Seefahrerportraits und Erlebnisberichte von See. Jürgen Ruszkowski
wohnten wir mit acht Personen in zwei Zimmern und Küche. Es gab kein Vieh und keine Lebensmittel für die allmählich zurückflutende Bevölkerung. Glücklicherweise wuchs in den Gärten schon etwas Gemüse und aus den umliegenden Wäldern sammelten wir Blaubeeren und Pilze, die meine Tante Anni dann bei den Bauern gegen Getreide eintauschte. Das Korn haben wir in der Kaffeemühle zu Schrot für eine Suppe gemahlen. Die Stadt lag an der Reichsstraße von Frankfurt/Oder nach Beeskow und wimmelte von durchziehenden Menschen. Meistens waren es entlassene deutsche Kriegsgefangene, die zu Fuß nach Hause wollten, aber auch Flüchtlinge, die glaubten, wieder in ihre Heimat jenseits der Oder zurückkehren zu können. Ich war damit auch von den Sorgen des weiteren Oberschulbesuchs befreit, zumal wir kein Geld mehr hatten. So erlernte ich dann traditionsgemäß das Tischlerhandwerk, weil mein Großvater und Vater es auch getan haben. Nach der Gesellenprüfung in Müllrose in der Mark Brandenburg setzte ich mich zusammen mit einem Freund strategisch gegen Westen ab. Da sich für mich keine Möglichkeit ergab, eine Stelle in meinem Beruf als Tischler zu finden, verdingte ich mich zusammen mit meinem Freund bei einem Bauern im Dorf Oberdrees im Rheinland.
Inzwischen hatten wir uns aus alten Teilen ein Fahrrad zusammengebaut und beschlossen, an den Rhein zu fahren. Wir landeten in Remagen, wo mehrere Rheinschiffe am Ufer lagen und auf Schleppdampfer warteten. Ich fragte einen Schiffer, ob er nicht einen Matrosen gebrauchen könne. Er sagte ja, aber dann müsse ich spätestens in zwei Tagen anfangen, weil dann der Dampfer käme. Auch für Freund Edgar war auf dem Nachbarschiff eine Stelle frei geworden, und wir fuhren glücklich nach Oberdrees zurück. Als ich kündigte, gab es mit Jupp Kleefuß, meinem Chef, eine handgreifliche Auseinandersetzung, die seine Mutter aber dann schlichtete. Ich nahm Abschied von meiner Kammer mit den russischen und polnischen Beschriftungen an der Holzwand und schrieb an einer freien Stelle das Goethe-Zitat hinzu: „Wer mit dem Leben spielt, kommt nie zurecht, wer sich nicht selbst befiehlt, bleibt immer Knecht.“ Dann fuhren wir mit dem Bus nach Remagen, weil Jupp mir das Rad weggenommen hatte.
Meine Zeit als Rheinschiffer
Mein Schiff hieß „Helene“, war etwa 70 Jahre alt und konnte 1.200 Tonnen laden. Da es mehrere Helenen gab, musste der Heimathafen Altrip, ein kleines Dorf am Oberrhein, hinzugefügt werden. Es gehörte einem Reeder in Gernsheim, der es von seiner Mutter Helene geerbt hatte. Diese Schiffseigner nannte man im Gegensatz zu den großen Reedereien mit mehreren Schiffen Partikuliere. Im hinteren Teil des Schleppkahns wohnte Schiffmann Otto Müßig aus Hasmersheim am Neckar mit seiner Frau, und vorne wohnte ich zusammen mit dem Matrosen Wilhelm Trunk aus Bad Dürkheim, wo auch seine Familie lebte. Die Arbeit war sehr vielseitig, und ich habe viel Neues hinzugelernt. Wir kochten beide immer wöchentlich abwechselnd. Ich wurde wegen der Größe des Schiffes zwar als Matrose geführt, bekam aber nur den Lohn eines Schiffsjungen. Die erste Zeit gab es noch Lebensmittelmarken, aber bald konnte man alles frei kaufen – wenn man Geld genug hatte. Ich war ein Jahr auf der „HELENE“ und bin siebenmal den Rhein rauf und runter gefahren und interessierte mich für alle Städte und Burgen, die ich vom Schiff aus sah. Wir haben in Duisburg oder manchmal auch in einem Kanalhafen Kohle geladen. Öfter mussten wir wegen der niedrigen Brücken das Steuerhaus abbauen. Es waren schlechte Zeiten für die Schiffer, und wir haben oft drei Wochen auf Ladung gewartet. Dann wurden wir von einem kleinen Hafendampfer auf den Rhein geschleppt und haben dort Anker geworfen, bis genügend Schiffe für einen Schleppzug beisammen waren. Es kam dann der Raddampfer vorbei und gab jedem Schiff ein Schleppseil, das an den vorderen Pollern festgemacht wurde. Wenn der Dampfer dreimal tutete, ging die Fahrt los, und wir mussten den Anker hochwinden. Nachts ruhte der Verkehr auf dem Rhein. Tagsüber musste ich entweder steuern, anstreichen oder zusammen mit dem Matrosen mit Hilfe eines Eimers an einer Leine und eines Schrubbers das Deck waschen. Ich lernte Backbord und Steuerbord zu unterscheiden, in Steuerbord ist ein r enthalten, also rechts in Fahrtrichtung mit grünem Licht. Außerdem war der Schlager populär: „Das rote Licht an Backbord ist die Liebe, das grüne Licht an Steuerbord das Glück“ So ging die Fahrt bis St. Goar, wo wegen der Hungersteine im Fahrwasser ein Lotse an Bord kommen musste. Er fuhr bis Kaub mit, wo durch das Binger Loch ein anderer Lotse an Bord kam. Dabei erfuhren wir immer Neuigkeiten, da wir an Bord weder Zeitungen noch Radio hatten. Es waren 1949 und 1950 sehr heiße Sommer und der Rhein führte wenig Wasser, so dass wir das Schiff nicht voll beladen konnten. Normalerweise hat der Rhein auf 100 m einen Meter Gefälle. Im Binger Loch beträgt das Gefälle jedoch auf zehn Meter einen Meter. Da wurde der Schleppzug aus etwa sechs Schiffen geteilt, oder wir bekamen einen zweiten Dampfer als Vorspann. In die zwei Felsbarrieren beim Mäuseturm am Binger Loch hat man für die Bergfahrt zwei Löcher von 10 m Breite gesprengt. Die Talfahrt ging nebenan durch das „Neue Fahrwasser“, wegen der besseren Steuerungsmöglichkeit immer mit vier Schiffen gleichzeitig, jeweils zwei parallel aneinander vertäut. Einmal hatte sich das Schiff vor uns losgerissen, weil sich ein Seil in unsichtbaren Brückentürmen verfangen hatte. Unser Kahn bekam am Bug eine Beule und musste für mehrere Wochen in eine Werft. Im Winter hatten wir immer genug Kohle zum Brennen an Bord. Manchmal tauschten wir auch welche bei Winzern gegen Wein ein. Neujahr lagen wir in Gernsheim, und ein Matrose von einem anderen Schiff unseres Reeders nahm mich mit zu sich nach Hause. Dort gab es Wellwurst und jungen Wein, dessen Wirkung ich noch nicht kannte. Es ist mir heute noch ein Rätsel, wie ich die schmale Planke ohne Geländer wieder heil an Bord gekommen bin. Da wir wegen des Eisgangs nicht fahren konnten, musste ich draußen bei 10° Kälte Rost klopfen. Ich lebte sehr sparsam und wollte mir endlich meinen ersten Anzug kaufen. Da das Geld aber nicht reichte, gab mir der Schiffsmann einen Vorschuss, den ersten in meinem Leben. Ich hatte zeitweilig auch einen Hund zu versorgen, der mir zugelaufen war, aber eines Tages auch wieder verschwand. Bei einem Gespräch mit dem Schiffer eines in Duisburg neben unserem liegenden Schiffes bot der mir höheren Lohn an. Der Schiffer der HELENE meinte, ich müsse erst noch die Reise bis Ludwigshafen mitmachen, weil er so schnell keinen Ersatz bekomme. Von Ludwigshafen aus bin ich dann mit dem Zug nach Duisburg zurückgefahren und musste auch noch für meinen Hund den halben Fahrpreis entrichten. Dort sagte mir dann jeder Schiffer, dass er mich nun so schnell doch noch nicht gebrauchen könne. Da stand ich nun ohne Wohnung und ohne Arbeit. Einige Nächte kam ich bei Verwandten eines Matrosen auf dem Sofa in der Küche unter. Dann lernte ich einen Matrosen kennen, der beschlagnahmte belgische Schiffe in einem abgelegenen Hafenbecken bewachte. Der bot mir an, dass ich auf einem dieser Schiffe übernachten könne, wenn ich ihm etwas bei seiner Arbeit hülfe. Ich ging jeden Tag zum Arbeitsamt und fragte nach einer freien Stelle.
Eines Tages hatte ich Glück und konnte auf dem Hafendampfer „LUISE“ von Ruhrort anfangen, einem schon reichlich betagten Schiff von etwa 80 Jahren. Es gehörte dem Reeder Hermann Kawater. Der stand den ganzen Tag zusammen mit anderen Reedern vor dem Haus des Schifferbetriebsverbandes und wartete auf eine Schleppfahrt. Vorne im Schiff war die Kapitänskajüte des Kapitäns Laux. Er benutzte sie aber nur zur Mittagsruhe, da er nachts zu Hause schlief und jeden Morgen mit dicker Aktentasche an Bord kam. In der Tasche hatte er sein Kochgeschirr und die Brote für den Tag. Man nannte diese Sorte Schiffsführer immer etwas herablassend „Henkelmannkapitäne“. Ansonsten saß er fast den ganzen Tag zusammen mit anderen Kapitänen in einem der Steuerhäuser und diskutierte. Wir beide hatten öfter Meinungsverschiedenheiten, da mir sein herablassender Kommisston nicht gefiel. Mit dem Maschinisten Grundmann verstand ich mich gut. Er war früher auf großen Dampfern in der ganzen Welt herumgekommen und konnte spannend erzählen. Er wohnte außerhalb von Duisburg und kam jeden Tag mit einem Moped zur Arbeit. Am Markttag hatte er einen Anhänger mit Gemüse dahinter und brachte auch seine Frau mit, denn sie hatten zu Hause eine Gärtnerei. Der Maschinist erklärte mir die vielen Leitungen und Ventile, und einmal haben wir eine Nacht lang die ganze Dampfmaschine auseinandergenommen, weil ein Lager erneuert werden sollte. Am nächsten Tage musste das Schiff ja wieder fahrbereit sein. Meine Aufgabe war es, die Kohle zu beiden Seiten des Kessels vorzuholen und ins Feuerloch zu werfen, damit immer genug Dampf vorhanden war. Eine Toilette gab es auf der LUISE nicht. Das Geschäft wurde auf der Kohlenschippe erledigt und dann ins Feuer geworfen. Wenn wir im Hafen lagen, musste ich das Schiff mit Schrubber und Wassereimer waschen oder mit Teer oder Farbe streichen. Wenn wir schleppten, musste ich die Schleppseile einhängen, beim Steuern helfen und vor den Brücken den Schornstein schnell umlegen und anschließend wieder hochziehen, damit nicht zu viel Rauch ins Steuerhaus kam. Viel zu fahren gab es in den ersten Nachkriegsjahren nicht, gelegentlich mal ein Kiesschiff von der anderen