Kerker aus Licht und Schatten. Marco Mukrasch

Kerker aus Licht und Schatten - Marco Mukrasch


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können alle dennoch auf mich herabglotzen und mich gering schätzen? Nur weil ich eine Waise bin? Weil ich arm geboren wurde?“

      Der Tisch drohte unter Jeremias Händen zu bersten.

      „Bitte beruhige dich doch. Wir haben bereits so viel gemeinsam erreicht. Es wird sich schon fügen, wenn ... “

      „Ach, was soll sich denn fügen? Was hat sich in den letzten Jahren gefügt? Sieh’ dich doch einmal um. Nützte mir meine gute Kleidung heute etwas?“

      „Aber vielleicht müssen wir uns auch manchmal mit dem bescheiden, was uns zuteilwurde. Gott verlangt Demut.“

      „Oh ja, mit allem muss man sich zufriedengeben. Ja gewiss … gewiss. Die Welt ist eben so. Ja, das sagst du laufend. Man muss sich mit allem abfinden, alles hinnehmen und alles ertragen. Nein ... mit einer solchen Haltung kann man die Welt niemals verändern.“

      Philipps Flüstern wurde eindringlicher: „Was willst du die Welt verändern? Es ist nun einmal die von Gott bestimmte Ordnung. Es gibt solche die herrschen und solche die gehorchen müssen. Selbst Kaiser und Papst müssen dem Herrn dienen. Jedermann kann nur auf die Gnade und Gerechtigkeit Gottes hoffen.“

      Die Knöchel von Jeremias’ Fingern blitzten weiß auf. „Ha, Gerechtigkeit! Was für eine Gerechtigkeit denn? Das Los eines Menschen wird nicht durch dessen Güte bestimmt, sondern aus welcher Frau er als Säugling hervor kroch, aus wessen Schoß.“

      „Jeremias!“

      „Wo siehst du denn Gerechtigkeit? Sollten wir Menschen von Geburt an nicht dieselben Möglichkeiten besitzen und uns durch unsere Taten bewähren? Wo findest du dies?“

      „Aber ... aber ... Gott ... “

      „Ja, Gott! Wo ist Gott? Wo war ... “ Er hielt inne, denn er war an eine gefährliche Schwelle getreten. Wohl war auch Philipps Gottvertrauen erschüttert worden, aber noch immer benötigte dieser seinen Glauben als wichtige Stütze im Leben. Keinen Menschen wollte Jeremias verletzen — aber seinem Ziehvater wehzutun, dies wäre eine Sünde gewesen. Er atmete einige Mal tief ein, lockerte seinen Griff um den Tisch. Er wusste, dass Tränen in den Augen seines Mentors lauerten. Er beneidete Philipp um dessen Genügsamkeit. Könnte auch er so glücklicher sein? Jeremias lächelte, sachte ergriff er einen Arm von Philipp, der den freundlichen Ausdruck erwiderte. Ich liebe dich so sehr, Philipp. Ich will dir keine weitere Wunde zufügen. Niemals.

      Sie umarmten sich und blieben miteinander verbunden im Raum stehen. Noch immer war es für Jeremias ungewohnt, dass ihm der Ältere, zu dem er einst hatte aufschauen müssen, gerade noch an die Schulter reichte. Einige Minuten dauerte es, bis sie sich voneinander lösten.

      Es fiel Philipp nicht leicht, Worte zu finden. „Ich wünschte es dir doch auch von Herzen, dass du die Anerkennung bekämest, welche du verdienst.“

      „Warum können wir uns keinen anderen Dienstherrn suchen?“

      Philipp erschrak. „Nein, Jeremias. Das wage ich nicht. Ich verlor bereits einmal alles. Dies überlebte ich kaum. Denk’ daran, was mit Luding und Winkler geschah, als sie aus Meister Brückfelds Diensten traten.“

      Jeremias seufzte. Jeder kannte diese Geschichte: zwei erfolgreiche Kaufleute, die sich selbstständig machen wollten. Wegen Brückfelds Rachsucht stürzten sie ins Elend. Sie verendeten in der Leibeigenschaft.

      Philipp schüttelte den Kopf: „Der Meister ist zu mächtig und er vergibt niemandem, der sich von ihm lösen will.“

      „Das heißt, wir können hier nicht weg? Wir sind an ihn gebunden?“

      „Wenn wir keine Not leiden wollen, müssen wir uns fügen.“

      Jeremias keuchte leise. Sich fügen, solide sein, sich bescheiden — dies waren die Werte in dieser Welt. Täte er etwas wider diesen bürgerlichen Katechismus, fiele es auf Philipp zurück. Er merkte, dass das Blut allmählich erneut begann überzukochen, doch er musste Philipp schonen. So stellte er seine Schuhe in die Ecke, zog sein Hemd aus und eine ältere Hose an.

      Philipp beobachtete ihn unruhig. „Was hast du vor?“

      „Ich werde versuchen meine Unruhe mit dem zu kühlen, was in unserer Zunft am meisten geschätzt wird: mit Arbeit. Vielleicht hat der Lagervorarbeiter etwas für mich.“

      Erst wollte Philipp ihn zurückhalten, erkannte aber, dass es besser war in dieser Sache nachzugeben.

      Der Jüngling lief mit wallendem Haar zum neuen Lagerhaus gegenüber dem roten Sandsteinhaus der Brückfelds, das mit seinen Türmchen und Erkern wie ein kleines Schloss dalag. Sogleich entdeckte er den Vorarbeiter und lief zu diesem. „Sag’, hast du Arbeit für mich?“

      Der Vorarbeiter blinzelte erstaunt. „Für dich? Du kommst wie gerufen. Ich habe nur zwei Männer, welche die Arbeit von fünfen erledigen müssen.“

      „Wo sind die anderen?“

      „Der Meister hat sie für die Bauarbeiten an seinem Haus abgezogen.“

      Jeremias schaute zur Südseite des Hauses, die dem Meister und seiner Tochter vorbehalten war. „Wird neu hergerichtet, oder?“, fragte er.

      „Ja genau. Oben auf dem Dach haben sie schon einiges an Ziegeln heraufgeschafft. Dafür brauchte der Meister meine Männer. Wir können deine Hände gut gebrauchen.“

      „Sag’ den anderen, dass sie sich ein Stündchen ausruhen können, damit ich freie Bahn habe.“

      „Freie Bahn? Was meinst du?“

      Doch dies verstand der Vorarbeiter sogleich. Jeremias rannte zu den beladenen Wagen, lud sich mehr auf die Schultern, als zwei Männer hätten tragen können, und lief damit ins Lagerhaus. Im Gegensatz zum alten Lager musste er die Ware über eine Holztreppe hinauf in den Dachspeicher bringen — kein verhasster enger Keller.

      Die Männer rauchten ihre Pfeifen und sahen zu, wie der Neuankömmling geschwind Säcke und Kisten ergriff, wie sich seine jungen Muskeln hervorwölbten, tiefe Furchen bildeten, und bald mit einer glänzenden Schweißschicht überzogen waren. Jeremias wollte den Zorn aus seinem Körper herausschuften. Seine Glieder sollten schreien, wenn er es nicht durfte. Er wollte nicht nur seine Grenzen erreichen, sondern sich an ihnen wund scheuern, um wenigstens für den heutigen Abend Ruhe zu finden.

      Er erreichte sein Ziel. Als er die letzten Kisten im Speicher abgestellt hatte, kehrte er schnaufend auf die Straße zurück und setzte sich zu den anderen, die ihm lachend auf die Schulter klatschten. Sie hatten einen Krug Bier für ihn.

      Da deutete einer zum Haus: „Seht mal, da kommt der Meister mit seiner Tochter.“

      Wegen der Bauarbeiten mussten die beiden den Ausgang auf dieser Hausseite benutzen. Jeremias wollte den Meister und dessen hochnäsige Göre, die hinter ihm ging, nicht sehen. Erst ein unheilvolles Scharren und der Ruf eines Arbeiters auf dem Dach ließen ihn emporsehen und verstehen. Er ließ den Bierkrug fallen und preschte los.

      Das junge Fräulein Brückfeld war es nicht gewohnt, diesen Ausgang zu nehmen, der sonst von den Bediensteten genutzt wurde. Diese glanzlose Pforte war ihr peinlich. Zum Glück sah niemand außer einigen Arbeitern, dass sie diesen nicht gerade schmeichelhaften Weg beschreiten musste. Mon dieu, es wäre nicht auszudenken, wenn dies jemand aus den höheren Familien mitbekäme. All das heimliche lästernde Gerede, stichelnde Bemerkungen — darauf konnte sie verzichten. Es war nicht immer leicht, das hohe Ansehen ihrer Familie zu wahren. Die Kutsche für sie und ihren Vater würde hoffentlich bald erscheinen. Plötzlich gewahrte sie ein seltsames Geräusch über sich. Dann ein Schrei. Immer diese lauten Arbeiter. Es ist ein Gräuel. Da wandte sie den Kopf nach oben: Direkt über ihr kippte ein Trog mit Ziegelsteinen um; alles schien zu erstarren — die Steine hingen in der Luft, ihr Herz stockte, alle Muskeln waren gelähmt; die Ziegel würden sie zermalmen. Sie wollte schreien, doch blitzschnell zerrte sie etwas mit sich, sank mit ihr zu Boden. Dicht neben ihr krachten die Steine herab.

      Zuerst wusste sie nicht, wohin sie sich wenden sollte. Überall aufgewirbelter Staub. Sie musste


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