Memento mori. Klaus Schneider Erich
eingezwängt zwischen der ständig nörgelnden Mutter, dem oft nur körperlich anwesenden Vater, dem nervigen, verzogenen Balg von Schwester und andererseits den einseitigen, öden Vergnügungen eines dreitausend Seelen Dorfes mit Sportverein, ein paar Gaststätten und ehemaligen Mitschülern, mit denen ihn nicht viel verband. Er fühlte sich in dieser Umgebung ausgeschlossen von dem, was draußen geschah und es geschah viel in dieser Zeit. Sicher, er war auch in der Stadt nicht aktiv daran beteiligt gewesen, doch er hat sich dort weitaus näher am Puls der Ereignisse gefühlt, wie in diesem Dorf.
Die meisten Menschen, die da wohnten, jedenfalls die, die er kannte, kümmerte es nicht groß, was außerhalb des Dorflebens geschah. Irgendwie waren sie wie fröhliche, naive Kinder, was sie auch so belassen wollten. Probleme außerhalb ihrer Person und direkten Umgebung, existierten nur schemenhaft oder abstrakt. Sie lehnten sich an die politische und gesellschaftliche Ideologie ihrer Vorfahren und Väter an, die in der letzten Konsequenz immer die Obrigkeit achtete und alles Störende ablehnte, war ja auch viel einfacher so..
Auch die Jugend beschäftigte sich überwiegend nur mit dem Mikrokosmos ihres direkten Umfeldes. Musik, Saufen, Mädchen, Frauen, Dorfklatsch, in austauschbarer Reihenfolge, so, wie es der Zufall gerade vorgab. Erfolge in diesen Disziplinen brachten kurzzeitig Ruhm und Ehre, wobei das Saufen als Schlachtfeld der Ehre, einen ungefährdeten Spitzenplatz einnahm. Mit den Mädchen war es etwas komplizierter, da gehörten dummerweise zwei dazu, was die Sache enorm erschwerte. Die Erfolgsmeldungen fielen da etwas spärlich aus, objektiv bewertet, fast nicht erwähnenswert.
Blieb noch die Musik. Blechmusik, im Kollektiv gespielt, in untrennbarer Verbindung mit dem Genuss größerer Mengen Alkohol, was nach einigen Stunden alko- blechmusischer Mühen das Problem mit den Mädchen nicht unbedingt vereinfachte.
Das Antrinken von Mut, führte unter Nichtbeachtung einer fließenden Verträglichkeitsgrenze des Genussmittels zum Vollrausch, in dessen Folge dann zum Gegenteil dessen, weshalb sich die Künstler den Mut antranken. In Ermangelung einer weiblichen Begleitung, die sich die Blamage einer volltrunkenen Begleitung ersparen wollte, wurde der Heimweg dann wieder in der Gemeinschaft spät pubertierender Schwachköpfe angetreten, so, wie sie gekommen waren.
Das war nicht seine Welt. Die Musik vergällte ihm einmal gründlich der Leiter des Schulchors. Dieser Dorf-Karajan und Rektor der Schule, identifizierte aus zwanzig Schülern gerade ihn als denjenigen, der durch seine falschen Töne den Wohlklang von zwanzig pubertierenden Stimmen störte. Er durfte sich nach dieser Bloßstellung in eine Bank setzen und malen. Die Deppen sterben nie aus!
Als nun offiziell ausgewiesener Nichtmusiker, war ihm dann auch der Zugang zum Musikverein erschwert. Er versuchte es erst gar nicht. Dumm war danach nur, dass er später auf diesen Veranstaltungen musikalischer Offenbarung nur zweite Wahl war, kein umjubelter Auftritt im Scheinwerferlicht mit einem blitzenden Instrument in der Hand! Ihm blieb nur die Rolle des Zuschauers und als Trost noch der Konsum von Alkohol, was unter Berücksichtigung der vorab erwähnten Probleme, keine rechte Begeisterung aufkommen ließ.
Die Mädchen, ausgenommen die, deren Anblick man durch Alkohol in ein gefälligeres Licht rücken musste, gefielen ihm schon gut. Sein Problem war nur, dass sie ihn alle gut kannten, ihn, den Stotterer. Die Jahre der Schulzeit ließen sich nicht vergessen machen. In diesen Kreisen war er chancenlos, das glaubte er wenigstens.
Vielleicht begeisterte er sich auch nur für die falschen Mädchen, genau für die, die ihn ignorierten, ihn allenfalls peinlich fanden. Für die anderen Mädchen hatte er kaum einen Blick übrig. Es mussten schon die allseits bekannten Dorfschönheiten sein, die anderen stellten ja auch ein Zumutung dar, fand er und musste vorerst mit den Konsequenzen dieser Ansichten leben.
Der Hoffnungslosigkeit seiner Situation bewusst, zog er sich so nach und nach, ziemlich frustriert, aus dem Dorfleben zurück. Sein neues Selbstverständnis, sein Selbstvertrauen, entstanden aus dem Neuen, das er kennen lernte, konnte nicht in die Mentalität der Dorfjugend eindringen. Die Entfremdung zu dieser Gemeinschaft war spürbar, zwar war er ohnehin nie innig mit ihr verbunden, doch es war bisher ein Teil seines Lebens.
Was sollte er tun? Das hier waren doch seine Wurzeln! Paralysiert wie ein Kaninchen, das den Biss der der Schlange erwartet, ließ er die Dinge auf sich zukommen. Gab es eine Lösung, einen Platz für ihn, auf dem er eine Rolle im Scheinwerferlicht spielen konnte? Er fühlte sich wieder einmal hilflos, machtlos, dem ihm anscheinend nicht sehr wohlgesonnenen Schicksal ausgeliefert. Die Glanzpunkte der vergangenen Monate relativierten sich angesichts der Realität der Gegenwart. Hier konnte er nicht bleiben, wo auch immer sein Platz war, hier war er bestimmt nicht.
Das Ausschlussverfahren zur Problemlösung, unter Berücksichtigung der Gegebenheiten, gestaltete sich einfach. Vergangenheit und Gegenwart waren als Grundlage des weiteren Lebens höchst ungeeignet, was blieb war die Zukunft, die Bewegung in die Zukunft. Nicht festhalten an Gegenwärtigem! Die Begriffe Heimat, Herkunft verloren für ihn ihre ideelle Bedeutung. Er wollte in die Welt zurück, in die Welt des gesellschaftlichen und politischen Lebens und deren Lebendigkeit und Veränderung.
So einfältig diese Vorstellungen auch sein mögen, sie zeigten ein Ziel auf und brachten damit eine gewisse Zuversicht in seine Zukunft zurück, aber auch die Erkenntnis, dass er seine persönliche Identität an anderer Stelle suchen musste. Wo das sein sollte, da hatte er keine konkreten Vorstellungen. Er wollte nur irgendwo, irgendwie seinen Platz finden. Dieser gedanklichen Konstruktion lag im Bereich seiner physischen Mobilität ein grundsätzlicher Denkfehler zugrunde, er war sechzehn Jahre alt, und in diesem Alter ist man etwas immobil.
Bewegen kann man sich auch geistig, es ist zwar lange nicht so aufregend, doch es ist besser als nichts zu tun. Aktualität über die Medien erlebt, vermittelt auch ein Gefühl des Dabeiseins. Es war damals alles in Bewegung, in Aufruhr. Die starre Gesellschaft der ewig Gestrigen wehrte sich mit Händen und Füßen gegen die längst überfällige Erneuerung ihrer Strukturen. Diese Forderung passte nicht in ihr naiv dümmliches Bild von einem starken Staat samt allmächtiger Obrigkeit und allgegenwärtiger, verlogener Moral.
Die Antipathie gegen solches Denken konnte er auf keine konkrete Erfahrung zurückführen. Es entstand aus dem Resümee seines bewussten Erlebens und dessen Bewertung bis dahin und dem ersichtlichen Unrecht der Mächtigen von gestern und heute an den Menschen. Die Unfähigkeit dieser Institutionen, human zu agieren und letztendlich aber auch das gedankenlose Abnicken jeglicher, denkbarer Inkompetenz durch das Volk, entsetzten ihn.
Inmitten des kalten Krieges, der Auseinandersetzung zweier verblendeter Ideologien, fand er keine politische Heimat, seine gefühlte Sympathie war jedoch stark linkslastig. Nicht, dass er mit den roten Machtblöcken dieser Welt sympathisiert hätte, diese diskreditierten sich schon durch die Unterdrückung ihrer eigenen Bevölkerung, nein, er fand die Ideen der Erneuerung, der Befreiung im eigenen Land beachtenswert und die entstammten nun mal dem linken Lager. Und diese Ideen, so wirr und so konträr, dass sie sich teilweise selbst im Weg standen, beeinflussten seine politische Meinung nachhaltig.
Die Protestbewegung mit all ihren Aktionen, ob nun sinnvoll oder moralisch richtig, was immer in der Sicht des Betrachters liegt, war ein Kampf einer wachen Gesellschaftsschicht gegen einen starren, übermächtigen Staatsapparat. Die Institutionen von Politik und Verwaltung verfügten nur über ein Mittel dagegen, Gewalt, wie sie es von jeher gewohnt waren, ausgeführt von meist begeistert prügelnden Polizisten, die so ihre Abneigung gegen langhaarige Intellektuelle ausdrucksstark zur Geltung brachten. Sie begriffen nicht, dass diese Menschen und deren Anliegen ihnen doch näher stehen sollten, als die Gesinnung ihrer Auftraggeber. Diese geprügelten, subversiven Elemente konnten seiner ungeteilten Sympathie sicher sein. Das Bemühen der Presse, die Proteste so zu positionieren, dass sie einen staats-, gar gesellschaftsfeindlichen Touch bekamen, beeindruckte ihn nicht weiter.
Eine erste Weiche in seinem neuen Leben war gestellt, die Solidarität zu allem und jenem, was dem Gutdünken einer Übermacht ausgesetzt war. Übermacht, Macht nährt sich aus der Ohnmacht der Machtlosen, sie dient nur sich selbst und ihrer Erhaltung. Diese Erkenntnisse waren zwar bewegend, doch das Einerlei seines Lebens schien sich davon wenig beeindrucken zu lassen.