Kerker aus Licht und Schatten. Marco Mukrasch

Kerker aus Licht und Schatten - Marco Mukrasch


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Bürde musste er nun schultern. Er musste seinen Töchtern, die bei Verwandten untergekommen waren, ein standesgemäßes Leben schenken. Dies war seine Verantwortung, sein Versprechen, seine Pflicht. Wäre er doch nur ganz allein, dann könnte er einfach ... Nein! Er musste sich zusammennehmen.

      Er atmete tief ein. Die Luft schmerzte in seiner Lunge. Ein weiterer Atemzug, und das Brennen flammte nicht mehr derart quälend auf. Beim dritten Einatmen hob er den Kopf. Es blieb ihm nur noch die Möglichkeit, sich gegenüber Meister Brückfeld — einem der größten Kaufleute der Stadt — zu bewähren. Sonst wäre das Empfehlungsschreiben eines Bekannten nutzlos gewesen. Er betrachtet die Häuser vor sich. Ja, Magda, ich weiß ...

      

      Die folgenden finsteren Stunden bot Philipp seine Waren feil. Ein Füllhorn der Peinigungen: man ignorierte ihn, hetzte Hunde auf ihn, schüttete den Inhalt von Nachttöpfen nach ihm ... Was war dies nur für eine verdammte Stadt? Warum hatte es ihn nur hierher verschlagen? Wüsste er doch wenigstens, dass Magda in seiner Stube auf ihn wartete. Er blickte zu Boden, um nicht mehr die Häuser sehen zu müssen, die ihn ausschlossen und aus den Augenwinkeln grimmig musterten.

      Bald kam er in eine Gegend, in der die Häuser nicht mehr derart reich waren wie zuvor, wo Holzhütten die Gassen bildeten, die mit Unrat übersät waren. Der sumpfige Boden saugte sich an seinen Schuhen fest, und der Wind lastete ihm mehr und mehr Gewicht an, das sich anschickte, jedwede seiner Bewegungen zu ersticken. Selbst das Heben des Brustkorbes war eine Tortur und es dauerte nicht lange, bis Philipp dermaßen geschwächt war, dass er den Karren nicht mehr ziehen konnte. Die Deichsel klatschte zu Boden und er durchfurchte mit der Hand seine schulterlangen braunen Haare. Keuchend schaute er sich um. Was soll ich hier? Hier werde ich nichts verkaufen. Die Gegend ist zu arm. Ich muss zurück. Doch er war gleich einem Schwimmer, welcher seine Kräfte überschätzt hatte und zu weit vom Ufer weggeschwommen war, nicht mehr in der Lage umzukehren. Es gab kein Zurück; er war am Ende. Er wehrte sich zwar, aber unaufhaltsam knickten seine Beine unter ihm weg. Er vollbrachte es gerade noch, sich mit dem Rücken an den Wagen zu lehnen.

      Was hatte er nur falsch gemacht im Leben, dass er nun in dieser schmutzigen Gosse sitzen musste? Er wusste es nicht. Warum wurde er derart gestraft? Oder war es nur ein Mangel an Barmherzigkeit; kümmerte sich Gott nicht um ihn; war es ihm gleich, ob er hier elendig zugrunde ging? Er hatte sich alles einmal völlig anders erträumt, damals, als er noch auf der Höhe seiner Kräfte und Lebensfreude gestanden hatte, als Magda noch bei ihm gewesen war. Jetzt war er am Ende. — Doch nein! Er durfte nicht einfach aufgeben, er musste ... Aber er konnte sich nicht mehr erheben. Sein Leib war so schwer, alles war so schwer ... Er wollte so gerne einfach nur schlafen, sich einmal ausruhen; endlich. Mit einem Mal schien ihm der Gedanke, hier liegen zu bleiben, nicht mehr so erschreckend. Selbst an den Wind gewöhnte er sich mehr und mehr, als habe dieser erkannt, dass Philipp seinen aussichtslosen Kampf endlich aufgegeben hatte. Er hatte niemals wegen des Todes seiner Frau geweint. Erst hatte ihm die Not keine Zeit gelassen — er musste stark sein für seine Kinder — und jetzt war er dafür zu entkräftet. Wie könnte Magdalena ihm nur vergeben, wenn ... ?

      Ein Stich schoss durch sein Bewusstsein. Was war, wenn Gott ihn verstieß, weil er sich nicht genug gemüht, nicht aufopfernd genug gekämpft hatte? Kein Priester würde ihm das letzte Sakrament spenden. Würde er Magda jemals auf der anderen Seite wiedersehen? Herrgott, du musst doch gesehen haben, dass ich alles tat, was in meiner Macht stand. Ich bin nun mal kein Hiob, der jedwede Unbill des Lebens erträgt. Mich hat sie gebrochen. Magda, du musst es doch auch wissen. Ich gab mein Bestes. Bitte ... !

      Was sollte er flehen? Sinnlos — er war selbst dazu zu schwach. Eine Woge kribbelte langsam von seinen Füßen und Händen zu seinem Rumpf empor. Wo sie ankam, verströmte sie ein kurzes Gefühl von Wärme und hinterließ letztlich nur köstliche Taubheit. — Einfach nichts mehr empfinden, keine Trauer, keine Angst, keinen Schmerz. Ja! Wie süß wäre dies. Er wünschte sich, endlich Ruhe zu finden; einfach nur Ruhe. Er wusste, was es bedeutete, wenn die Woge seine Brust erreichte, aber es war ihm gleich und so gab er sich ihr hin. Sie versprach ihm den Frieden, den er so begehrte. Seine Hände und Unterschenkel nahm er nicht mehr wahr — wie wundervoll. Er schloss die Augen. Bald würde er auch keinerlei Kraft mehr für das Atmen verschwenden; dann wäre er erlöst. So ließ er sich auf einem schwarzen Wasser dahintreiben, um den scharfen Kanten der Welt zu entfliehen. Kleine Wellen streichelten über seine Glieder und benetzten diese. Ganz allmählich sank er in die dunkle Flüssigkeit ein, verlor den Sinn für die Konturen seiner Umgebung, die zunehmend von Dunkelheit überlagert wurde. Bald würde er Erlösung finden, bald ...

      Da war das Klatschen bloßer Füße auf dem Boden. Die Schritte näherten sich und blieben dicht bei ihm stehen. Philipps Mundwinkel beschrieben ein zaghaftes Lächeln. Da sind sie also schon wegen meiner Sachen — die Aasgeier. Nur zu! Nehmt, was ihr kriegen könnt, aber lasst mir meine Ruhe. Ich will nichts mehr spüren. Eine Stimme drang an seine Ohren, aber er war schon zu tief hinabgesunken; das schwarze Wasser verwischte die Worte. Auf einmal merkte er, dass sich zwei Hände auf seine Wangen legten und sanft seinen Kopf rüttelten. Lass’ mich in Ruhe! Bestiehl mich, aber nimm deine Hände von mir! Doch die Hände ließen nicht ab von ihm, sondern klatschten auf seine Wangen. Da öffnete er seine Lider einen Spalt und sah ein Gesicht vor sich. Ein Junge! Gerade mal zwölf. Er hätte sich wenigstens waschen können. Meint er etwa, das kleine Lederband könne seine schwarze Mähne bändigen? Die Haare haben wohl noch niemals einen Kamm kennengelernt. Mein Gott, das soll das letzte Geschöpf sein, das ich in diesem Leben sehe? Er wollte wieder entgleiten, um gänzlich abzutauchen, aber etwas an den braunen Augen des Jungen hielt seine Lider offen, verhinderte, dass Philipp seinen Kopf wegdrehte. Was war es? Die Augen schienen weich, beinahe anschmiegsam. Er bemerkte tastende Blicke auf sich und auch ... in sich — liebkosend. Was ist das? Einen Moment lang verspürte Philipp Furcht. Ich kann nichts vor ihm verbergen. Alles in mir liegt vor ihm ausgebreitet. Was denkt er von mir? Was sieht er? Schließlich ergab er sich diesen Augen und plötzlich kam es ihm vor, als wäre er kurz vor dem Ersticken aus einem See aufgetaucht. Er tat einen berstenden Atemzug. Sein Rumpf war wie ein Triumphbogen gen Himmel gewölbt; sein hämmerndes Herz sandte gewaltige Stöße durch seinen Körper, verscheuchte die Taubheitswelle und brachte seine Arme und Beine dazu, vor Leben zu brennen. Warmes Licht; Licht — wo kam auf einmal dieses Licht her? Alles war anders, heller und milder.

      Er setzte sich auf und betrachtete den Jungen. „Wie hältst du es im Winter mit dem dünnen Leinenhemd und den zu kurzen Hosen aus? Schuhe hast du auch keine. Das geht doch nicht!“

      Der Junge hob erstaunt die Augenbrauen, legte den Kopf schräg und zeigte ein alabasternes Grinsen.

      Warum frage ich ausgerechnet jetzt nach seiner Kleidung? Philipp strich sich über die Stirn. „Was hast du mit mir gemacht? Wie hast du ... ?“ Er kreiste vor sich unsicher mit offenen Händen.

      Aber der Junge verstand. „Ich habe gesehen, dass es dir nicht gut ging. Da wollte ich dir helfen.“

      „Aber was hast du mit mir getan?“

      „Trauer hatte dich wie eine Schlingpflanze überwuchert und dich beinahe erstickt. Ich habe die Ranken weggerissen, dass wieder Licht an dich kam.“

      Philipp nickte, als ob er verstünde. Ein Teil von ihm tat es zwar, aber sein Verstand war völlig verwirrt. „Wie hast du das vollbracht? Warum kannst du so etwas?“

      Der Junge streckte die offenen Handflächen von sich und hob beinahe entschuldigend die Schultern.

      „Ich weiß es nicht. Ich habe es einfach gemacht.“

      „Hast du dies schon öfters getan?“

      „Hmm, einige Male.“

      „Vermagst du dies bei jedem zu vollbringen?“

      „Nein. Nicht jeder kann dein Freund sein, so kann ich auch nicht jedem helfen … leider!“

      „Aber ... aber, die Art, mit der du mich zu Anfang betrachtetest, ist dies bei allen möglich?“

      Der Junge ließ den Atem hinausströmen. „Ja, ich kann in jeden hineinblicken, aber ich tue es nur selten, am besten nur in


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