Memento mori. Klaus Schneider Erich

Memento mori - Klaus Schneider Erich


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und verbalen Reaktionen, wegen ihrer Ignoranz gegenüber den Protesten, der kaum zu überbietenden Dumm­heit und des Dilettantismus beim Einsatz so genannter staatlicher Gewalt bei Demonstrationen.

      Wie Hohn klangen die Worte des scheinbar zu einem Demokraten konvertierten ehemaligen NSD­AP Mitgliedes und jetzigen Bundes­kanzlers, der von einer Gefahr von Minderheiten für die freiheitlich- demokratische Ordnung sprach. Das einzige, was der glaubhaft aussprechen konnte war das Wort „Ordnung“. Das war doch ein altes, vertrautes Wort für ihn und seinesgleichen. Freiheit­lich und demokratisch, solche idealistische Begriffe klangen sarkastisch aus dessen Mund.

      Wie sein Denken auf diese Schiene geriet, was diese Auflehnung verursachte, war es nur eine längst überfällige, pubertäre Auflehnung oder eine tiefe in­nere Überzeugung? Er weiß es nicht, aber wie es auch immer begann, es hat bis heute Be­stand. Damals hinterfrage er seine Ansichten nicht ex­plizit, er erlebte sich in ihnen.

      Er genoss die Zeit in der großen Stadt, die Freiheit, das unbekümmerte Leben. Die zeitweise Wie­derkehr alter Probleme beim Unterricht trübte manchmal diese Glückseligkeit. Immer wieder einmal bekam er Probleme beim Sprechen, nicht so bedrückend, wie er sie als Kind verspürte, doch noch genug, um ihn zu ängstigen.

      Diesmal setzte er aber eine wirksame Strategie dagegen, die, in dem er Prioritäten setzte. Vor­rangig räumte er seinem Ansehen bei seinen Mitschülern die höchste Priorität ein, er wollte keine Blamage mehr erleben! Es war einfacher, die Unterrichtsbeteiligung zu verweigern, sich unwissend zu geben, als sein Ansehen zu demontieren. Die Frage einer Lehrkraft scheinbar desinteressiert zu ignorieren, sich teilweise massiver Kritik derselben auszusetzen, ist allemal leichter zu ertragen, als die Häme der Mitschüler.

      Diese zusammen gezimmerte Strategie, auf der einen Seite erfolgreich, hatte als Konsequenz aus der Verweigerung der schulischen Mitarbeit auch merkliche Nachteile für ihn. Er war so damit be­schäftigt, diese vermeintlichen hinterhältigen und facettenrei­chen Angriffe der Lehrkräfte auf seine Person abzuwehren, dass er etwas die Orientierung im Unter­richt verlor. Seine schriftlichen Leistungsnachweise waren nicht schlecht, aber auch weit weg davon, sie als gut einzustufen, hervorra­gend geeignet, um seine Rolle glaubhaft vorzutragen, völlig ungeeignet für die eigenen Ansprüche. Ein Dilemma aus dem er keinen Ausweg fand und mit Blick auf seine gesetzte Priorität, es auch kei­nen Ausweg gab.

      Nachmittags, nach dem Unterricht, war alles wieder vergessen. Die Stadt, ihr pulsierendes Leben, ihre Hektik, gaben ihm die Anonymität und Sicherheit, in der er sich wohlfühlte. Er konnte sie be­trachten, die Menschen, ihr Verhalten, ohne sich der Gefahr auszusetzen, selbst beachtet zu werden und unvermittelt im Focus des Interesses zu stehen. Ein pures Wohlgefühl zwischen Currywürsten, stinkenden Autos und stillosen Zweckbauten einer an sich seelenlosen Stadt.

      Umgarnt von all den neuen Erfah­rungen und Möglichkeiten, kam nie Langeweile auf. Sie hatten daher auch keine Zeit für persönliche Streitereien oder gar zeitraubende Schulaufgaben. Unbe­schwerte Tage und Wochen folgten, etwas eingetrübt von dem ewigen Problem leerer Kassen und der Hausordnung des Wohnheims, wegen des nächtlichen Torschlusses für Minderjährige, die sie nun mal waren.

      Diese Widernisse konnten ihr Lebensgefühl nicht ins Wanken bringen. Kindlich unbekümmert, ohne belastende Verant­wortung und drückende Verpflichtung, das würde die größten Vorzüge der drei am besten beschreiben. Eine ein­malige Zeit im Leben eines jungen Menschen. Keine drücken­de Verantwortung lastet auf den Schultern, die Freiheit träumend zwischen Realität und Fantasie mit fließenden Grenzen zu leben, die Tage einfach verrinnen zu lassen, sich der realen, nüchternen Welt entziehen. Frei von jeder Kontrolle einer mürrischen Mutter oder eines penetrant korrekten Ausbilders, keine ständige Erin­nerung an die beschissene, traumatische Kindheit, was für ein herrliches Gefühl!

      Diese Sache muss­te ja einen Haken haben, hatte sie auch, den, dass diese Glückseligkeit nach sechs Wochen en­dete und sie sich erst nach Ablauf eines Jahres wiederholen würde. Das Prinzip Hoff­nung könnte die Zeit schon verkürzen, er vertraute darauf, doch es war einer der ersten wehmütigen Abschiede, die er erlebte, nur vergleichbar mit solchen, wenn er als Kind nach den Ferien, die er öf­ters bei seine Oma verbringen durfte, wieder in seine persönliche Hölle, nach Hause musste.

      Seine Oma, er überlegt, wer sie war, es fällt ihm schwer, in seinen Gedanken eine Vorstellung von ihr zu projizieren. Er fühlt dabei nichts Besonderes, das ist verwunderlich, da er doch so gerne die Ferien bei ihr verbrachte. Gut, sie ist schon zwanzig Jahre tot, aber da müsste doch noch etwas sein, eine gefühlte Erinnerung, ein Bild von ihr. Unklare, verschwommene Erinnerungsfetzen, das ist al­les, was von ihr geblieben ist.

      Was an Erinnerung jedoch nie verlö­schen wird, ist ihre Kochkunst, legendär und unerreicht. Sie konnte einfach kochen! Maultaschen, Dampfnudeln, ein Gedicht, eine Offenbarung für jede schwä­bische Seele. Dampfnudeln mit kros­sem Boden, der Hefeteig hoch und prall aufgegangen, locker und leicht. Der markante Duft dieses Teiges, harmonisch vermischt mit dem einer warmen Vanille­sauce, himmlisch!

      Es gab aber noch eine Steigerung: ihre Maultaschen. Die Nach­kommen versuchten sie oft zu ko­pieren, ein unnützes Bemühen, nie wieder hat irgendjemand sie so gut zubereitet. Wer es auch im­mer versuchte, es wurde nur ein mehr oder weniger guter Abklatsch ihrer Kochkunst. Eine aufwän­dige Rezeptur, stunden­lange Vorbereitung für ein zwanzig minütiges Essen, wenn es denn lange dauerte. Gieriges Schlin­gen, der Ehrgeiz, sich möglichst viel dieser Götterspeise einzuverleiben.

      Wer behauptet denn, dass man beim Schlingen keinen Genuss empfinden kann? Ein Geschmackserlebnis empfindet man nicht nur beim genüsslichen Kauen, auch das permanente Nachstopfen solch delikater Maultaschen in die Futterluke ermöglicht eine intensive Gaumenfreude, solange nur der Nachschub gesichert ist. Dies führt dann zu einem weiteren, wenn auch nicht sehr edlen Emp­finden, dem Futterneid. Langsames, betont genussvolles Essen würde doch dazu führen, dass anwe­sende Mitesser von die­ser Marotte profitierten. Dies galt es, wenn solche vorhanden waren, zu ver­hindern.

      Nach einem Ge­lage von zwei Enkeln gleichen Gedankengutes, einer davon war er, ließ sich die Oma zu der Bemer­kung hinreißen, „Ihr esst nicht mehr, ihr fresst wie die Sauen“. Keine Ahnung, was sie störte, es waren doch nur neunzig Stück, von diesen so zehn mal zehn Zentimeter großen Maultaschen, und das zu zweit. Sie hat ja auch fünf davon gegessen. Später wollten wohl noch ande­re Enkel und Kinder zum Essen kommen, später, eben zu spät. Fleischbrühe war noch übrig, dazu hat sie dann noch Suppennudeln abgekocht. Seiner Meinung nach war das gut genug für die bucklige Ver­wandtschaft.

      Die Oma zog sieben Kinder groß, darunter auch seine Mutter, es war immer Leben in ihrem klei­nen Siedlerhäuschen. Der Opa starb schon früh, er kannte ihn kaum. Es gab immer nur die Oma, ein Pol um den sich alles scharte, ihre noch zu Hause lebenden, jüngeren Kinder und in den Schulfe­rien die zahlreichen Enkel. Vor seiner Schulzeit muss er auch längere Zeit dort verbracht ha­ben, er weiß es, kann sich aber nicht mehr daran erinnern. Die Erinnerung an die Oma beginnt mit seiner Schulzeit, und den Ferien, die er dann teilweise bei ihr verbringen durfte.

      Dieses kleine, verwinkelte Siedlerhäuschen war vollgestopft, gar überladen mit allerlei Hinterlas­senschaften der großen Familie. Stundenlang konnte er in den leeren Zimmern stöbern, vom Dach­boden bis in den Keller, fand immer wieder neue interessante Dinge. Ein Luftgewehr, Werk­zeuge, Romanhefte, Comics, Briefmarken, Bilder. Verstaubt, in Schränke gepresst schlummerten sie dort, um von ihm entdeckt zu werden.

      Er schlich sich oft in diese Refugien, leise, um ungestört seiner Neugier zu frönen. Den Geruch dieser Räume kann er heute noch herholen, muffig, ein Sammelsurium aus eigenartigen Aromen der vielen, jahrzehnte­lang abgelegten und vergessenen Gegenstände. Damals war es bei der Oma wie im Paradies schön, er fühlte sich dort wohl und hoffte manches Mal, seine Eltern würden ihn nie wieder ab­holen und nach Hause bringen.

      So fühlte er auch, als die Schule endete, und er wieder zurück musste. Die menschliche Empfin­dung ist schon eine eigenwillige Konstruktion. Vor Monaten war die Lehrstelle noch der Quell eines neuen Lebensgefühls, doch schon nach dem kurzen, beeindruckenden Aufenthalt in der Stadt, emp­fand er die Existenz in der gewohnten Umgebung als deprimierende Tristesse. Nur unterteilt


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