selbst, wenn es so wäre: Du bist jetzt schon eine ganze Woche hier. Und? Hat er sich noch mal blicken lassen?“

      „Nein, das nicht, aber er weiß, wo er mich findet, das spüre ich. Er wartet nur auf die richtige Gelegenheit.“

      „Für den unwahrscheinlichen Fall, dass du recht hast: Er wartet vergebens. Du bist nicht alleine und wird dir nichts unter Zeugen tun. Wir können also getrost nach Bath fahren. Und wegen der Kohle, mach dir keine Gedanken. Es wird sich alles regeln.“

      Sandra weiß, dass es keinen Zweck hat, zu widersprechen. Aber vielleicht hat Gwynn ja recht, und der Kerl kann ihr in Bath nichts anhaben. Trotzdem bleibt da noch der Umstand, dass sie kein Geld hat. Sie fühlt sich absolut nicht wohl bei dem Gedanken, dass ihre beste Freundin, die ihr schon eine Bleibe gegeben hat und dafür sorgt, dass sie und Jessica satt werden, sich noch mehr ins Zeug legt. Auch die Gewissheit, dass sie es gerne tut und damit absolut kein Problem hat, hilft ihr absolut nicht weiter.

      Gwynn ist seltsam still. Ohne sie anzuschauen und nur aus dem Augenwinkel heraus erkennt Sandra, dass sie gedankenverloren aufs Wasser stiert. Ist das eine Gelegenheit, sie umzustimmen, ohne sie zu verletzen?

      Beide Frauen sind so mit sich beschäftigt, dass keine die Schritte wahrnimmt, die sich ihnen nähern. Es sind die schweren Schritte eines Mannes, dessen Füße in Lederschuhen stecken, und dessen Ziel die beiden Frauen auf der Bank sind. Auf dem gepflasterten Weg, der am Bach entlang zu Gwynns Haus führt, hinterlassen sie ein leises Stapfen, das dem Bewusstsein der Damen verborgen bleibt. Erst die letzten beiden Schritte, die auf dem die Bank umgebenden Kies laut knirschen, lässt Sandra herumfahren und einen spitzen Schrei absetzen. Am ganzen Leib zitternd, schaut sie zu der massiven Gestalt auf, die neben ihr steht und auf sie herabblickt.

      Auch Gwynn ist – mehr von Sandras Schrei - dermaßen erschrocken, dass sie sich beide Hände auf die Brust drückt.

      „Du liebe Güte, Opa“, entfährt es Sandra. „Was machst du denn hier?“

      „Sorry, ich wollte euch nicht erschrecken.“

      Gwynn schluckt, atmet tief ein und entspannt sich wieder.


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