Kerker aus Licht und Schatten. Marco Mukrasch

Kerker aus Licht und Schatten - Marco Mukrasch


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durchstachen schnelle Flötentöne den Raum. Als auch noch die Zofe einstimmte, war die Luft derart durchtränkt von Musik, dass Jeremias das Atmen schwerfiel.

      Philipp räusperte sich. „Mit Verlaub, Meister Brückfeld. Ist dies denn unbedingt notwendig, wenn Jeremias nun etwas Ruhe benötigt, um ... ?“

      „Sicher ist es vonnöten. Bei einer Messe ist es auch nicht klosterstill. Er muss zeigen, dass er dem Handwerk eines Kaufmannes auch in dieser Lage gewachsen ist. Er sollte lieber anfangen. Der Sand wartet nicht auf ihn.“

      Jeremias vertiefte sich in das Geschriebene, kämpfte darum, die Arme unter den Pulshieben ruhig zu halten. Die Schrift war verschnörkelt und an vielen Stellen undeutlich. Er musste einige Zeilen mehrmals wiederholen. Die Musik zwickte seine Augen, verwischte alles vor ihm. Was bedeutet dieses Wort? Noch nie gehört. Ist kein Deutsch. Jene Zahl war verschmiert. Eine Acht? Das Ergebnis stimmte nicht. Hatte er sich verrechnet oder der Urheber des Schreibens? Er musste es noch einmal nachprüfen. Das nächste Dokument. Hier war die Schrift noch schlimmer. Einige Passagen vermochte er nur zu erahnen. Was war die Botschaft? Die Flöte schnitt in sein Gehirn und der Gesang klatschte an seine Wangen. Das Kichern des Sandes blieb vernehmbar. Bald war bereits die Hälfte der Zeit abgelaufen, doch der größte Teil der Papiere war noch ungelesen. Die nächste Korrespondenz: die Zahlen schienen zu stimmen, Aussage klar; weiterer Bogen, mürbes Papier, Tinte nass geworden und ausgewaschen; ein Stapel war verschnürt, Knoten gemein, Blätter ungeordnet. Kalte Fäden flossen Jeremias Rücken hinunter. Da zerschlug die Flöte seine Konzentration und er zuckte zusammen. Judith war bei ihm und pfiff direkt in seine Ohren. Sie tanzte wie ein Irrwisch und wirbelte gar einige Seiten auf. Dieses verdammte Biest. Das bereitet ihr wohl Freude. Allein mit ihr würde ich diese vermaledeite Flöte über dem Knie zerbrechen und vor ihr im Kamin verheizen. Es nützte nichts, er musste sich sammeln. Weiter, weiter, nicht auf das Sandflüstern hören, nächstes Dokument, Schrift besser, Rechenfehler auf der vierten Seite, merken. Wo kam der zweite Teilhaber her? Erklärung in der Folgekorrespondenz suchen. Der Sand feixte bereits. Wie viele Blätter waren es noch? Dieses Blatt hier kenne ich. Ist es eine Abschrift des vierten? Ja, es gleicht ihm. Nein! Hier ist noch eine zusätzliche Notiz. Oh mein Gott, dies ändert alles. Ich muss noch einmal zurück ...

      Die Musik verstummte und lautes Klatschen erscholl.

      „Das war fabulös, meine kleine Dütschess“, johlte Brückfeld. „Ausgezeichnet. Hier klingt es noch besser als in deinem Gemach.“ Er streichelte seine Tochter und küsste sie.

      Der stille Sand grinste Jeremias an. Die Zeit war um.

      Herr Lösser kratzte sich die faltige Stirn. „Dann wollen wir doch einmal sehen, was der Knabe uns zu erzählen hat. Zeige er uns, ob im Kontor richtig gerechnet wurde.“

      Jeremias benötigte einige Zeit, um die Seiten aufzulesen. Er trat vor. Wie passte diese Notiz zu dem Gesamten? Diese kleine unauffällige Randbemerkung. Fünf Augenpaare tasteten ihn ab — nur eines war ihm wohlgesonnen.

      „Es handelt sich um die Korrespondenz mit Kaufleuten aus Nürnberg und Lübeck. Wir haben ... “

      „Sage er uns doch, wie man nach Nürnberg und Lübeck reist. Welche Städte, Gebirge und Flüsse passiert man?“

      Jeremias sagte alles auf.

      „Welche Nebenflüsse haben Rhein und Donau?“, fragte Lösser. „Welche sind schiffbar? Was sind unsere wichtigsten Handelspartner in den Regionen? Welche Waren führen sie?“

      Jeremias gab sich keine Blöße.

      Herr Lössers Miene quetschte sich zusammen. Seine dürren Finger deuteten fordernd auf die Dokumente.

      „Jetzt soll er uns einmal aufrechnen, ob alles stimmt. Ein Kaufmann muss vor allem rechnen können.“

      Jeremias suchte die Seiten, auf denen ein Rechenfehler war. Was bedeutet nur diese Randbemerkung im letzten Schreiben? Er war so dicht davor. „An dieser Stelle ist mir aufgefallen, dass der fünfte Betrag nicht mitgerechnet wurde. Wir haben den Nürnbergern einen halben Gulden zu wenig entrichtet.“

      Der Buchhalter stockte. Vielleicht hätte er sich zu einem lobenden Nicken herabgelassen, aber Meister Brückfeld blaffte los: „Was willst du werden, Junge, Erbsenzähler? Ein halber Gulden, lächerlich. Außerdem haben wir den auf unserer Habenseite. Ein Händler weiß dies einzuschätzen. Was kümmert uns das? Du hast nur unsere Zeit vertrödelt.“ Er warf den Kopf in den Specknacken und lachte los.

      Philipp wollte einen Schritt nach vorne machen, doch der Meister machte eine flapsige Handbewegung. „Geh’ zurück in deine Gosse und ernähre dich von dem, was Leute wie ich dir zuwerfen.“

      Jeremias’ Hals war geschwollen. Jeder Sprung des Adamsapfels schmerzte. Das sollte es wirklich gewesen sein? Alles vorbei? Er blickte Judith nicht an. Er ertrug es nicht. Schleppend wandte er sich ab ... da war es! Die Randnotiz! Er wusste es. „Wenn Ihr erlaubt, Meister Brückfeld, so wäre es mir eine Freude Euch zu zeigen, wo Euer Haus Anderthalbtausend Gulden jedes Jahr bei den Lübeckern liegen lässt.“

      Lösser schniefte abwertend. „Das hätte ich doch wohl gesehen. Eine solche Summe geht nicht einfach verloren.“

      Jeremias entfaltete das Papier mit der Randbemerkung. „Es ist Euch wahrscheinlich nicht aufgefallen, weil Ihr nur das Duplikat ohne diese Notiz in Augenschein nahmt.“

      Brückfeld verzog das Gesicht. „Was soll dies für eine Notiz sein?“

      „Sie besagt, dass die Hanse in Lübeck uns gewisse zugesicherte Leistungen noch nicht erbringen konnte, da sie nicht genügend Schiffe und Lagerplatz dafür hat.“

      „Schön! Und was soll das ändern?“

      „Dies führt dazu, dass die Miete, die Ihr bezahlt, zu hoch angesetzt ist. Ebenso ging Euch eine Kaution über all die Jahre verloren, die Ihr nicht gewinnbringend einsetzen konntet. Der Schaden beläuft sich über die letzten fünf Jahre hinweg auf fast achttausend Gulden.“

      „Das kann nicht sein. Was für ein Unsinn! Lösser, zeigt diesem Gernegroß, dass er nur spinnt.“

      Der Buchhalter rechnete, wendete Seite um Seite, machte sich Notizen. Zögerte … Ein blitzender Schweißtropfen rollte seine Glatze hinab.

      „Lösser, nun sagt doch endlich, dass alles richtig ist.“

      Doch der andere atmete einige Sekunden aus, nahm seine Augengläser von der Nase und legte sie auf den Tisch.

      „Meister ... ich ... ich fürchte, der Junge hat recht. Die Lübecker haben uns nicht darauf hingewiesen, dass wir ihnen zu viel zahlen. Es handelt sich um eine hohe Summe.“

       Die Lübecker wussten dies eben einzuordnen.

      Brückfelds Mund arbeitete, doch Lösser nickte energisch. „Ich rate dazu, diesen Knaben einzustellen. Er lernt schnell und scheint unser Gewerbe zu erfassen.“

      Brückfelds Pranken klatschten auf den Tisch. „Gut, so sei es. Stellt ihn auf Probe ein. Salär wie gewohnt. Aber wehe, mir kommen Klagen zu Ohren.“

      Jeremias verneigte sich und sah zu Judith. Sie begegnete seinem Blick. Jeremias erkannte ihren Ausdruck; es war der Ausdruck, den Frauen häufig zur Schau stellten, Frauen, die auf einem Markt prüften, ob eine Frucht bereits reif war.

      Kapitel 3: Das Schoßlos

       April 1494. Die Welt hatte sich verändert. Die Herrscher von Kastilien und Aragon hatten ihre Ländereien zu einem spanischen Königreich der Christen vereint. Spanische Schiffe waren es auch gewesen, die die Neue Welt im Westen entdeckt hatten. Ein Weltreich war entstanden.

      „Dies war wahrlich einer der besten Tage, die ich jemals in meiner Karriere genießen konnte.“ Philipp atmete tief ein, als wollte er die Luft dieses prächtigen Frühlingstages auf ewig in seinen Lungen bannen. Er schmunzelte dem hoch aufgewachsenen jungen Mann wohlwollend zu, der neben ihm ritt. Sie hatten soeben ihre Handelspartner


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