Memento mori. Klaus Schneider Erich

Memento mori - Klaus Schneider Erich


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Lehrvertrag, problemloser könnte es wirklich nicht laufen. Hatte die Mutter einen Vertrag mit dem Teufel? Er fügte sich, was blieb ihm schon übrig?

      Der einhellige Tenor, verwandter oder bekannter Mitmenschen war, was für ein Glück er doch hät­te. Er konnte sich nicht erinnern, dass ihn jemand fragte, was mit seinen Wünschen, die er in sei­nem überschaubaren, intimen Umfeld schon andeutete, geschehen war. So ganz unwohl fühlte er sich in Folge dann doch nicht, die permanente, lauwarme Berieselung mit den Vorzügen „seiner Be­rufswahl“, zeigte Wirkung. Er drehte sich in den Wind und ließ sich treiben. Es war nun keine richti­ge Niederlage mehr, er wandelte all das, was geschehen war, gedanklich einfach zu einem Erfolg um. Das machte in der unabänderlichen Situation mehr Sinn. Er hatte ja eine Stellung, um die man ihn beneidete.

      Nun blendete er einfach alles aus, was dieses Gefühl des Erfolgs schmälern würde. Unbewusst be­griff er, dass alles eine Frage der Sichtweise ist. Vogelscheiße kann ja auch ein wertvoller Dünger sein, der tausende von Kilometer transportiert wird, um mit der richtigen Darstellung seiner Vorzü­ge teuer verkauft zu werden. Die Tatsache, dass Scheiße Scheiße bleibt, kann man getrost vernach­lässigen, wenn der Nutzen überwiegt. Er erfuhr nun eine gewisse Anerkennung, eine angenehme Er­fahrung. Es spielte nun letztendlich keine Rolle mehr, ob der Umstand willentlich herbeigeführt wurde oder nicht.

      Er hatte keine konkrete Vorstellung von dem, was er lernen sollte, was er da zu tun hatte, bei die­ser Behörde. Technisches Zeichnen, Vermessen, sie hatten ihm einiges erklärt, er sagte brav „ja“ und begriff wenig. Fragen wollte er nicht viel, es dauerte immer noch sehr lange, bis er eine passen­de, aussprechbare Frage formulieren konnte. So wurde das Meiste, ohne es verstanden zu haben, ab­genickt. Wahrscheinlich dachten die, was für ein verständiger, kluger Junge er doch sei.

      Er fühlte sich in einer Aufbruchsstimmung, das Ende der Kindheit deutete sich an. Weg aus der sti­ckigen Atmosphäre dieses dreitausend Seelen Dorfes, in das Leben der acht Kilometer entfernten Kreisstadt. Das war für ihn Zukunft, Hoffnung. Gefühle, überschwänglich, faszinierend neu, aufre­gend, ja fast euphorisch verdrängten die Resignation in seinen Empfindungen. Seine Fantasie trat über sämtliche Ufer der Realität. Was würde er alles erreichen können? Er sah sich schon auf höchs­ten Gipfeln gesellschaftlicher Stellung.

      Träumen war doch so schön und behaglich. Gleichzeitig ruh­te und agierte er in seinen Träumen, un­willig, sie grundlos zu verlassen. Das reale Leben, unterkühlt, konsequent in seinem Ablauf, ver­langte nach diesem Gegenpol. Das frostig kalte Leben ängstigte ihn, hatte er doch in der Vergangen­heit nicht viel Gelegenheit, diese Realität unbeschwert zu leben. Sie hat ihn höchstens gelehrt, Nie­derlagen zu akzeptieren und zu verarbeiten. Darin hatte er ein ge­wisses Talent entwickelt, aber sonst? In seinen Träumen dagegen konnte er die Wirklichkeit so for­men, dass sie seinen Wünschen entsprach. Gott, war das schön!

      Dummer Weise formte sich so ein Teil seiner Persönlichkeit in seiner Fantasie. Definiert er nun Per­sönlichkeit mit der Befähigung, das Leben auf Grund eigener Einsicht und Ent­scheidungen selbst­ständig zu bewältigen, so wird ihm das Absurde dieser Entwicklung erst richtig bewusst. Eine Per­sönlichkeit in der irrealen Welt von Himmelskuckucksheim geformt, soll im realen Leben beste­hen? Wie um alles in der Welt hat er es bis hier und heute geschafft? Es drängt ihn nicht weiter dar­über nachzudenken. Die Dimension dieser Aufgabe würde ein ernsthaftes Interesse und konsequen­tes Suchen nach einer Antwort voraussetzen. Zu mühevoll und zu riskant überlegt er und außerdem sollte man nur Fragen stellen, deren Beantwortung zu keinem ideellen Eklat führen, was hier kaum auszuschließen war.

      Er sitzt auf seinem Stuhl, seinen Oberkörper wiegend, den Kopf gesenkt, und fragt sich, ob er die Geister, die er rief, auch beherrsche, oder ob ihm das Schicksal des Zauberlehrlings drohe? Nur, des­sen gutes Ende bedurfte eines Meisters, den er in seiner Abgeschiedenheit kaum finden wird. Et­was missmutig blickt er durch das verschlossene Fenster. Herrliches Wetter, ein paar silbergraue Wolken in langsamer Bewegung, blendender Sonnenschein, kurze Schatten der türkisgrünen Pflanz­tröge le­gen sich auf die Terrasse, es ist die Zeit inmitten des Sommers. Die Sonne zog sich kurz zu­rück, um nach wenigen Minuten mit neuer Energie die Luft wieder zu erhitzen. Das Wolkenspiel zeigt das Bild einer riesigen Gans mit prägnantem Kopf, der sich kurz, nachdem das Bild zu erfassen war, wieder auflöst, um mit einem neun Bild die Fantasie des Betrachters anzuregen. Die Wolken ziehen doch etwas zu eilig auf ihrem Weg, als dass er ihr schnell wechselndes Formenspiel auskosten kann.

      Sein Blick fällt auf ein kleines, rotes, achtlos abgelegtes Buch: Erster Teil: Lautlehre, §1 Schrift und Aussprache. Das griechische Alphabet besteht aus folgenden 24 Buchstaben. Er überlegt kurz. Was hat ihn eigentlich dazu bewogen, sich dieses Buch anzutun? Wohl seinem erklärten Vorhaben fol­gend, auch Dinge zu tun, die keinen praktischen Nutzen haben, sie nur zu tun, weil sie ihn interes­sieren. Eine andere Möglichkeit der Erklärung gibt es wohl nicht.

      Ob seine Handlungen in der Zeit vorher alle zielstrebig und folgerichtig waren, würde er rückbli­ckend stark bezweifeln. Was heißt überhaupt folgerichtig? Gibt es einen allgemein gültigen Maßstab für folgerichtig oder ist das immer individuell zu betrachten? Folgerichtig, das heißt dass sich eine Aktion, gleich welcher Art, in der Folge als richtig erweist oder wenigstens in einem pragmatischen Sinn sinnvoll war. Lässt man jedoch die Folge, die Abfolge des Lebens offen, so ist jede Handlung für sich richtig. Sie gibt dem Leben einer individuellen Existenz eine Abfolge vor. Reduziert man den Sinn einer individuellen Existenz auf die angenehme Gestaltung, Wohlstand und Gesundheit seines Verweilens hier, so gibt es natürlich Dinge, die folgerichtig und zielstrebig auf die Verwirkli­chung dieser Annehmlichkeiten ausgerichtet werden sollten.

      Kann man solch profane Wünsche mit höheren ethischen Idealen ge­danklich verbinden, oder gar leben? Der unserem direkten Einfluss entzogene Lebensablauf, manipu­liert durch menschliche Be­gehrlichkeiten, Eitelkeiten und Dummheiten, in widersprüchlicher Ge­meinschaft mit objektiven Wahrheiten, ist das vorstellbar? Es ist nicht nur vorstellbar, es ist wohl die gelebte Realität. Hat er sich nicht oft selbst aus Begehrlichkeit in Situationen gebracht, die er moralisch ablehnte, jedoch we­gen eines persönlichen Nutzens billigte? Entscheidungen, die in ihrer Auswirkung seinen Lebenslauf entscheidend verändert hatten.

      Gibt es überhaupt einen zielgerichte­ten Lebensfluss? Ist er nicht vielmehr eine zufällige, gar wirre Abfolge von guten, sowie schlechten Ereignissen? Sein neuer hoffnungsvoller Lebensabschnitt, schön gedacht, wirr verlaufend, war das Bestimmung oder selbst fabrizierter Unsinn? Bestimmung wäre schön, das könnte allem, was daraus entstehen würde, etwas Entschuldigendes verleihen, er könnte mit den Schultern zucken, die Mund­winkel ironisch verziehen und sich gelangweilt abwen­den.

      Von solch destruktiven Überlegungen war er zu Beginn seiner Ausbildungszeit noch fast unbelastet. Er fühlte sich eigenartig beschwingt, sicher etwas ängstlich, an diesem ersten August auf dem Weg zur Bahnstation, um mit dem Zug zur Arbeit zu fahren. Es fuhren nicht viele Menschen in Richtung dieser Stadt, in der vor allem Schulen und Behörden ihren Sitz hatten. Alle seine Mit­schüler, auch der größte Teil der Bevölkerung des Ortes, arbeiteten in einer entgegengesetzt liegen­den Stadt mit vielen Fabriken. Den direkten Weg über eine offene Tür neben dem Bahnhofgebäude, der direkt zu den Bahnsteigen führte, mied er und betrat das Bahnhofsgebäude durch den Haupteingang, ging durch die leere, dunkle Wartehalle und trat auf den Bahnsteig. Er war viel zu früh da, so hoffte er, der Erste zu sein, keine Aufmerksamkeit zu erregen, keine neugierigen Blicken zu spüren, allein zu sein, allein mit seinen Vorstellungen und Träumen. Die Hoffnung trog.

      Erstaunt, fast gar erschrocken, sah er zu seinem Missfallen ein Mädchen auf einem der schmutzig grauen Holzbänke sitzen, die entlang zu den Gleisen an der Wand des Bahnhofgebäudes standen. Ihr Gesicht, über ein Buch gebeugt, verbarg sich hinter einer üppigen Haarfülle von langen, braun gelockten Haaren. Er wollte sich gerade abwenden, in die Wartehalle gehen und der unerwarteten Si­tuation den Rücken kehren, da hob das Mädchen den Kopf und sah ihn an.

      Ein vertrautes Gesicht, in das er blickte, eine der wenigen Erinnerungen, die keine bedrückenden Gefühle aufwühlten. Eine der er ersten und wenigen Begegnungen aus der Kindheit, deren er sich ohne düstere Empfindungen erinnern konnte. Doch im Moment wusste er jedoch nicht recht, wie er


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