Kerker aus Licht und Schatten. Marco Mukrasch

Kerker aus Licht und Schatten - Marco Mukrasch


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verstand Philipp. Ja, ich fühlte mich vor ihm entblößt, aber erkannte, dass er mir half. „Wie ist überhaupt dein Name?“

      „Ich heiße Jeremias.“

      „Wo wohnst du?“

      „Im Waisenhaus, östlich von der Stadt, nicht weit von hier. Ich kam gerade von der Arbeit bei einem Bauern.“

      Philipp wusste einige Atemzüge lang nicht, was er sagen sollte.

      Da ergriff Jeremias erneut das Wort: „Es tut mir sehr leid, dass deine Frau nicht mehr lebt. Aber du würdest ihr keinen Gefallen tun, wenn du dich wegen dieser Tücher auf deinem Karren zermürbst.“

      „Woher weißt du ... ?“ Doch Jeremias musste nichts sagen. „Aber ich habe keine Wahl, als möglichst viel von den Tuchen zu verkaufen, sonst ... “

      „ ... sonst bekommst du keine Anstellung bei Meister Brückfeld, bleibst mittellos und kannst die Aussteuer für deine Töchter nicht bezahlen.“

      Eine sanfte Faust bohrte sich in Philipps Magengrube. Der Junge wusste einfach alles. „Kennst du Meister Brückfeld?“

      „Zweimal sah ich ihn bei den Messen. Er ist stets am buntesten gekleidet.“

      „Morgen werde ich vor seinem Buchhalter Lösser mit leeren Händen dastehen. Ich habe noch nichts verkauft und bald ist tiefe Nacht.“

      Jeremias schürzte erstaunt die Lippen. „Aber noch ist doch genug Zeit.“

      „Zeit?“ Philipp schüttelte den Kopf. „Ich laufe bereits seit Stunden durch die Stadt. Kein Fetzen ging weg.“

      „Du hast es einfach nur falsch angepackt, das ist alles.“

      „Ach, ich habe es falsch angepackt, ja? Seit frühester Jugend bin ich Händler. Und nun kommst du ... ohne Erfahrung in meinem Metier ... “ Er verschränkte die Arme vor der Brust.

      Jeremias grinste und ging zu dem Wagen. „Ich kenne einige Leute hier. Komm’ einfach mit.“

      „Nein, Junge, der Wagen ist doch viel zu schwer für dich. Ich werde ihn ziehen, dann kannst du ... “

      Doch Jeremias warf sich gegen die Deichsel, krallte sich mit seinen Zehen in den erdigen Untergrund und alsbald löste sich das Gefährt mit einem schmatzenden Geräusch. „Ich weiß, wo du am besten etwas verkaufen kannst. Folge mir einfach.“

      Nun erlebte Philipp sprachlos, was der Junge meinte. Jeremias kannte viele der Frankfurter Bürger und diese waren ihm wohlgesonnen. Kaum hatte er an eine Tür geklopft, begann er ein munteres Gespräch und hatte bald etwas von den Tuchen verkauft. Nachbarn kamen herbei, der Wagen leerte sich — noch vor Mitternacht war alles verkauft. Philipp konnte es nicht glauben. Die an ihn gestellten Erwartungen waren mehr als erfüllt. Das erste Mal seit Monaten vernahm er so etwas wie Zuversicht; ein fremd anmutender Geschmack auf seiner Seelenzunge.

      Kapitel 2: Die Prüfung

      Noch bevor die Sonne aufging, holte Philipp — zur nicht geringen Überraschung der Leiterin — Jeremias aus dem Waisenhaus. Er eilte sich geeignete Kleidung für den Jungen zu finden und ging daraufhin zusammen mit ihm ins Kontor zu Herrn Lösser, der wie stets sehr beschäftigt war. Als sich endlich der rechte Moment bot, trat Philipp vor den Buchhalter hin und reichte ihm mit einigem Stolz den am vorigen Abend erwirtschafteten Erlös. Philipp blinzelte, als Herr Lösser ungerührt das Geld einstrich und seine kleinen Dolchaugen, die durch Gläser unnatürlich verzerrt wurden, auf Jeremias richtete.

      „Was soll der Knabe hier?“

      „Er soll mein Lehrjunge sein.“

      „Wozu braucht Ihr schon einen Lehrjungen? Ihr solltet lieber erst selbst festen Boden unter die Füße bekommen.“

      Philipp verneigte sich leicht. „Mit Verlaub. Ich bin mir sicher, dass dieser Junge, Jeremias ist sein Name, dem Hause Brückfeld und auch meiner Wenigkeit gute Dienste erweisen wird. Er kann gut mit Leuten umgehen, kennt die Stadt und hat einen schnellen Verstand.“

      „Den wird er auch brauchen!“ Der Ton war scharf wie Kalk auf der Zunge. Herr Lösser kratzte sich mit der Schreibfeder auf seiner Glatze. „Dann kommt mit. Vielleicht gewährt Euch Meister Brückfeld eine Audienz. Achtet auf Eure Haltung, kann ich Euch nur raten. Der Meister schätzt es nicht, mangelndem Respekt in Form von Schlaffheit zu begegnen.“

      „Selbstverständlich!“

      Philipp wandte sich zu Jeremias, der heftig nickte. Dem Jungen war in seiner neuen Kleidung nicht wohl. Sie kniff und juckte. Außerdem war er nicht an Schuhe gewöhnt und fühlte sich beim Gehen unsicher.

      Herr Lösser schloss eine Tür auf, die zu der Beletage führte, welche der Familie Brückfeld vorbehalten war. Er führte sie in die große Empfangshalle. Der weite, mit Fresken und Schnitzereien verzierte Raum erinnerte Jeremias an ein Blätterdach im Wald, da das Sonnenlicht durch grüne Fenster fiel. Der Buchhalter führte sie an das Kopfende des Saales, wo Jeremias Meister Brückfeld erkannte, der in einem mit bunten Ornamenten versehenen Stuhl thronte. Jeremias war beeindruckt von der Körperfülle des Kaufmanns, die noch durch wallende Gewänder aus Samt aufgebläht wurde. An den Fingern, die an Schweinepenisse denken ließen, trug Brückfeld edelsteinbesetzte Ringe, wie farbenfrohe Geschwüre.

      „Meister Brückfeld“, sagte Herr Lösser, „erinnert Ihr Euch noch an den niederländischen Kaufmann Jansen, der wünschte, in Eure Dienste zu treten?“

      „Möglich!“

      „Wie vortrefflich. Nun, um Eure werte Zeit zu schonen: Herr Jansen hat die Menge an Geld, die Ihr verlangtet, verdient. Ich denke, dass wir ihn ein Jahr auf Probe einstellen können.“

      Philipp und Jeremias verneigten sich tief. Jeremias erkannte keine Regung auf Brückfelds Zügen. Konnten die Gesichtsmuskeln den Antlitzbrei nicht bewegen?

      Brückfelds Penisfinger strichen nachdenklich durch den Bart. „Nun denn, setzt einen Vertrag mit ihm auf, Lösser. Salär wie üblich. Aber was will der kleine Straßenköter an seiner Seite in meinem Haus?“

      Der Buchhalter wandte sich mit strenger Miene zu Philipp und bedeutete ihm selbst zu antworten.

      Der Niederländer reckte sich: „Mit Verlaub, ähm ... verehrter Meister. Der Name des Jungen ist Jeremias. Er ist Waise und ich traf ihn gestern. Ich war sehr angetan davon, wie er mir zur Hand ging und ich ... ja, ich bin davon überzeugt, dass er uns allen gute Dienste leisten wird.“

      Jeremias schaute, wie Philipp es ihm geraten hatte, demütig zu Boden und hielt die Luft an, während seine Hände sich zusammenballten. Brückfelds Stimme traf ihn wie eine Ohrfeige.

      „Es interessiert mich nicht, wovon Ihr überzeugt seid, Jansen. Und auch nicht, warum Ihr diesen Streuner aufnahmt. Den habt Ihr wohl erst heute Morgen entlaust und in diese lächerlich zu kleinen Klamotten gesteckt.“

      Philipp wankte einen Schritt zurück und sog zischend die Luft ein. „Gewiss ... gewiss, Meister, Ihr ... habt vollkommen recht, wenn Ihr Euch noch etwas Bedenkzeit ... “

      „Kann er lesen oder schreiben oder rechnen?“

      Philipps Augen zuckten zu Jeremias und nahmen einen traurigen Ausdruck an, als der Junge nur zögerlich seinen Kopf schüttelte.

      Brückfelds Gesichtsfett verzog sich hämisch, er lachte. „Ha, das ist ja wohl ... “

      „Papa? Papa!“

      Der Kaufmann verstummte und sein Kopf schwenkte zu einer Tür, durch die ein Mädchen mit einer älteren Dame hinter sich hereingeschritten kam. Jeremias war verwundert, weil sich das Kosewort für Vater bei Brückfelds Tochter anhörte, als hätte ein kleiner Vogel beide Silben in einem trillernden Staccato gezwitschert. Die Laute schienen aus ihrem Mund hervorzublitzen.

      „Papa, ich habe mit Louise ein neues Stück einstudiert. Du musst es dir sogleich anhören. Kommst du? D’accord?“


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