Memento mori. Klaus Schneider Erich

Memento mori - Klaus Schneider Erich


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Selbstzweifeln! Die Vergangenheit ist unwiederbringlich vorbei. Die Möglichkeiten der Zukunft, ihre tägliche Erneuerung und das alles tragende Prinzip der Hoffnung, forderte seine uneinge­schränkte Aufmerksamkeit.

      Ein tröstlicher, doch auch ein unbehaglicher Gedanke. Für einen Moment streckt sich sein Körper, sei­ne Stimmung hellt sich auf, um gleich darauf wieder auf das gewohnte Niveau abzusinken. Aus dem Radiogerät tönen noch immer die schmeichelnden Klänge der Ohrwürmer aus vergangener Zeit. Vergangenes drängt sich nun zögerlich, ohne verständlichen Zusammenhang, in sein Bewusst­sein, sinnloses, wirres Zeug. Seine Haltung wirkt angespannt, ablehnend. Unschlüssig seines zaghaf­ten Verlan­gens nach Erinnerung, legt sich nun wieder diese Zögerlichkeit über das Vorhaben. Wel­cher Teufel hat ihn da überhaupt geritten, in diesem Müllhaufen zu stochern?

      Die ersten, unterschwellig auftauchenden Bruchstücke der Vergan­genheit, scheinen nicht geeignet, seine Stimmung aufzuhellen. Vor allem der Anfang, der Beginn sei­nes Lebens, liegt wie stickige, ab­gestandene Luft über seiner Psyche. Versuche, dies zu ändern, brach er in der Vergangenheit, stets nach mäßigem Erfolg, immer wieder resignierend ab. Führte zu keinem verständlichen Ergebnis, brachte keine verwertbare Erkenntnis, nichts außer wei­teren Fragen. Schublade zu lassen, den Schlüssel herumdrehen und wegwerfen, ging bis vor kurzem ganz gut, bis vor kurzem...

      Wo sollte seine Erinnerung auch beginnen, wo begann die Entwicklung dessen, was ihn heute aus­macht? Sicher schon damals, als Embryo, und unterstellt man dieser frühen Lebensform eine Ah­nung, in was für einer Umgebung es bald leben würde, müsste es bereits ein Grausen vor den kom­menden Jahren verspürt haben. Es ist schon eine gewagte Annahme, keine Erinnerung, doch denk­bar. Bei solch unerfreulichen Gedanken hört er doch lieber, zum wiederholten Mal, einem Beitrag aus dem Radio über Marder, und die, meist untauglicher Ratschläge, diese Tiere vom Auto fernzu­halten, an.

      Solch banale Themen interessierten früher auch ihn , es war einmal… Fahrräder sind nun mal we­niger anfällig gegen Marderbiss, als ein Auto. Manchen Dingen kann man mit einer Portion Ironie durchaus positive Seiten abringen. Er überlegt, wie lange er ein Auto besaß, es waren 39 Jahre, ohne Unterbre­chung und bis vor kurzem noch eine undenkbare Vorstellung, kein Auto zu besitzen, nicht mobil zu sein. Nun, sie brachten ihm die Denk- und Lebbarkeit dieser Möglichkeit nahe und nah­men ihm sein Automobil weg. Sachlich eine richtige, vertretbare Entscheidung der finanzierenden Bank, ohne Moos nichts los! Menschlich gesehen aber doch eine sehr verwerfliche, herzlose Untat. Und das, gerade jetzt in seiner Lage, wo er auf eine Veränderung, eine neue Chance hofft, nur stol­zer Besitzer eines Fahrrades zu sein, keine sehr motivierende Perspektive. Doch was soll das Lamen­tieren, es ist wie es ist!

      Bilder aus der Vergangenheit klopfen an, verhalten, unaufdringlich, doch sich ihrer Wirkung be­wusst. Aus einer Mischung von Neugier und Frust öffnet er die Türe einen Spalt weit, einen Mo­ment abgelenkt durch die Klänge einer Operettenmelodie, er liebt diese Musik. Er öffnet die Türe weiter, denn wer A sagt… Verschwommen sieht er im Türrahmen einen jungen Mann stehen, opti­mistisch, voller Neu­gier, etwas unsicher, er mag so achtzehn Jahre alt sein. Der schaut ihn an, fra­gend, mit hellen, offenen Augen voll trotzigem Optimismus. Wortlos dreht er sich um und öffnet die Tür der Erinnerung. Er und er verschmelzen zu einer Person, der Symbiose aus Vergangenheit und Gegenwart.

      Die Prüfungsfahrt, der praktische Teil der Fahrprüfung, lief eigentlich ganz gut, er war überzeugt, oder besser, er hoffte, alles richtig gemacht zu haben. Selbstvertrauen lag nicht mit in seiner Wiege, auch zeigte sich sein bisheriger Lebensweg wenig geeignet, diesen Charakterzug zu formen. doch dieses Mal machte er alles richtig, fast alles, er wollte die Prüfungsfahrt nur zu schnell hinter sich bringen. Etwas zu schnell, bemerkte der schräg hinter ihm sitzende, ältere, Prüfer. Er sei ja ganz gut gefahren, nur viel zu schnell. Es überraschte ihn nur kurz, sein bisheriges Leben lehrte ihn, mit der­artigen Widrigkeiten klarzukommen. Widrigkeiten, Schwierigkeiten, Probleme, Pleiten, Pech und Pannen. Treue Begleiter, verlässlich und immer zur Stelle, wenn prägnante, entscheidende Ereignisse anstanden.

      Wieder einmal hatte er versagt! Nein, so wollte er es doch nicht sehen, und so auch nicht weiter er­zählen. Die unabänderliche Tatsache, dass er durchgefallen war, verpackte er gekonnt mit dem Um­stand, dass er ja zu schnell fuhr. Das zumindest stellt, bei einer gewissen Altersgruppe, fast schon eine heldenhafte Tat dar und danach sehnte er sich doch, etwas Großes zu tun, etwas Besonderes zu sein. So durch die Stadt rasen, das hat doch etwas Herausragendes an sich, oder nicht? Seinen Ge­danken wuchsen Flügel, sie trugen ihn in die höchsten Sphären seiner Sehnsüchte. Zügellos, jeden Bezug zur Realität verlierend, baute er so immer wieder neue Luftschlösser auf die Trümmer implo­dierter Illusionen. Er, der Gewinner, mutig, selbstsicher, souverän, erfolgreich. Diesmal war der An­lass für solche Spinnereien eben eine versaute Prüfung.

      Die Erinnerung beginnt unangenehme Züge anzunehmen, die Endlosschleife alter Melodien aus dem Rundfunkgerät führen ihn schnurstracks in eine Zeit, die ihn, wenn er sie nur gedanklich streift, frösteln lässt. Sein Gefühl warnt ihn, berechtigt, hat er diese Lebensphase doch abgeschlossen. Ab­geschlossen? Mühevoll überwunden beschriebe es besser. Wie lange brauchte er, seine zahlreichen Komplexe, das Resultat einer verkorksten Kindheit, zu verdrängen! Zu lange, wenn er sie denn über­haupt schon alle verdrängt hat.

      Die Kindheit, auf diese Erfahrung hätte er liebend gern verzichtet. Er spürt, irgendwo, tief in ihm liegen Erinnerungen, zu denen er nur schwer einen Zugang finden wird. Der lächelnde junge Mann, der ihn auf seinen ersten Schritten in die Vergangenheit begleitete, ist verschwunden. Existiert eine Dualität der Person nur in seiner Phantasie, dieses er und ich? Doch sie ist ihm gut vertraut, im Lau­fe seines Lebens entwickelte er eine Genialität, die es ihm ermöglichte in allerlei Rollen zu schlüpfen, sie ge­danklich zu leben, sie für sein diffuses Ego auszusaugen. Oft lebte er dabei mehr im „er“ als im „ich“. Kein Interesse an einer Psychographie! Sie kreiert doch nur ein unnützes, peinliches Psycho­gramm seiner Person. Eine objektive Bewertung wäre vielleicht nützlich, doch wenn es so etwas überhaupt gibt, ist das etwas für Menschen, die sie ertragen und in dieser Situation befand er sich überhaupt nicht.

      Wo ist der junge Mann geblieben? Der Gedanke lähmt ihn, drückt ihn auf sei­nen, etwas wackeli­gen Stuhl. Er zündet sich eine Pfeife an, Ablenkung für einige Minuten, er lauscht auf die Stimmen im Radio, das er inzwischen zu leise stellte. Es strengt ihn an, die Worte oder gar den Sinn zu verste­hen. Aus der Pfeife steigt dichter Qualm, er fächert ihn mit der Hand beiseite und starrt zum Fenster hin­aus. Der Wald sieht dunkel aus, es wird wohl regnen. Teilnahmslos fixiert er die Wolken Formation, erkennt in ihnen keine Gestalten oder Gesichter, wie sonst immer, wenn er das Spiel der Wolken be­trachtet. Mehr als triviale Eindrücke kann er nicht aufnehmen, nichts außer einem dumpfen Trüb­sinn findet Zugang in sein Bewusstsein.

      Was für ein Scheiß Leben musste er doch führen! Drohende Erinnerungen, machtvoll und ohne die Möglichkeit, sich derer zu verwei­gern, ziehen ihn in ihren Bann. Wie weit geht die Reise, funktio­niert der un­bewusste Schutz seiner Psyche noch? Ist doch egal, wer nichts riskiert, kann nichts ge­winnen. Eigentlich verabscheut er so dümmliche Weisheiten, wenn sie von anderen zum Besten ge­geben werden, bei sich macht er gern einmal eine Ausnahme. Er ist nicht wie die anderen, er ist et­was Be­sonderes, das fühlt er. Glücklich war er nicht immer darüber. Die widrige Seite dieses An­dersseins stand, zumindest in der Kindheit, immer düster im Vordergrund. Kindheit, die Bilder der Erinne­rung nehmen Konturen an, zuerst nur verschwommen und schemenhaft. Zögernd, etwas wi­derwillig, öffnet er sich, lässt die Bilder in ihrer Deutlichkeit zu und flüchtet sich dann rasch in die Dualität seiner Person. Er, der Akteur und er, sein Betrachter.

      Ein kleiner Junge steht verloren, etwas hilflos in einem Zimmer. Er ist nicht allein. Unheimliche Ge­stalten, Frauen mit ungepflegten, schütteren Haaren, strähnig, fettig, meist ergraut, bis zur Schul­ter reichend, bewegen sich gespenstisch leise in dem unangenehm riechenden Raum. Einem aus sei­ner Perspektive sehr hohen Raum. Die Kleidung der Frauen besteht aus langen, bis fast auf den Fußbo­den reichenden weiß- grauen Gewändern, einfach geschnitten, wie Säcke. Ihre Füße stecken, teilwei­se nackt, in schwarzen, klobigen Schuhen. Er fühlt sich unbehaglich. Ein natürliches Gefühl für Äs­thetik lässt in ihm ein starkes Gefühl von Abscheu und


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