Memento mori. Klaus Schneider Erich

Memento mori - Klaus Schneider Erich


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vorsichtig, er war über alle Maßen unsi­cher, traute er sich dann, in ihre großen braunen Au­gen zu schauen. Sie kannten sich schon so lange, soweit seine Erinnerung reichte. Doch als sie vor Jahren die Schule wechselte und das Gymnasium besuchte, verloren sie sich aus den Augen, nicht abrupt, es ergab sich so mit der Zeit. Er schaute sie an, ihr Lächeln berührte ihn, sie war wunder­schön, so sah er sie noch nie. Einen, eine kleine Ewigkeit dauern­den Augenblick, blieb er noch stumm. Er spürte Schmetterlinge in seinem Bauch, die Beine wollten zu zittern beginnen, eine uner­wartete, wenig vertraute Regung.

      Unbeholfen taumelnd, im Wirr­warr dieses seltsamen Gefühls, verstand er aber nicht recht, was da mit ihm passierte. Er, dessen höchstes Glück bisher darin bestand, nicht unglücklich zu sein, ver­spürte ein mächtiges Gefühl, das ihm das Herz sprengen wollte. Solche Gefühle passten doch über­haupt nicht in seinen imaginären Tagesplan und auch nicht zu ihm. Er stemmte sich mit aller Macht gegen die­se Eruption seltsamer Emotionen. Wie dumm er damals war! Dieses Verhalten würde er nach Jahren noch bitter bereuen. Doch, das war an diesem Tag in weiter Ferne.

      Die beiden fanden ihre Sprache wieder und redeten dann allerlei belangloses Zeug. Alsbald dräng­ten sich bei ihm wieder die Gedanken, die schon Wochen um diesen Tag kreisten, in den Vorder­grund. Er begann heute seine Ausbildung und er wusste bei Gott nicht, was ihn da erwartete. Das Mädchen verunsicherte ihn, auch sie erinnerte ihn an die Zeit, die er am liebsten vergessen, aber si­cher heute beenden wollte. Der Zug kam, sie stiegen ein und fuhren in die Stadt. Kurz bevor er mit mulmigem Gefühl vor dem Gebäude dieser Behörde stand und sich bewusst wurde, dass er da jetzt hinein gehen musste, trennten sie sich.

      Ein schmuckloser moderner Bau, einfachster zweckmäßiger Architektur, mit einem enorm großen Trep­penhaus und langen, dunklen Fluren. Er fand sich kurz darauf etwas verloren und unsicher, in dem direkt neben dem Aufzug liegenden Geschäftszimmer wieder. Neu­gierig und abschätzend von zwei Damen des Sekretariats begrüßt, wartete er nun auf die Dinge, die da kommen würden. Die Euphorie der vergangenen Tage wich zusehends einer bangen Unsicherheit. Ob er da wohl bestehen konnte?

      Die Türe ging auf und ein respekteinflößender Mann, groß und wohlbeleibt, mit Halbglatze und fester Stimme stand vor ihm. Er erschrak, duckte sich innerlich und schrumpfte nun ganz auf das Normalmaß eines Lehrlings zusammen. Träume ade! Recht unsanft schlug er in der Realität als un­wissender, unbedeutender kleiner Azubi auf.

      Sein Ausbilder erwies sich in der folgenden Zeit als Segen und Fluch zu­gleich. Unter seinen Fitti­chen befand er sich im Gefüge dieser Behörde an einem sicheren Ort. Er war nun sein Lehrling und dieser Mann wurde allseits respektiert. Korrekt vom Scheitel bis zur Sohle, ein ehemaliger Offizier der Wehrmacht, der keine Schwächen und Blößen erkennen ließ, und auch nicht sehr viel Verständnis für die Schwächen anderer aufbrachte. Der Junge verstand schnell, er war durch die jahrelange Sprachlosigkeit ein guter Zuhörer und Beobach­ter geworden, analysierte seine Lage und passte sich an.

      Es war ja nicht von Nachteil für ihn, was ihm deutlich bewusst wurde, als zwei ältere Auszubil­dende ihn zum Einkaufen für ihre Mittagspau­se schicken wollten. Der Alte, der zufällig dazukam, kürzte sie binnen ein paar Augenblicken auf eine übersehbare Größe. Nie wieder hat sich jemand er­dreistet, ohne ausdrückliche Erlaubnis seines Ausbilders, ihn mit irgendeiner Aufgabe zu betrauen. Verglichen mit seiner Schul­zeit fühlte er sich hier wie in einem Schutzgebiet für noch nicht gänzlich lebenstüchtige Heranwach­sende.

      Die ersten Wochen verliefen angenehm ruhig und waren doch aufregend und interessant. Keine Gedan­ken mehr, dass er einmal, in vergangener Zeit, diesen Beruf gar nicht wollte. Er ging in der Gleich­mäßigkeit der Tage auf, er genoss sie. Keine Hänseleien, kein Spott. Nur die tägliche Anspan­nung, jeglichen Fehler zu vermeiden, lastete noch auf seiner Seele. Welch ein Unterschied, diese Be­freiung von den meisten Dingen, die ihm bisher so viel Kummer bereiteten; ganz langsam aber stetig wurde ihm leichter ums Herz.

      Dann fiel ihm etwas Unglaubliches an sich auf. Er konnte öfter spre­chen ohne zu stottern, sicher nicht in jeder Situation, aber doch wenigstens in manchem Ein­zelgespräch. Unfassbar, nach einer Ewigkeit der gefühlten Sprachlosigkeit endlich sprechen zu kön­nen. Er konnte sich einbringen, sich bemerkbar machen, oder wenigstens ohne diese lähmende Furcht eine Frage beantworten. Diese Annahmen bewahrheiteten sich im Laufe der Zeit leider nur teilweise. Ja, er konnte Fragen beant­worten, wenn er nicht aufgeregt war, ja, er konnte sich unterhal­ten, doch war es am besten, wenn er mit seinem Gegenüber alleine war. Er konnte sich aber nur schwer an Gesprächen beteiligen, an de­nen noch andere mitwirkten, das hatte er nie gelernt.

      Hier zeigte sich wieder seine Angst, unangenehm aufzufallen, sei es durch Unwissen, durch stot­tern, oder einfach durch die Unfähigkeit, zwanglos zu plaudern. Doch es genügte ihm fürs Erste. Wieder ein Schritt die Treppe hoch und seien es vorerst nur die Stufen der Kellertreppe. Es bewegte sich etwas. Die Statik seiner unseligen Kindheit geriet aus dem Gleich­gewicht, seine Entwicklung machte einen Schritt nach vorne. Ein Gefühl von realem, praktischem Selbstvertrauen regte sich in ihm. Das aus Träumen und Phantasien konstruierte Selbstverständnis bekam ein etwas stützendes Gerüst, wenn auch das Fundament noch auf keinen tragfähigen Grund stand.

      Hatte ihn etwa dieser ehemalige Wehrmachtsoffizier, sein Ausbilder, korrekt, gradlinig, etwas ego­zentrisch, auf diesen Weg gebracht? Wenn diese Entwicklung von menschlicher Hand beeinflusst wurde, dann von ihm, der Bezugsperson in dieser Zeit. Er respektierte diesen Mann, er achte­te ihn, seine Persönlichkeit, sein Auftreten, er war ein Vorbild an dem er sich orientieren konnte.

      Ob das Vorbild in all seinen Facetten seinem Ideal entsprach, war zu Beginn dieser Beziehung nicht von großer Bedeutung. Viele lebende Vorbilder und Ideale hatte er noch nicht kennen gelernt. Irgendwie tat er ihm gut, dieses Prachtbild eines Beamten, der immer pünktlich auf die Minute den Dienst antrat und beendete, ohne dienstliche Erfordernisse keine unnötigen privaten Plauderstünd­chen im Amt einlegte, irgendwie war er aus einer anderen Zeit übrig geblieben.

      Er bildete ihn gut aus und lehrte ihn alles, was zur Ausübung des Berufs nötig war. Auch vergaß er nie, sein besonderes Kön­nen, seine beruflichen Glanzpunkte zu erwähnen. Hier war er eine Prima­donna, eitel und süchtig nach Anerkennung und Applaus. Es musste kein erlesenes Publikum sein, das ihn hochleben ließ, auch einfache Messgehilfen oder Stammtischbrüder jeglicher Art waren ihm genehm und natürlich auch die Bewunderung seines Lehrlings.

      Während die Demonstration seiner intellektuellen und fachlichen Überlegenheit teils bewundernd aufgenommen wurde, führte die Präsentation des felderprobten Soldaten manches Mal zu schmerz­haften Erfahrung des Lehrlings. Die in der freien Natur zu erledigenden Arbeiten wurden in der Re­gel in den Wintermonaten ausgeführt. Vermessen von landwirtschaftlichen Wegen und Wasserläu­fen. Schöne Arbeiten in reizvoller Landschaft könnte man meinen, wenn in dieser Jahreszeit die Temperaturen nicht so weit außerhalb eines gewissen Wohlfühlbereiches liegen würden. Kommt dann noch romantischer Schneefall und kalter Wind hinzu, ist das klimatische Horrorszenario per­fekt.

      Bei normal gearteten Beamten, dem Rest der Belegschaft, waren Witterungsbedingungen dieser Art ein willkommener Grund, entweder früher nach Hause zu fahren oder den Tag gemütlich in ir­gendeiner abgelegenen Gaststätte zu verbringen. Von solchem Verhalten war der Vorzeigebeamte weit entfernt, es war für ihn gar verachtungswürdig. So eine Schwäche würde er nie zeigen und sein Lehrling durfte, natürlich ungefragt, an dieser Einstellung teilhaben.

      Er, der fünfzehnjährige Hungerhaken, ein Strich in der Landschaft, eingehüllt in einen zu großen Bundeswehrparka, musste an solchen Tagen die gesamten acht Arbeitsstunden im Freien verbringen. Nach zwei, drei Stunden fühlten sich die Füße so kalt an, dass sie wie leblose, abgestorbene Glieder in den Schuhen steckten und so unwirklich fühlte sich dann auch jeder Schritt an. Ein Körper, der sich an den eigenen, ununterbrochenen Zitterbewegungen erlebte. Hände so kalt und schmerzend, dass sie das Schreibgerät kaum halten konnten. Eigenartig unempfindlich gegen derartige Widernis­se, stand sein Chef mit geschwellter Brust den ganzen Tag neben ihm, und überwachte mit Argus­augen seine Arbeit.

      Seine Verzweiflung nahm manches Mal Dimensionen an, die nahe bei Suizidgedanken lagen. Stun­den können lang sein, wenn man die Minuten zählt und diese noch in


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