Memento mori. Klaus Schneider Erich

Memento mori - Klaus Schneider Erich


Скачать книгу
die­sen Sumpf an Ignoranz und Gleichgültigkeit wirklich begehbar machen konnten.

      Doch wenn daran auch Zweifel angebracht schienen, so war dieser neue Kanzler doch eine Licht­gestalt unter den zahlreichen Gestrigen, die der Politik und Ge­sellschaft ein so verlogenes Gesicht gaben.

      Er befürchtete jedoch, dass diese alten Seilschaften in Politik und Verwaltung eine größere Domi­nanz besaßen, als nach außen sichtbar war. Auch schien das alte Gedankengut in der Reihenfolge Ordnung, Gehorsam, Recht noch in einer breiten Mehrheit gedanklich fest verankert zu sein. Frei­heit war nachfolgend eingeordnet und dann meist als persönliche Freiheit definiert und selten als Freiheit der anderen, der Randgruppen oder anders artigen Menschen, akzeptiert.

      Bestenfalls konnte man die Altvorderen noch als zerrissen bezeichnen. Ihrer alten ideologischen Heimat beraubt, be­wegten sie sich stolpernd, mühevoll in die Zeit der ihnen aufgezwungenen De­mokratie.

      Demokra­tie, für die Älteren unter ihnen, eine Regierungsform voll Unsicherheit, Not, Elend und politischer Unruhen, die ihnen aus der Weimarer Republik in keiner guten Erinnerung geblieben war. Die Jün­geren der Vätergeneration, ausschließlich geprägt von einem totalitären System, kannten diese Form des politischen und gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht. Sie alle beäugten das Ge­schehen, die Entwicklung, etwas skeptisch.

      Sie wollten eine starke Führung, vielleicht sogar einen Führer, oder zumindest den Staat als starke Ordnungsmacht. Sie wollten Regeln, die ihnen ein weitgehend sorgloses, denk- und verantwortungs­freies Leben ermöglichten. Personen oder Gruppen, die diese Ideale in Frage stellten oder in ihren Augen ein Risiko darstellten, diffamierten sie ohne weiteres Nachdenken als abartig.

      Egal, wo er zuhörte, sei es unter den Bauarbeitern, den Beamten und Angestellten der Behörde, der Familie und Verwandtschaft, selten fühlte er Offenheit und Toleranz. Überlegungen zu gesell­schaftlichen Problemen waren in der Regel zielgerichtet auf Ordnung und Recht fixiert. Was nicht in die­ses Raster passte wurde postwendend aussortiert.

      Da gab es offizielle Abartigkeiten, die zeitweise sogar Vertretern politischer Parteien öffentlich propagierten, wie Kommunisten, langhaarige rebelli­sche Jugendliche, langhaarige friedliebende Ju­gendliche, Musik, arbeitslose Faulenzer, missliebige Schauspielerinnen und Schauspieler, kritische Li­teraten usw.

      Hinter vorgehaltener Hand war dieser Kreis noch ausladender. Italiener, die sie im Krieg angeblich verrieten, Widerstandskämpfer und emigrierte Schauspieler, Literaten, welche sie als Verräter oder vaterlandslose Gesellen bezeichneten , Geisteskranke, Behinderte und natür­lich, nicht zu vergessen, hinter vorgehaltener Hand, die Juden.

      Später noch die, in ihren Augen leider legalisierten, Schwulen und Lesben, Neger, Slawen und wei­tere Untermenschen, wie noch so vieles andere, was aus früherer Erziehung unauslöschliche Spuren in ihren Gehirnen hinterließ. Als Fazit konnte man feststellen, dass es nicht viel Neues oder Fremdes an Gedanken, Ideen und Menschen gab, das toleriert wurde.

      Toleranz würde ja den Abschied von lieb gewonnenen Ansichten und Wer­tungen bedeuten und zudem die mühevolle Aufgabe, neben einer nur geringfügig vorhandenen rationalen Intelligenz auch sich der noch weniger vorhandenen, emotionalen Intelligenz zu bedie­nen. Woher nehmen und nicht stehlen? Soll sie doch der Teufel holen! Nun, man würde ja sehen, was die kommende Zeit so bringt. Einen Grund zu großem Optimismus sah er nicht. Es war für ihn auch nicht so sehr von Bedeu­tung, wie sich die Gesellschaft entwickelte, er fühlte sich als Beobachter und Kritiker, weniger als Akteur.

      Ein pragmatischer Zug seines Charakters hielt ihn auf der Spur des beruflichen Weiterkommens. Die dazu notwendige Kooperation mit den ungeliebten Gestrigen war ein notwen­diges Übel, doch sie hielten nun mal die Fäden in der Hand. Er war wegen seines Alters und seinen finanziellen Mög­lichkeiten von zu Hause abhängig. Ein gewaltsames Lösen aus diesem Umfeld er­schien wenig sinn­voll und Erfolg versprechend. Vielleicht hatte er auch einfach nicht den Mut aus­zubrechen, war zu feige, oder so klug, nichts zu tun, was ihm keinen Nutzen brachte. So lief sein Leben seinen geregel­ten, langweiligen Gang. Die Abwechslungen durch die Schulbesuche in der großen Stadt, verloren in der Wiederholung ihren inspirativen Charakter.

      Flexibel, wie man in dem Alter nun mal ist, wechselten die Interessen irgendwann von der Gesell­schaftspolitik zum Saufen und den Mädchen. Was auch Sinn machte, da hier ein aktives Handeln möglich war. Die Gene für die Freuden der pubertierenden männlichen Jugend meldeten sich an und wurden sehr begrüßt. Es war sicher nicht das erste Mal, dass er in Kontakt mit Mädchen und Alkohol kam, nur eine solche Anziehungskraft beider Vergnügen war neu.

      Bedingt durch seine Vorgeschichte war er wohl ein Spätstarter, mit dem dringenden Bedürfnis, al­les in kür­zester Zeit nachzuholen. Beginnend mit dem exzessiven Konsum von Alkohol, der einfa­cheren der Übungen. Bestellen, reinschütten, bezahlen und auskotzen, übergehend zu der etwas dif­fizileren Disziplin, der Annäherung an das andere Geschlecht. Da er wegen früherer, schlechter Er­fahrungen etwas gehemmt war, verlangte dies von ihm immense Überwindung. Doch unter dem übermächti­gen Druck erwachter Gene, meisterte er alsbald auch diese Hürde.

      Die Mädchen gefielen ihm gut, sie faszinierten mit ihren Figuren, Gesichtern, ihrem Lachen und Schmollen, ihren sanften Stimmen, ihrem Duft. So hatte er sie noch nie empfunden. Gesehen und gekannt hat er schon viele, meistens mit einem faden Beigeschmack, den er durch ihre Ablehnung oder ihr Desinteresse an ihm, verspürte. Zudem trübte noch das unsäglich negative Image der Mut­ter und Schwester sein Frauenbild nachhaltig ein.

      Dennoch begegnete er Frauen und Mädchen mit höflicher Achtung. Gleichberechtigung war keine Frage, wie auch die Wortwahl bei einer Unterhaltung. Mit Chauvinismus, in der ganzen Bandbreite seiner nega­tiven Auswüchse, konnte er nicht aufwarten. Wenn er Ausdrucksweise und Verhalten sei­ner Kum­pels betrachtete, kam er etwas ins Grübeln, ob seine Sicht die richtige war. Versuche, es ih­nen gleich zu tun, wirkten bei ihm einstudiert und unnatürlich, sie waren ihm selbst peinlich. Doch anscheinend gehör­te eine Prise natürlicher Chauvinismus zum Balzritual und wurde von den Mäd­chen bereitwillig in Kauf genommen, er bekam den Eindruck, sie erwarteten es sogar. Vielleicht die einzige, übrig geblie­bene Darstellungsform männlicher Stärke eines Einzelnen in einer Gruppe von Bewerbern um die Gunst eines Weibchens.

      Archaische Formen des Eignungstestes von Kandidaten mit Keule, Speer oder Schwert, waren ja in die Illegalität verbannt und nicht mehr mit derzeitig gültiger Rechtsprechung konform. Der Favo­rit sollte eben den Anschein erwecken, ein ganzer Kerl zu sein. Nur den Anschein zu erwecken, ist natürlich ein immenser Vorteil für jeden sprachbegabten, selbst­bewussten Kandidaten und ein merk­licher Nachteil für ihn, dem verkörperten Gegensatz dieser hilf­reichen Vorzüge.

      Doch es gab eine Lücke im Gefüge dieses Rituals. Um diese zu nutzen musste er nur seine An­sprüche an die Schönheit, die Form und Gestalt des Objekts der Begierde reduzieren. Dies er­wies sich als sehr hilfreiche Eingebung. Diesen Ansatz weitergedacht führte zu einer bahnbrechen­den Er­kenntnis. Es war gar nicht notwendig seine Erwartungen oder Vorstellungen zu reduzieren, man musste nur seinen Blickwinkel verändern und schon sah man die weniger beachteten Mädchen aus einer ganz anderen Perspektive. Sie waren nicht weniger hübsch, sie waren nur bei weitem nicht so schillernd und blendend, wie die, die sich im Focus der pu­bertierenden männlichen Fantasie sonn­ten.

      Ihre Attraktivität stach nicht beim ersten, anzüglich ab­schätzenden Blick ins Auge. Sie prostituier­ten sich nicht mit super kurzen Röcken, erregend figurbe­tonten Oberteilen, anzüglichem Lächeln aus übertrieben geschminkten Gesichtern, sie waren ein­fach nur da. Man musste den zweiten Blick bemühen, um ihren Reiz zu entdecken.

      Es lohnte sich. Trotz seines ästhetischen Anspruchs an das Gesamtbild eines Mädchens, vermehr­te sich die Zahl derjenigen, die er attraktiv fand, auf wundersame Weise. Außerdem entdeckte er einen bisher ver­nachlässigten Aspekt der Selektion, den Charakter. Nicht immer ein positives Attri­but, doch in der Relation zu den Charakteren der umschwärmten Schönheiten, oft eine zusätzlich vorhandene, liebenswürdige Eigenschaft.

      Die Tür in die Welt amouröser Beziehungen stand nun weit offen. Er konnte es oft nicht glauben mit welcher Leichtigkeit er Aufmerksamkeit erregte, Beachtung


Скачать книгу