Verlorenend. S. G. Felix
... zu normal gewesen.«
Pais schlug leicht mit dem Handrücken gegen den Kristall, denn er wusste, dass der Kristall so aktiviert werden musste. Nichts jedoch geschah. Er versuchte es noch einmal. Vergeblich. »Hmm. Er lässt sich nicht aktivieren.«
»Wahrscheinlich ist er kaputt«, sagte Antilius.
»Das glaube ich nicht. Brelius hätte niemals irgendwelchen Ramsch gekauft. Vielleicht muss man die Sache anders angehen.«
Pais nahm den Kristall, umschloss ihn mit beiden Händen und schlug ihn mehrmals auf die Tischkante, sodass einige Gegenstände und Schriftrollen herunter purzelten, darunter auch eine der Linsen, die in vier gleichgroße Scherben zerbrach. Ein leises Pfeifen ertönte. Dann veränderte sich der Kristall, und eine männliche Stimme erklang. Zunächst war sie noch verzerrt und etwas abgehackt und klang nach nichts Menschlichem. Aber dann wurde sie klarer.
»Na bitte! Geht doch«, triumphierte Pais.
Antilius, Pais Ismendahl und auch Gilbert hörten gespannt der Stimme von Brelius Vandanten aus dem Kristall zu:
» Datum: 21. Phlogiston.
Die letzte Nacht habe ich wie so viele zuvor durchgearbeitet. Meine Begeisterung und meine Leidenschaft für dieses Projekt lassen aber meine Konzentration nicht schwinden.
Ich muss mir selbst eingestehen, dass ich mich in letzter Zeit selbst überfordert habe. Ich werde mir erst einmal ein paar Tage Ruhe gönnen und danach entscheiden, wie ich weiter verfahre.«
»68. Phlogiston.
Ach, ich kann an nichts anderes mehr denken! Dieses Ding schwirrt mir Tag und Nacht durch den Kopf. Dieser dumme Stein! Verflucht ist er! Ja, verflucht! Hätte ich ihn doch nur nie in die Hände gekriegt.
Doch ich will von vorne beginnen: Ich habe schon fast wieder vergessen, dass ich dieses Tagebuch nicht für mich aufzeichne. Ich werde alles erklären, was bisher geschehen ist.
Lange Zeit habe ich gebraucht, um es zu analysieren und zu verstehen. Das AVIONIUM. So habe ich es genannt. Es handelt sich dabei um ein Gestein, welches nur im Adler-Gebirge vorkommt, also auf der anderen Seite der Schlucht in den Ahnenländern.
Ich habe diesen blau schimmernden Wunderstein einem alten Mann abgekauft. Er war Händler und sagte mir mit verschwörerischem Blick, dass dieser Stein verhext sei und merkwürdige Eigenschaften habe. Der Stein solle schweben können, nachts, wenn man schläft und nichts davon merkt. Und böses Unheil könne er anrichten und alte Geister beschwören. Niemand wollte deshalb angeblich diesen Stein haben. Genau das weckte meine Neugier, rief aber auch Skepsis in mir hervor – schließlich bin ich Wissenschaftler. Ich fragte ihn, woher er ihn habe, denn ich wusste, dass es keinen Weg zu dem Gebirge gibt, aus dem dieser Stein stammt. Es gibt keine Brücke, die über die riesige Schlucht führt. Die andere Seite wird zudem seit dem Königs-Krieg schwer bewacht. Auch vom Meer her kommt man nicht in die Ahnenländer. Jeder, der es wagte, sich mit einem Boot, egal wie groß oder wie stark es gebaut war, der Küste der Ahnenländer zu nähern, bezahlte es mit seinem Leben. So jedenfalls erzählen es unzählige Geschichten. Keiner hat sich deshalb in den letzten Jahrzehnten getraut, dieses Gebiet zu betreten. Doch der alte Mann erklärte mir nur schroff, dass er ihn von seinem Vater habe, der schon vor mehr als 40 Jahren starb. Und dieser habe ihn ebenfalls von seinem Vater vererbt bekommen. Obwohl es sich um ein Erbstück mit ideellem Werte handele, so der Händler, sei er gezwungen, den Stein zu verkaufen.
Ich nahm den Stein mit nach Hause und untersuchte ihn genauer.
Ein paar Tage später fiel mir zufällig etwas Merkwürdiges auf: Ich verglich das Gewicht des Steins mit ein paar anderen Gesteinsproben. Ungläubig stellte ich fest, dass das Gewicht eines anderen Steines, den ich in der Verlassenen Wüste gefunden hatte, schwankte. Ich dachte zuerst, meine teure Waage hätte einen Defekt. Ich kaufte mir sogar eine neue, aber das Gewicht schwankte immer noch. Mal war er leichter, mal schwerer. Unmöglich! Dann enträtselte ich die Ursache. Beiläufig schob ich während der Messungen den neben der Waage liegenden Avionium-Stein beiseite, worauf sich das Gewicht des Wüsten-Steins schlagartig erhöhte. Ich schob das Avionium wieder näher an die Waage heran und der Wüsten-Stein wurde leichter. Ich habe den Versuch mit allen anderen möglichen Gegenständen durchgeführt, alle mit demselben Ergebnis: Das Avionium war imstande, das Gewicht von Gegenständen in seiner näheren Umgebung zu verringern. Eine fantastische Entdeckung! Ich habe noch nie etwas Vergleichbares gesehen.
Allmählich wurde mir klar, welche Möglichkeiten sich durch diese Entdeckung ergaben. Würde man mehr von dem Avionium verwenden, könnte man damit schwere Lasten leichter transportieren. Meine Gedanken überschlugen sich. Unzählige Einsatzbereiche schwirrten mir durch den Kopf. Unzählige Erfindungen, die ich damit machen könnte.
Trotz meiner Euphorie ließ ich mich nicht von meiner Dummheit übermannen. War dies alles vielleicht nur ein Schwindel? Hatte ich bei meinen Untersuchungen einen Fehler gemacht? Ich musste Sicherheit haben, und so wiederholte ich meine Untersuchungen zwei Tage und zwei Nächte lang. Meine ersten Messungen bestätigten sich jedoch, sodass meine Zweifel beiseite geräumt wurden.
Doch damit nicht genug! Während meiner Forschungen stieß ich auf ein weiteres Mysterium: In der Nacht, in welcher der größere von beiden Monden, Quathan, ein Vollmond war, verzeichnete ich beim Avionium die stärkste Kraftwirkung. Das Avionium selbst könnte demnach Mondgestein sein. Vielleicht ist dieses kleine Stück sogar ein Rest des nur in Legenden existierenden dritten Mondes Wuthan.
Ich war wie besessen von diesem kleinen unscheinbaren Stück Stein. Und plötzlich schoss mir eine noch viel kühnere Idee durch den Kopf: Könnte dieser Zauberstein es sogar fertig bringen, die Schwerkraft ganz aufzuheben? Schließlich hat mir der alte Mann ja gesagt, der Stein könne schweben. Ich musste also herausfinden, welche Bedingungen herrschen müssten, um die Schwerelosigkeit zu erreichen.
Meine weiteren Untersuchungen brachten mich schließlich auf die recht simple Lösung: Ich brauchte noch mehr Avionium. Nur auf diese Weise wäre es möglich, Gegenstände und auch das Avionium selbst zum Schweben zu bringen.
Und damit begann mein Problem. Ich habe berechnet, dass ich mindestens fünfzig ebenso große Steine wie mein Exemplar brauchen würde. Es ist bisher die einzige Lösung, die ich gefunden habe, und ich bin ziemlich sicher, dass es auch die einzige ist.
Aber ich ... ich weiß einfach nicht, woher ich es bekommen soll. Ich habe den alten Mann, der mir den Stein verkauft hat, mehrmals eindringlich gefragt, ob er mir nicht helfen könne, mehr zu finden, aber er gibt sich ahnungslos. Ich glaube ihm.
Der einzige Ort, an dem ich noch mehr Avionium finden könnte, wäre im Adler-Gebirge in den Ahnenländern. Abgesehen davon, dass es verboten ist, die Ahnenländer zu besuchen, weiß ich absolut nicht, wie ich dort hingelangen soll. Ich habe mir eine Karte besorgt. Die Schlucht, die die Länder von Truchten trennt, ist mindestens einhundert Meter breit und vierhundert Meter tief. Zudem besteht die Schlucht nur aus Steilwänden. Die Ahnenländer sind eine Insel, die ausschließlich von jenen legendären Steilwänden begrenzt ist. Unmöglich da hinzukommen. Den Versuch, die Länder von der anderen, also der von Truchten abgewandten Seite über das Meer zu erreichen, habe ich mir aus dem Kopf geschlagen. Es gibt zwar viele Dinge, die ich tun würde, um an das Avionium heranzukommen, Selbstmord gehört jedoch nicht dazu. Die Ahnenländer sind, vielleicht zu Recht, die bestgeschützten Gebiete, die es jemals gab. Die Ahnen haben dafür gesorgt, dass niemand Unerwünschtes diese geheimnisvollen Böden jemals betreten kann. Aus welchem Grund auch immer.
Vielleicht wussten sie schon damals um die Wirkung des Avioniums und wollten es auf diese Weise beschützen? Aber warum nur? Oder es gab noch einen anderen Grund?
Wenn ich doch nur eine Lösung wüsste! Ich denke, ich werde in den nächsten Tagen versuchen,