Kerker aus Licht und Schatten. Marco Mukrasch

Kerker aus Licht und Schatten - Marco Mukrasch


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Vorarbeiter war sprachlos, auch die anderen Männer blieben stumm stehen und beäugten Jeremias.

      Eine Stunde später war alles erledigt. Jeremias wollte gehen, doch da legte der verletzte Arbeiter die Hand auf seine Schulter.

      „Junge, wie hast du das vollbracht? Tausend Dank dafür. Warum tatest du dies für mich?“ Seine Augen waren zwei tiefe Brunnen, die hofften, dass man eine Antwort in sie hinabließe.

      „Ich merkte, dass du in Not warst. Da wollte ich helfen.“

      Der Mann konnte nichts erwidern und lächelte nur dankbar.

      Am Sonntag fand Philipp Zeit, Jeremias zu unterrichten. Mit Kreide schrieb er die ersten fünf Buchstaben des Alphabets auf eine kleine Schiefertafel. „Schreibe sie nach und präge sie dir ein.“

      Jeremias’ Finger vibrierten. Unglaublich. Ich lerne wirklich Schreiben. Trotz der Freude fühlte er die Sorge in Philipp, die wie eine hungrige Motte in dessen Inneren umherflog und am Nervengewebe nagte: Nur drei Monate blieben — unmöglich alles in dieser Zeit zu erlernen.

      Jeremias probierte die ungewohnten Handbewegungen aus und nach einiger Zeit gelang es ihm, die fünf Buchstaben sauber niederzuschreiben. Es ist gar nicht schwer.

      Philipp brummte zufrieden und gab Jeremias fünf weitere Buchstaben zum Lernen, dann tätschelte er Jeremias’ Oberarm und ging schlaff an seine eigene Arbeit. Die Sorgenmotte hatte Junge bekommen.

      Eine Woche später zeigte Philipp Jeremias den Rest des Alphabets. Der junge Schüler schrieb die Lettern eifrig. Die Schrift wurde immer sicherer und geschwinder. Philipp spitzte die Lippen.

      „Du kannst dich wahrlich noch gut an die Buchstaben vom letzten Mal erinnern. Sprich sie einmal aus.“

      Jeremias antwortete sofort. Sofort richtig. Der Niederländer fragte nach weiteren Buchstaben, aber auch hier entgegnete der Schüler korrekt.

      „Nun werde ich dir einmal einige Worte zum Lesen geben. Vielleicht kannst du sie aussprechen.“

      Es dauerte, aber mit ein wenig Hilfe, las Jeremias die Worte laut vor.

      „Gut, du machst das wirklich hervorragend. Ich hätte nicht gedacht, dass du dermaßen schnell lernst.“

      Der Junge strahlte.

      „Wie würdest du die folgenden Worte schreiben, die ich dir sage?“, fragte Philipp.

      Jeremias schrieb so gut er konnte, und mit der Zeit musste Philipp immer weniger berichtigen, da sein Schüler keinen Fehler ein zweites Mal beging.

      Den folgenden Sonntag war Philipp auf einer Handelsreise, sodass der Unterricht ausfiel. Zurückgelassen ließ Jeremias seinen Blick durch die winzige Kammer schweifen, die er mit dem Älteren teilte, und erspähte eine kleine Fibel. Kurz darauf hatte er das Büchlein geöffnet vor sich liegen. Die gedruckte Schrift war ungewohnt. Nicht leicht ... aber ja, das muss dieser Satz bedeuten ... und der nächste ... Die Herztrommel ließ seine Brust pulsieren. Er konnte die Augen nicht mehr von dem Text nehmen, den er schneller und schneller durchmaß, bis das Buch zu Ende war. Er begann erneut. Dieses Mal blieb noch viel mehr in seinem Geiste haften. Ein fiebriges Lächeln bemächtigte sich seines Mundes. Er nestelte ziellos an seiner Kleidung herum, da sein Kragen zu eng geworden war. Hatte er tatsächlich soeben dieses Buch gelesen? Er? War dies möglich? Aber er hatte alles vor sich. Er brauchte noch mehr Luft, noch mehr Atem. Seine Zunge war pelzig, aber er vernahm keinerlei Durst. Er legte sich auf sein Lager und betrachtete die holzwurmverzierte Decke. Er lachte und ließ zufrieden seinen Brustkorb herabsinken, während er ausatmete.

      Die harte Arbeit während der Woche fiel ihm nun noch leichter, da er sich auf den Sonntag freute.

      Am nächsten Sonntag holte Philipp stolz die Fibel hervor: „Das habe ich für dich vor einigen Tagen erstanden. Mal sehen, ob wir zusammen die erste Seite schaffen.“

      „Das sollte kein Problem sein. Auf der ersten Seite steht Folgendes ... “

      Er fing an zu rezitieren. Philipps Gelassenheit zerbröckelte, als er gewahr wurde, dass Jeremias Wort für Wort alles aufsagte, was in der Fibel stand. Jedwede Bewegung war aus der Mimik des Niederländers gewichen. Er war nicht fähig, den unteren Kiefer nach oben zu ziehen.

      Jeremias hörte auf, strich verlegen über seine Stirn. „Es tut mir leid, wenn ich dich enttäuscht habe. Aber ich habe das Buch schon gelesen, als du fort warst.“ Er trat von einem Fuß auf den anderen.

      Endlich fasste sich Philipp. „Du hast das ganze Buch gelesen? Das ... das kann nicht sein. Wie hast du ... ?“

      Doch Jeremias zuckte nur mit seinen Achseln. „Ich weiß es nicht, aber bitte gib mir mehr zu lernen. Es ist noch viel Zeit. Wir werden Brückfelds zeigen, dass Verstand nichts mit Reichtum zu tun hat.“

      Philipp schluckte einige Male. Er hatte so etwas noch nie erlebt. Schließlich fuhr er mit dem Unterricht fort: Zahlen, Rechnen … die Grundlagen der Mathematik. — Jeremias meisterte es mühelos. Er verband, zerstückelte und verwob immer größere Beträge. Landkarten, Städte, Flüsse, Namen von Händlern — Jeremias schrieb das Gelernte aus dem Gedächtnis nieder.

      Die Sonne hatte ihren höchsten Stand an diesem Tag erreicht. Noch immer umströmte Philipp Jeremias mit Wissen, doch der Junge fasste die Massen nicht nur, sondern sog mehr und mehr aus seinem Lehrer hervor. Eine heiße Begeisterung loderte zwischen ihnen, versengte den Sorgenmotten die Flügel und trieb beide voran.

      „Kannst du mir deine Sprache beibringen? Ich möchte wissen, wie man in Amsterdam spricht“, bat Jeremias.

      Die niederländischen Worte tanzten wie bunte Mosaiksteine durch seinen Geist; fügten sich erst langsam, kurz darauf immer flinker und schließlich rasend schnell zu wachsenden Teilen zusammen, bis sich das gesamte Bild vor Jeremias auftat.

      Die Sonne stand nun dicht über dem Horizont. Doch noch länger als die Schatten draußen, waren Geduld und Eifer der beiden in der Kammer, wo sich ein Lernsturm entfaltet hatte.

      „Beherrschst du auch Französisch?“

      „Äh, ja ... aber willst du dies auch noch ... ? Ich meine, du hast heute schon so viel gelernt und ... “ Philipp keuchte.

      „Wir haben noch den gesamten Abend“, sagte Jeremias. „Aber trink’ etwas. Deine Stimme ist bereits rau geworden.“ Er lachte.

      Mit dem letzten Tageslicht flogen sie weiter voran. Jeremias’ Zunge musste sich mit den weichen Worten anfreunden, die ihm bald elegant über die Lippen sprudelten. Eine kleine Kerze war Zeuge, wie Jeremias und Philipp, der nur noch durch die Begeisterung seines Schülers wach gehalten wurde, auf Französisch parlierten. Schließlich jedoch ging Philipp erschöpft ins Bett.

      Jeremias war indes noch nicht müde; er hätte die ganze Nacht hindurch lernen können. Noch immer hörte er die Brandung des Wissens, sah die angewachsene Welt um sich herum wie von einem hohen Berg herab.

      Es dauerte noch fast einen Monat, bis Philipp es wagte, um eine Audienz bei Meister Brückfeld zu bitten.

      Brückfeld saß grinsend zusammen mit Lösser als Examinator vor Jeremias und Philipp, die stehen mussten.

      Der Oberbuchhalter eröffnete die Prüfung: „Vor dir liegen Korrespondenzen und Rechnungen aus dem Kontor. Du hast Zeit, bis die Sanduhr abgelaufen ist, alles zu studieren, die Rechnungen zu überprüfen und uns das Gelesene in deinen Worten zusammenzufassen. Trödele nicht herum.“ Mit diesen Worten wendete er die Sanduhr.

      Jeremias vermeinte, ein spöttisches Rieseln zu hören. Er hob einen dünnen Dokumentenstapel auf, verbeugte sich und wollte gerade ansetzen, als ihn der Meister unterbrach.

      „Halt, es fehlt noch etwas. Judith, komm’ bitte herein, mein kleiner Liebling.“

      Die Privattür der Brückfelds öffnete sich und Judith kam mit Louise herein. Sie hatte eine Holzflöte bei sich.

      Lachen blubberte aus Brückfelds Lippenwulsten: „Mein Töchterchen hat ein neues


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