Kerker aus Licht und Schatten. Marco Mukrasch
Sinnen? Doch noch immer betrachtete sie den Jüngling. Sie stockte. Er war ... so schön — auch mit all dem staubigen Schweiß. Oder vielleicht gerade deswegen? Ihre Hand lag auf seinem kräftigen Arm, der sie noch immer umfasst hielt. Feuchte Wärme ging von ihm aus, drang durch ihr Kleid. Ein seltsames Gefühl; und doch: es war ... Warum wurde ihr wärmer? Sie wollte aufstehen, doch ... wollte sie wirklich? Sie fühlte sich gerade so wohl.
Plötzlich war ihr Vater über ihr. „Judith, mein Kindchen, hast du dich verletzt? Du Lump! Bist du toll, dass du dich auf meine Tochter stürzt?“
Etwas enttäuscht erhob sich Judith unter der gleichzeitigen Hilfe Jeremias’ und ihres Vaters, der den Jüngeren jedoch fortscheuchte.
„Wag’ es nicht, sie noch einmal anzufassen! Sonst werde ich dich rädern lassen. Hast du verstanden?“
Jeremias stand reglos da und sah demütig hinab.
Judith ordnete ihre prächtigen Kleider. „Papa, er hat mich gerettet. Ohne ihn wäre ich ... “
„Nein, meine kleine Prinzessin. Das sah schlimmer aus, als es tatsächlich war.“
Ihr Mund blieb offen stehen. „Aber die Steine hätten mich erschlagen, wenn Jeremias nicht gewesen wäre.“
Ihr Vater zuckte bei dem Namen seltsam zusammen. „Nein, Kind, schau’ … die Steine wären zwar dicht neben dir eingeschlagen, hätten dich aber nicht getroffen. Du standest weiter hier. Da konnte nichts passieren.“
Warum will er nicht wahrhaben, dass ich tot gewesen wäre? Ich habe die Ziegel doch genau über mir gesehen. „Wie dem auch sei, Papa, ich möchte Jeremias danken.“
„Wofür? Dass er dich in den Gossendreck gezogen hat?“
Am Rand ihres Sichtfeldes bemerkte sie, wie sich die Muskeln des jungen Mannes zusammenzogen. Sie lächelte. „Danke für deine Hilfe, Jeremias. Merci beaucoup.“
Nach einer unschlüssigen Sekunde verneigte sich der Jüngling. „Tout le plaisir était pour moi, Mademoiselle Brückfeld. Si vous avez encore besoin de moi … Ihr wisst, wo Ihr mich findet.“
Sie wollte etwas entgegnen, doch ihre Sprache versiegte. Er hatte Französisch gesprochen, dieser ehemals so schüchterne Waisenjunge. Wie konnte dies ... ?
Ihr Vater zog sie am Arm davon und rief Jeremias zu: „Es ist eine Schande, wie du herumläufst: barfuß, halb nackt, schmutzig. Ich werde mit Jansen sprechen.“
„Aber Papa, wichtig ist doch, dass jeder unversehrt ... “
Brückfeld schritt unwirsch voran. „Versprich mir, dass du mit niemandem hierüber redest. Kein Wort!“
Sie willigte ein. Jeremias — sein Arm um ihre Hüfte, seine Augen; all dies ging ihr nicht aus dem Sinn. In einem längst bekannten Buch hatte sie eine verborgene Seite aufgeschlagen, welche das zuvor Gelesene vertieft und in etwas verwandelt hatte, dessen Versprechen ihr Leidenschaft und Furcht zugleich bescherte.
Jeremias sah den beiden hinterher, bis sie abfuhren. Er war benommen, ja benebelt. Dies sollte das kleine Balg sein, das ihm vor Jahren derart auf die Nerven gegangen war? Er hatte sie seitdem nur flüchtig aus der Ferne gesehen. Beeindruckend. Diese hohen Wangenknochen, auf seinem Arm war noch ein leises Prickeln ihrer Berührung … Hatte das Strauchwerk in ihrem Inneren da nicht einen winzigen Augenblick lang die Sicht freimachen wollen, als wäre es dünner und biegsamer geworden?
Er lief über den Rathausplatz, vorbei am Dom. Er nahm seine Umgebung kaum wahr. Schließlich hatte er die Stadt verlassen. Nackt sprang er in den kühlen Main, ließ sich vom Fluss treiben, Judiths klare Augen vor sich — erfrischend wie das Wasser, in dem er schwamm.
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