Seefahrerportraits und Erlebnisberichte von See. Jürgen Ruszkowski
Ja, irgendetwas muss getan werden, um dem gefahrdrohenden Schlingern zu begegnen, das sich manchmal fast bis zum Kentern zu steigern droht. In bestimmte Richtung legen lässt sich das Schiff jedoch nur mit etwas Vorausgeschwindigkeit und mit Steuerung, also muss für beides gesorgt werden! Fieberhaft arbeitet die gesamte Mannschaft. Niemand kann jetzt noch an Schlafen oder Essen denken, obwohl eigentlich ja noch immer Weihnachten ist. Eine Gruppe fertigt aus Holz und Eisenträgern ein Notruder, das kunstvoll außen am Schiff unter Lebensgefahr des Zimmermanns und seiner Leute verspannt wird. Eine zweite Gruppe gießt Öl auf die Wogen: Es ist ja wirklich so, dass die Ölschicht auf dem Wasser die gefährlich aufschäumenden Brecher erstickt. Aber das Gießen würde viel zu viel Schmieröl verbrauchen. Man hängte außenbords an die Luvseite viele Säcke, die mit ölgetränkten Lappen oder dergleichen vollgestopft sind und von Zeit zu Zeit neu mit Öl begossen werden. Von der Kommandobrücke und dem Oberdeck aus brüllen Kapitän Wiese und der erste Offizier Maruhn bei jeder Woge, die heranrollt, Tag und Nacht ohne Schlaf ihr „Warschau“. Dieses ununterbrochene Aufpassen ist Nerven zerreißend. Einige holen mit waghalsigen Artistensprüngen über das taumelnde und wasserüberpeitschende Deck mühsam die Persenninge zusammen, verstärken sie mit Leinen und Gurten und bereiten die Notsegel vor, die dem Schiff wenigstens etwas Fahrt geben sollen. Immer wieder brechen die Seen über das Deck, zerschlagen Holz und Eisenteile, drücken zwischen den beiden achteren Luken zur Mannschaftsmesse in das Deckshaus ein, setzen den schönen Messraum völlig unter Wasser: Stühle, Tische, Geschirr werden zermalmt und mit über Bord genommen. Und wenn das Schiff halb kenternd nach Luvseite überhängt, schäumt das Wasser vom brodelnden Kamm der nächsten Welle oben in den Schornstein hinein.
Es ist die stärkste Belastungsprobe, die man sich für Schiff und Besatzung überhaupt vorstellen kann – oder die man sich als Landratte niemals vorstellen kann. Und dann nach vielen, vielen Stunden übermenschlicher Anspannung, gelingt es, an Masten und Ladebäumen soviel Segeltuchfläche hochzuziehen, dass der stauende Sturm mit unheimlichem Druck etwas Fahrt in das Schiff bringt, so dass es nach und nach aus seiner gefährlichen Lage herausgenommen werden kann. Wind und See von achtern schieben das Schiff jetzt wieder langsam in Richtung Biscaya vor sich her, in Richtung Heimat. Ist die äußerste Gefahr überwunden?
„Ich bleibe auf der Brücke, bis wir in Nummer Sicher sind“, erklärt der Kapitän und lehnt, völlig übermüdet, jedes Anbieten auf Ablösung ab. Dieses Bleiben heißt aber Wachsein – pausenlos.
Inzwischen werden von der Hamburger Reederei unverzüglich die Verhandlungen wegen Bergung des Schiffes eingeleitet. Die Schuchmann-Reederei übernimmt die Aufgabe. Bereit wären gerade die beiden Hochseeschlepper SEEFALKE und WOTAN. SEEFALKE hatte in den beiden Sturmwochen schon zwei Bergungsfahrten hinter sich, er hatte aus der Nordsee den Motorfrachter KRAUTSAND und den schwedischen Dampfer ORVA eingebracht. Jetzt liegt er schon wieder in Borkum auf der Lauer, bis der Funkspruch eines havariert treibenden Schiffes um Bergungshilfe ruft. WOTAN befindet sich gerade auf Schleppreise im englischen Hafen Harwich.
Der Funkspruch scheucht sie beide auf: In kürzester Zeit brausen sie beide los durch die schäumende See, jeder für sich auf verschiedenen Kursen, aber mit dem gleichen Ziel: ADOLF LEONHARDT im Atlantik. So stürmen denn WOTAN und SEEFALKE auch in diesen Sturm hinaus, mit Kapitänen und Besatzungen, die kaum etwas anderes kennen. Aber diese Strecke ist besonders weit, und sie müssen dem Orkan und der hochaufbäumenden See entgegendampfen. Tage und Nächte springen die kleinen Fahrzeuge immer weiter von Welle zu Welle und fallen dazwischen so tief, dass selbst auf ihrer Kommandobrücke der Horizont völlig von der grünen See verdeckt wird. Fünf Tage und fast fünf unmenschliche Nächte dauert diese taumelnde Fahrt, immer weiter weg vom schützenden Hafen, immer weiter in ein ungewisses Wagnis hinaus. „Wir schaffen es!“ Das sagen die Schlepperkapitäne in diesen Tagen wohl häufiger als jemals.
Die Spannung wächst von Tag zu Tag und der Sturm bleibt unerträglich. Trotzdem, Meile auf Meile wird der aufgewühlten Wasserwüste ingrimmig abgetrotzt. Vom Weihnachtsfest und von Sylvesterscherzen ist in dieser Dezemberwoche da draußen nichts mehr zu spüren. Der Atlantik kocht und brüllt.
Auf der ADOLF LEONHARDT ist das Außergewöhnliche schon zum Alltag geworden. Ohne das warnende „Warschau“ des Wachhabenden auf der Brücke darf niemand es wagen, über Deck zu den achteren Mannschaftswohnräumen zu gelangen. Es ist immer ein Springen, Jumpen, ein halsbrecherisches Hasten, ein Spiel mit der Gewissheit völliger Durchnässung, mit dem Wagnis von Knochenbrüchen oder Schlimmerem. Im Maschinenraum geht der Dienst wie immer weiter. Sogar die Hauptmaschine, der mehrtausendpferdestarke Dieselmotor, hilft mit langsamen Drehungen durch Vorwärts- und Rückwärtsmanöver die Steuerung des Schiffes zu verbessern, da je nach Drehrichtung der Schraube das Schiff nach Backbord oder Steuerbord ausschlägt. Dazu laufen unentwegt die Dieseldynamos, die den Strom für Licht und Heizung und für die Funkstation und die Hilfsmaschinen liefern. Hier muss die Kühlmaschine gewartet werden, die den Proviant frisch hält, da laufen immer einige Pumpen für Trink-, Spül- und Klosettwasser und für Kühlwasser der Motoren. Erstes Gebot ist, dass alle technischen Anlagen klar bleiben. Die Skylights, die Maschinenoberlichter, sind des Seegangs wegen wasserdicht verschlossen, aber durch die Luftschächte dringt Spritzwasser, und jedes Mal flucht der wachhabende Ingenieur, der Zweite, Griguzzies, oder der Dritte, Bogasge, oder Kuschke, der Vierte, denn auf den blanken Maschinenteilen hinterlässt das Salzwasser hässliche Rostflecke, und da muss wieder gewienert werden.
Was es wohl für eine Sylvesterfeier wird? Alle warten auf die langsam näherkommenden Bergungsschlepper. Aber die Stimmung ist ausgezeichnet!
Kapitän Wiese bleibt unverwüstlich, obgleich seine Augen tief in den Höhlen liegen. „Ach was, winkt er immer wieder ab. – Wenn ich nicht durchhalte, wer soll es denn?“ Und dann klingelt er wieder seinem Steward nach einer Mug heißen Kaffee – wir kommen ja aus Norfolk, aus den U.S.A., wo die Einheitsdosen mit gemahlenem Kaffee billig sind!
In der Neujahrsnacht wird es dramatisch. 300 Seemeilen, fast 500 Kilometer ist das Schiff mit seinen grauen Notsegeln wie ein Freibeuter in fünf Tagen und Nächten vor dem Sturm hergeritten, ein gewaltiges Wegstück, auch im Atlantik! Wenn es auch nur zwei Knoten Durchschnittsgeschwindigkeit oder wenig mehr bedeutet. Aber in dieser Nacht müssen sie endlich in Sicht kommen: WOTAN und SEEFALKE. Niemand kann der beiden Schlepper wegen schlafen. Heinen kommt auch gerade mal wieder mit einer Neuigkeit aus der Funkbude: „Nicht weit von uns ist noch ein Steamer durch diesen Kuhsturm zur Hilflosigkeit verdammt, die FLYING ENTERPRISE. Der Amerikaner hat einen Riss über Deck bekommen. Er macht tüchtig Wasser in die vorderen Laderäume und hat schon vorgestern Passagiere und Besatzung auf ein anderes Schiff abgegeben. Jetzt wartet der auch auf Bergungsschlepper.“
Die Offiziere schweigen. Sie stehen gespannt auf der Brücke und stieren mit ihren Gläsern in die Dunkelheit voraus, in das Tosen der im Meeresleuchten schwach sichtbaren schäumenden Wellenkämme. „Wie ist die Peilung zu WOTAN und SEEFALKE? Dass sie uns nur nicht vorbeilaufen!“ „Liegt an, genau auf Kurs, Kapitän.“ Langsam geht es wieder einmal in die frühen Morgenstunden hinein, in denen die Müdigkeit schon fast schmerzhaft wirkt, wie fiebriges Kranksein, nach dieser maßlos anstrengenden Woche. Plötzlich aber, zwei haben es zugleich entdeckt! – sind ganz schwach die erwarteten Lichter auszumachen, verschwinden gleich wieder hinter Wellenbergen, gehen für längere Zeit verloren und sind wieder da.
„Fast wie im Kriege auf Beutejagd, ebenso spannend. Nur dass man jetzt weiß, dass sie nicht auf uns schießen.“ „Prost Neujahr, meine Herren! Wir haben sie – sie haben uns“, spottet Wiese, „aber noch nicht im Hafen.“ „Hafen, die kommen doch aus der Heimat, Mensch, direkt ein Neujahrsgruß von zu Hause.“ In Windeseile jagt die Nachricht durchs Schiff. Langsam, nur zeitweise auf den Wellenkämmen sichtbar, tauchen die Schlepper aus der Dämmerung auf. Mit Tageshelle sind sie nahe. Unentwegt blinken die Morselampen von Schiff zu Schiff Verständigung über die Maßnahmen, die für die Übernahme der Schlepptrossen notwendig sind. – Viele Stunden später ist das Schwerste geschafft.
Tag um Tag, Woche um Woche lasten die unverminderten Anstrengungen auf den Besatzungen der ADOLF LEONHARDT und der Schlepper. Nur vorübergehend flaut das Unwetter ab. Dann bringt es mit neuer Gewalt Windstärken kaum unter 9