Memento mori. Klaus Schneider Erich

Memento mori - Klaus Schneider Erich


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Bewegung zu, zu wenig, um sich zu erwärmen und diese Iko­ne von einem wetterharten, strammen Soldaten stand wie sein eigenes Denkmal an seiner Seite, un­erbittlich in dem Vorhaben, die vorgenommene Ar­beit zu Ende zu bringen. Seit diesen prägenden Erlebnissen pflegt er ein gestörtes Verhältnis zu der Jahreszeit, die ihn in diese Bredouille brachte. Doch seltsamer Weise war er damals stolz nach geta­ner Arbeit, nach überwundenem Leiden, er hatte seinen Mann gestanden. Ein paar anerkennende Worte und alles Leiden war vergessen.

      Was war er doch für ein Kerl, verglichen mit seinen, in den warmen Fabriken und Büros arbeiten­den, ehemaligen Mitschülern. Sein Ego dankte ihm jede Auf­wertung, jede sich bietende, wenn noch so kleine, aufwertende Besonderheit. Sie richtete ihn in­nerlich wieder ein Stückchen mehr auf. Er meinte, sich dem gedachten Ideal zu nähern, der Person, die er sein wollte, stark, erfolgreich, gut und edel. Er, eben ein Träumer mit fließenden Grenzen zum realen Leben.

      Eine der Besonderheiten einer Lehre bei einer technischen Behörde war die, dass die schulische Ausbildung der Lehrlinge des ganzen Landes zusammengefasst war. Die Bildungsstätte, in der dies stattfand, lag je­doch nicht in unmittelbarer Nähe, sondern in der einhundert Kilometer entfernten Landeshaupt­stadt. Ein ideeller Quantensprung, diese Möglichkeit, dazu noch zwingend vorgegeben, in dieser Stadt wochenweise zu leben und zu wohnen. Weg von zu Hause, weg aus dem Zwang der sich täglich wiederholenden Rituale zu Hause, denen er sich nicht gänzlich entziehen konnte. Zu die­ser Zeit wuchs sein Verlangen immens, die Vergangenheit aus seinem neuen Leben zu drängen. Sie war ihm lästig, doch klebte sie wie eine Klette an ihm, ein Gefühl, das er insbesondere zu Hause empfand.

      Diese Vergangenheit störte die neue Konstruktion, das neue Bild, das er von sich kreiert hatte. Eine gewisse Arroganz kam auf. Seine Unsicherheit, so ganz glaubte er noch nicht an sich, überspiel­te er mit einem introvertierten Verhalten. Eine Distanz zu seiner Um­gebung zu schaffen war dabei nicht seine Absicht, er wollte nur den schützenden Effekt eines sol­chen Verhaltens für sich in An­spruch nehmen. Es drängte ihn, sich auf irgendeine Art neu zu positionieren oder vielleicht auch sich, seine Legende, neu zu erschaffen und dazu brauchte er die Freiheit einer neuen Umgebung, neue Menschen, einen Neubeginn ohne die Altlasten der Ver­gangenheit. Die Umstände meinten es nun gut mit ihm, sie zwangen ihn geradezu, das zu tun, was er aus eigenem Antrieb zu dieser Zeit wohl nicht getan hätte, wegzugehen.

      An einem Morgen, kurz nach seinem sechzehnten Geburtstag, zog er dann für mehrere Wo­chen in die Großstadt. Untergebracht in einem Lehrlingsheim, einer karitativen Organisation christli­cher Prägung, stand er da in der großen Stadt. Vor ihm türmte sich ein Berg von zwar eher kleinen Pro­blemen auf. Die Sorge, wie er diese lösen könnte, war dagegen umso größer. Welche Straßenbahnli­nie verbindet das Heim mit der Schule? Was kostet das? Wie bekomme ich eine Fahrkarte? Wann muss ich losfahren, um nicht zu spät zu kommen? Wie würde er ankommen bei den Mitschü­lern und den neuen Lehrern?

      Sein Denken erinnerte sich an das Empfinden der Kindheit. Unangenehme, verdrängte Erinnerun­gen zerrten an seinem, noch sehr labilem, Selbstverständnis. Kur­zerhand verwehrte er ihnen jedoch den Zutritt in die Illusionen seiner mühsam aufgebauten, subjek­tiven, doch leidlich lebbaren Welt. Es gab sowieso keine Möglichkeit eines Rückzuges mehr, auch wenn er ihn in einem Anflug von aufkommender Panik, kurz konkret andachte.

      Eine unerträgliche Anspannung lähmte ihn fast, als er den Hof der Schule betrat. In diesem Au­genblick glaubte er, die Kontrolle über sein Denken und Handeln zu verlieren. Wie eine riesige Wel­le schwappte mühsam Verdrängtes wieder hoch und begrub sein neues Selbstverständnis unter sich. Weg war die Aufbruchsstimmung, die Euphorie, sein neues Lebensgefühl der letzten Monate. Er fühlte sich wie­der als der kleine, abgelehnte Stotterer, der er einmal war.

      Unsicher blickte er um sich. Standen vielleicht schon Mitschüler da, die ihn kritisch beobachteten und ihm seine Schwächen ansahen? Seine Beine drohten ihm den Dienst zu versagen, die Heftigkeit dieser Gefühle war niederschmetternd. Er wollte raus aus dieser Situation, doch wie? Er konnte nur da­vonlaufen. Nur wohin sollte er laufen, wie sollte er sich dann erklären, zu Hause, im Amt? Da musste er wohl weiter gehen, wenn seine Zukunft nicht abrupt enden sollte. Er weiß nicht mehr, wie die nächsten Minuten vergingen, wie er das Klassenzimmer fand, auf einem der hinteren Bänke Platz nahm und mit düsteren Gedanken der Dinge harrte, die nun kommen würden.

      Ein Lehrer betrat den, seinen Gedanken ähnlich, düster wirkenden Raum, schaute sogleich auf die in den hinteren Bänken sitzenden Schüler. „Meine Damen, meine Herren, setzen sie sich doch etwas vor, besetzen sie bitte auch die ersten Reihen“. Er fühlte sich nicht angesprochen, so wenig wie die anderen Hinterbänkler auch. Folglich wurden sie alle in die erste Reihe zwangsversetzt. Eine Situati­on, die er eigentlich unbedingt vermeiden wollte, die aber in der Gemeinschaft der anderen doch ganz erträglich schien. Vor allem war er dadurch, ohne eigenes Zutun, mit einer Gruppe verbunden, was seine Stimmung sehr anhob. So sehr, dass er sich danach recht lässig in der ersten Bank lümmel­te und mit ansteigender Zuversicht gelang­weilt den Ausführungen des Lehrers lauschte.

      Es ging alles gut. Aufatmend, erleichtert verließ er das Schulgebäude. Für den Augenblick bekam alles seine gewohnte Zuordnung wieder. Er konnte durchatmen und es schien so, dass er sogar in der realen Gegenwart eine Nische finden könnte.

      Zwei Mitschüler wohnten im gleichen Heim wie er und damit war er ein Teil dieser Zweckgemein­schaft. Sie bot ihm eine gewisse Sicher­heit in dieser neuen Umgebung, ohne dass er einer eingefahre­nen Hierarchie, bei der er meist am unteren Ende seinen Platz fand, unterworfen war. Sie beschlos­sen, einmal aufs Geratewohl in die Stadt zu fahren, man würde dann schon sehen. Markanter Punkt, oder das Herz fast einer jeden Stadt, ist ihr Bahnhof, meist zentral in der Mitte gelegen. Es lässt sich kaum vermeiden, sich früher oder später dort einzufinden, da, wo Tausende von Menschen ihre Rei­se, ihre Fahrt beenden oder be­ginnen.

      Das Gebäude war groß und mindestens so hässlich, graubraun, mit gewaltig hohen Hallen. Ver­zerrte Stimmen aus den Lautsprechern durchdrangen nur undeutlich das Stimmengewirr der Masse von Menschen. Dieser Ort lebte, faszinierte die Buben. Einmal die Hallen durchlaufen, betont lässig, sichtlich uninteressiert am Geschehen... ein Höhepunkt für die Neuen aus der Provinz.

      Das Knurren des Magens, das sich nach ein paar Stunden ohne Nahrung bemerkbar machte, still­ten sie mit einer Currywurst aus einer dieser schmuddeligen Imbissstände, die sich entlang der Ein- und Ausgänge wie Perlen aufreihten. Er meint heute noch, dass er nie wieder eine Bessere gegessen habe. So standen sie da, aßen und redeten miteinander. Eigentlich waren sie grundverschieden, doch das war nicht von Bedeutung, es belastete sie keine gemeinsame Vergangenheit. Es lief wieder gut für ihn. Die Panik des Vormittags war verges­sen, es war so, als hätte es sie nie gegeben.

      Einer von den beiden anderen, vertraut mit dem aktuellen Geschehen der Gegenwart, zeigte ihm dann im Laufe der Zeit eine ihm völlig unbekannte Welt, aus einer Sichtweise, die ihm fremd war. Er begann sich dann für das Weltgeschehen zu interessieren, bildete sich nach und nach eine kritische Meinung, sicher nicht ganz unbeeinflusst von den liberalen, gar anarchistischen Idealen seines Schul­freundes.

      Das Amerika Bild seiner Kindheit, der Wilde Westen, die rauen, harten Kerle mit ihren rauchenden Colts, verlor seine Unschuld und zeigte sich in einer hässlichen Parodie. Der Vietnamkrieg, in den Artikeln der ihm bisher täglich zugänglichen, lokalen Presse, immer einseitig pro amerikanisch darge­stellt, gar idealisiert als Kampf der freien Welt gegen den Kommunismus, präsentierte sich ihm in seiner ganzen Hässlichkeit. Eine zunehmend kritische Be­richterstattung einer liberalen Presse, Bilder von fliehenden, nackten, um ihr Leben rennenden Kin­dern, oder die Erschießung eines Gefangenen, wirkten schockierend auf ihn. Er fühlte sich diesen schwachen, leidenden Menschen nahe, sie waren ja irgendwie wie er.

      Er stellte dann noch grundsätzlich Autoritäten in Frage. Ihre Macht respektierte er dennoch, offe­ne Auflehnung war noch nicht sein Ding. Doch er begann sich seit diesen Tagen den personifizier­ten Autoritäten des Staates und der Gesellschaft, die er zusehends als eine Bande von Ignoranten und Dummköpfen hielt, zu verwei­gern. Die Proteste der Studenten, zugegeben er wusste nicht so ganz genau, was die wollten, waren bewundernswert, ein Quell der Hoffnung gegen ein scheinbar allmächtiges System.

      Welche


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