Elementa. Daniela Kappel
Auch Vincent wirkte nicht, als fühle er sich im Inneren dieses Betonklotzes verloren.
Ganz im Gegenteil zu Daria. Sie hatte schon vor ungefähr fünf Abbiegungen ihre Orientierung eingebüßt, was die Nervosität und das Unbehagen in ihr steigerte. Von dem berauschenden, ja beinahe magischen Gefühl von eben war nicht mehr viel übrig. Lediglich die sanfte Wärme in ihrem Bauch war geblieben. Hinter Sophia und dicht gefolgt von Vincent, der seine Hand auf Darias Rücken gelegt hatte, betrat sie einen hellen, weitläufigen Raum.
Hier gab es, wie im Rest der Staumauer auch, keine Fenster. Nicht einmal eines dieser winzigen Gucklöcher, wie eines in Darias Schlafraum zu finden war.
Die Ausstattung des Raums war ebenfalls nicht mit der in Darias Zimmer vergleichbar. Anstatt der kahlen Betonwände und des rauen Bodens war hier alles mit weißen Fliesen überzogen. In die Decke waren Reihen an Halogenlampen eingelassen, welche die Apparaturen und Möbel in fast blendend helles Licht tauchten. Hinter einer Glaswand zu ihrer Linken konnte Daria einige Krankenbetten und eine Vielzahl von medizinischen Geräten entdecken. Auf der anderen Seite des Raumes standen Patientenliegen, wie man sie aus Arztpraxen kannte, zwischen engen Nischen, die mit weißen Vorhängen versehen waren. Ein paar Meter vor ihr war ein silbern glänzender Metalltisch positioniert, neben dem ein fahrbarer Monitor mit allerlei Tasten stand. An diesem Teil war gerade ein grauhaariger Mann zugange, dessen schlaksige, leicht gekrümmte Gestalt in einen weißen Kittel gehüllt war. Das musste wohl der Arzt sein, nahm Daria an. Sie wurde nicht enttäuscht.
„Dr. Renson“, sagte Sophia und der Mann im Kittel drehte sich zu ihnen um. Sein Gesicht war eigentümlich alterslos. Daria konnte nicht sagen, ob er nun fünfzig, sechzig oder mehr Jahre alt sein mochte. Seine grauen Augen musterten sie mit unverhohlener Neugierde. Es war kein unangenehmer Blick, eher freudvoll und bewundernd.
Er trat einen Schritt auf sie zu und nahm ihre Hand zwischen seine. „Ich bin gesegnet, dass ich das noch erleben darf“, brummte er und schüttelte auch Vincent die Hand.
„Dr. Renson ist einer der renommiertesten Genforscher dieser Zeit und in unseren Breiten der Einzige, der sich mit der DNA von Elementträgern beschäftigt.“
„Und er ist auch der Einzige, dem die Garde gestattet hat, Forschungen zu betreiben“, fügte Vincent trocken hinzu, was Sophia dazu veranlasste, ihm einen mahnenden Blick zuzuwerfen.
Offenbar hatte Vincent seine eigene Meinung zu diesem Umstand.
„So ist es“, bestätigte Dr. Renson. Vincents unfreundlichen Tonfall überging er einfach. „Meine Mutter war eine Elementträgerin und Ärztin in Diensten der Garde. Ich bin praktisch unter und mit ihnen groß geworden.“
Dr. Renson nickte bedächtig und zeigte dann auf Vincent. „Wollen wir, mein Lieber?“
Vincent ließ sich auf einer Untersuchungsliege nieder.
Der Arzt legte seine Finger vorsichtig, doch sichtlich routiniert auf Vincents Gesicht. Befühlte seine Augenbraue und tupfte die Wunde darüber mit einem nach Desinfektionsmittel riechenden Tupfer ab. „Wann hast du dir diese Verletzung zugezogen?“, wollte er wissen.
Daria schnaubte leise und schauderte, als sie an die Geschehnisse der letzten Nacht dachte.
„Vor ein paar Stunden“, antwortete Vincent und verzog das Gesicht, als Dr. Renson nun auch seine aufgeplatzten Fingerknöchel reinigte.
„Und diese hier?“ Er hob die Hand, die er eben behandelt hatte, höher und betrachtete sie genauer unter dem grellen Licht der Untersuchungslampe.
„Vor etwa einer Stunde“, gab Vincent zurück und richtete sich auf.
Dr. Renson erwiderte nichts. Er wirkte hochkonzentriert, nachdenklich und gleichermaßen begeistert. „Darf ich?“, fragte er Vincent und hielt ihm ein Wattestäbchen vors Gesicht.
Daria fragte sich gerade, was er damit wohl anstellen wollte, als Vincent wie selbstverständlich den Mund öffnete.
Der Arzt drehte den Watteträger kurz an der Innenseite seiner Wange und strich Vincents Speichel dann auf ein kleines Glasplättchen. Dieses bedeckte er mit einem zweiten und ging dann schnellen Schrittes ans andere Ende des Untersuchungsraumes, wo einige Geräte an einem langen Tisch aufgebaut waren.
Er platzierte die eben gewonnene Probe unter einem Mikroskop und sah dann durch das Okular.
Es war unangenehm still im Raum, während sie warteten, bis der Arzt untersucht hatte, was auch immer es da zu sehen gab.
Als er sich schließlich von dem Mikroskop abwandte, lag sein durchdringender Blick auf Vincent. „Deine Wunden heilen unglaublich schnell.“
Vincent seufzte und blickte finster. „Das ist nichts Neues, und entschuldigen Sie, wenn ich darauf aufmerksam mache, auch nichts Ungewöhnliches für meinesgleichen, wie sie sehr gut wissen.“ Vincent hörte sich genervt, aber auch auffallend müde an.
Daria hatte den Eindruck, dass sich die beiden mehr als nur beiläufig kannten und dass sie dieses Gespräch nicht zum ersten Mal führten. Eigentlich sollte es sie nicht wundern, wenn der Arzt Vincent schon früher untersucht hatte, immerhin war er ebenso ein Mitglied der Garde wie Vincent und seine Familie. Trotzdem war sie von dem, was Dr. Renson nun sagte, überrascht.
„Genauso ist es. Das ist auch der Grund, warum ich dir das immer und immer wieder sage. Jedes Mal, wenn ich eine neue Probe von dir analysiere, werden deine Zellteilungsraten rasanter. Sie liegen auffällig weit über dem Durchschnitt. Deinesgleichen“, betonte er das letzte Wort und zog herausfordernd eine Augenbraue hoch.
Vincent spannte sich an, erwiderte aber nichts.
„Der Heilungsgrad deiner Wunden ist jedenfalls nicht mit der verstrichenen Zeit vereinbar und auch nicht mit der grundlegenden Tendenz einer beschleunigten Regenerationsfähigkeit der Elementträger erklärbar. Ich …“
„Und ich werde Ihnen immer und immer wieder sagen, dass Sie es vergessen können! Ich werde keinen Ihrer Versuche mitmachen!“, unterbrach Vincent ihn unterkühlt und verschränkte die Arme vor der Brust.
Daria schwirrte der Kopf. Was sollte das nun bedeuten? Wovon sprachen die beiden da?
Eine Erinnerung keimte in ihr auf. Vincent und sie, völlig durchnässt von dem Schauer, den sie heraufbeschworen hatte, in seinem Auto am See. Er hatte ihr eingebläut, bloß niemand von ihren speziellen Fähigkeiten zu erzählen, damit sie nicht in einem Labor als Versuchsobjekt endete.
Sophia unterbrach die angespannte Stimmung, indem sie Daria in eine der Kabinen schob und ihr ein Untersuchungshemd in die Hand drückte. „Ich glaube, es gibt derzeit Wichtigeres“, warf sie streng ein.
„Natürlich.“ Dr. Renson sprang auf und bereitete einige Utensilien vor, während Daria sich umzog.
Nur mit dem knielangen weißen Hemd bekleidet, ließ sie sich neben dem Arzt auf die Untersuchungsliege sinken.
Vincent beobachtete alles mit stoischer Miene.
Ohne Umschweife machte Dr. Renson sich daran, Daria zu untersuchen. Er maß ihren Blutdruck und die Temperatur, tastete ihre Lymphknoten ab, sah ihr in Augen, Ohren und Mund und machte schließlich auch noch einen Speichelabstrich und eine Blutabnahme.
Eines der Blutröhrchen steckte er sogleich in den dafür vorgesehenen Apparat. Während sie auf das Ergebnis warteten, erklärte er: „Du bist kerngesund, meine Liebe. Wir sehen uns jetzt den Wert eines bestimmten Stoffes in deinem Blut an. Auch wenn der Koitus erst kaum einen Tag zurückliegt, könnte es sein, dass dieser Parameter bereits in deinem Blut nachweisbar ist. Es liegt an der Struktur des speziellen Chromosomensatzes, welcher euch von uns anderen Menschen unterscheidet. Ihr seid, nun sagen wir einmal, wesentlich potenter. Eure Eizellen sind beinahe den gesamten Zyklus lang befruchtungsfähig und die Spermien wesentlich robuster und agiler. Das ist auch der Grund, warum eine Schwangerschaft nach dem Verkehr bei Elementträgern bis zu neunzig Prozent häufiger eintritt und die meisten hormonellen Verhütungsmethoden kaum eine Wirkung zeigen.“
Ein penetranter Piepton unterbrach seine Ausführungen.