Memento mori. Klaus Schneider Erich
unter Zwang in die Betreuung des Sonnenscheins eingebunden wurde, war das Verhältnis zu der Schwester vollends zerrüttet. Sein „Loser-Leben“ dehnte sich nun auch auf den Nachmittag aus. Kinderwagen schieben vor den Augen einfach urteilender Dorfkinder, schlimmer ging es wirklich nicht mehr.
Es fällt ihm immer schwerer, sich auf seine Gedanken zu konzentrieren. Er fühlt sich müde, leer, ausgebrannt. Was hält ihn davon ab, sich hinzulegen und zu schlafen, sehr lange zu schlafen, schlafen bis sich etwas verändert, etwas, was das Leben wieder lebenswert macht? Warum muss er für alles kämpfen, kämpfen für Minimales, nicht für die großen Dinge. Verfolgt ihn diese verfluchte Kindheit ein Leben lang?
Sicher gab es auch angenehmere Erlebnisse. Diese sollte er nicht vergessen, auch wenn sie, im Vergleich zum Alltag, höchstens wie einige sonnige Stunden in einem verregneten Frühling zu spüren waren. Er erinnert sich vage an einen Freund und an ein Mädchen, die sich aus irgendeinem Grund, sei es Mitleid, er weiß es nicht, mit ihm abgaben. Nach Jahren wurden es derer mehrere, so entspannte sich seine Situation außer Hause etwas. Zum Ende der Schulzeit fühlte er sich dann soweit integriert, dass es sich leben ließ, was bedeutete, dass er sich im Dauerregen mit einem Schirm schützen konnte, zwar einem kleinen, aber er wurde nicht mehr gänzlich nass.
Seine Seele war krank, krank vor Angst. Angst vor dem Versagen, Angst vor der Beachtung, Angst vor der Nichtbeachtung, Angst vor dem Reden. Er zitterte inzwischen wie ein Alkoholiker, er zitterte beim Essen, Trinken und Schreiben. Ein zitternder Stotterer, Hauptschüler. Der Besuch weiterführender Schulen lehnte seine Mutter ab, Stotterer schaffen das sowieso nicht!
Doch spürte er nur eine geringe Resignation. Er wollte doch leben und wenn auch nur auf bescheidenem Niveau, kleine Siege, kleine Erfolge und schon war er glücklich. Einmal beim Vorlesen nicht zu stottern, oder einmal eine Rauferei als Sieger zu beenden, welch seltenes, kostbares Kleinod! Bei einem solch seltenen Ereignis drohte ihm ein, den Streit beendender Erwachsener, er werde auch noch seinen Meister finden; dümmer ginge es wirklich nimmer.
Kleine Höhepunkte machten hin und wieder auch sein Leben lebenswert. Mit zunehmender Akzeptanz seiner Person in seinem äußeren Umfeld, widersetzte er sich nun der Tristesse seines Zuhauses, seinem emotional abwesenden Vater, seiner lieblosen Mutter und der sich zur Made entwickelnden Schwester. Seine Stellung innerhalb der Jugend war sicher nicht sonderlich hoch, aber wenn kein anderer da war, kein anderer seinen Platz beanspruchte, wurde er doch akzeptiert. Diese Stellung ertrotzte er sich gegen alle Widrigkeiten.
Und dennoch, er fühlte sich meist allein. Nachträglich herzlichen Dank der Frau, die er Mutter nannte, für ihre Hilfe! Danke für all das Verständnis, die Liebe und die tröstenden Worte, wenn die Verzweiflung kaum mehr zu ertragen war, danke für die zitternden Hände, das Stottern, die Ängste! Er weiß, er wiederholt sich.
Diese Frau klebt wie eine Klette an ihm. Er fühlt, er wird keinen Frieden finden, wenn er sich dieser posthumen Auseinandersetzung nicht stellt. Bei allem, was er denkt und fühlt, spürt er ihren kalten Atem. Steigt sie jetzt aus dem Sumpf seiner Gedanken in die Freiheit einer spirituellen Existenz auf? Eine seltsame Vorstellung, doch denkbar, er glaubt an das Ewige der geistigen Existenz. Nur wo sich all die geistige Energie aufhalten soll, ist ihm ein Rätsel, das auch das Studium gängiger philosophischer Ansichten noch nicht lösen konnte. Es bleibt ihm nur die Überlegung, wie er diese Auseinandersetzung führen soll. Es streiten sich in altbekannter Manier die Fraktionen Ablehnung und Verständnis. Sollen sie streiten, es eilt nicht, die Mutter stört noch Jahrzehnte sein Leben, er blendet sie erst einmal aus.
Es klingelt, ein älterer Herr steht an dem breiten Tor, dem straßenseitigen Zugang zu dem Innenhof des großen bäuerlichen Anwesens, das sie vor zwei Jahren mieteten. Durch die Terrassen Tür beobachtet er, wie seine Frau, begleitet von ihrem Hund, auf den wartenden Mann zugeht. Es kommen nicht viele Besucher, doch deren Anliegen sind meist die gleichen, sie präsentieren irgendwelche Verbindlichkeiten, Zahlungsaufforderungen und fordern deren Begleichung. Er kann sich nicht beklagen, alle sind freundlich, nett, sympathisch und entgegenkommend. Er versteht die vielen negativen Vorbehalte gegen diese Berufsgruppe nicht, sie können doch kaum für die missliche Lage ihrer „Kundschaft“ die Schuld tragen. Sie sind nur das letzte Glied in einer Kette von Fehlentscheidungen, Schicksalsschlägen, Dummheiten, und Pleiten ihrer Klientel. Ob Selbst- oder Fremdverschulden, die Ursache spielt letztendlich keine Rolle. Es bleibt das Problem des Schuldners, seine Verbindlichkeiten zu bezahlen. Unter diesem Aspekt beurteilte und behandelte er die Menschen, die sich mit ihm und seiner misslichen finanziellen Lage auseinandersetzten müssen. Es war in der Regel nie zu seinem Nachteil.
Seine Situation war eigentlich schon etwas sonderlich, man könnte sie als pervers bezeichnen, denn so wollte er sie. Zwar nicht ganz so, wie sie sich mit einer unkontrollierbaren Eigendynamik entwickelte, vom Prinzip her aber schon. Nun musste er damit leben, und mit seinen Besuchern. Eins hatte er erreicht, es konnte nur noch besser werden und die Erfahrung lehrte ihn, dass dies mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auch geschehen würde. Er musste immer wieder in seinem Leben ganz von unten neu beginnen, und verfolgte dabei die, in jeder menschlichen Existenz eingebundene Wellenbewegung, von Erfolg und Misserfolg. Er hoffte zwar immer, dass die Welle des Erfolgs ihn an die Oberfläche spülte und er dort verweilen könnte, doch entweder war die Welle des zeitweiligen Erfolges zu schwach, oder er konnte oder wollte sich da oben nicht festhalten.
Nicht alles ist Gold, was glänzt. Manche Erfolge verlieren bei rückblickender Betrachtung schnell ihren Glanz, oder man schätzte oder achtete die Erfolge nicht, sei es willentlich oder unwissend. Bei ihm war es ein Konglomerat aus all diesen Möglichkeiten. Er kostet es fast genüsslich aus, das Auf und Ab des Lebens. Nun wollte er diese, für ihn logisch richtigen Gesetzmäßigkeiten der Wechselwirkung von Misserfolg und Erfolg, für sich in Anspruch nehmen und in Konsequenz der Gegebenheiten den Erfolg einfordern. Brechen mit all dem, was ihn ein Leben lang belastete, angefangen mit seinem Beruf, den er nie liebte, höchstens akzeptierte. Mit allem neu beginnen. Darin sah er die einzige Möglichkeit, und sei sie noch so riskant, auf eine gute, lebenswerte Zukunft.
2
„Können sie sich vorstellen, dass ihnen ihre Mutter oder ihr Vater den Beruf aussucht?“ Seine Mutter tat es, sie griff regulierend ein, um ihre Vorstellungen, was für den Sohn gut zu sein hat, umzusetzen. Sein Wunsch, den Beruf eines Feinmechaniker oder Uhrmacher zu erlernen, eliminierte sie in einer gemeinsamen Aktion mit einem „Berufsberater“. Sie fand nicht gut, was er wollte, warum auch immer, und der Berater vom Amt stellte sich hinter sie, es war wohl einfacher für ihn. Der kleine Stotterer hatte in diesem Büroraum der Berufsberatung nie eine Chance sich durchzusetzen. Die Gegenseite verfügte über die besseren Argumente, er dagegen über fast gar keine, woher auch, er wollte es ja nur, eine unreife Spinnerei eben. Dagegen war das Ausbildungsangebot bei einer staatlichen Behörde, das der Berufsberater präsentierte, krisensicher, auch für kleine Stotterer und analog potentielle Versager.
Keiner sprach es laut aus, doch irgendwie spürte er, was sie dachten. Weitere drei Jahre Berufsfachschule für einen Beruf, bei dem ein Zitterer nach deren Meinung fehl am Platz war, das musste nicht sein. Dass der Beruf des Uhrmachers oder Feinmechanikers mit dem Beruf eines Bauzeichners gar nichts gemein hatte, fand in ihren Überlegungen keine Beachtung. So wurde binnen einer halben Stunde der kleine Loser umprogrammiert und fertig.
Etwas perplex und mit der Adresse der Behörde, wo er sich vorstellen sollte, ein paar guten Rat- schlägen für eine erfolgreiche Bewerbung und Vorstellung, sowie einer zufriedenen Mutter, trollte er sich. Was da eben passiert war, begriff er in der Kürze der Zeit nicht so recht, er musste wohl akzeptieren, dass er doch am allerwenigsten zu wissen schien, was gut für ihn sei. Sie hatten ihn einfach überfahren, ihm wie Staubsaugervertreter ihre Vorstellungen von seiner Zukunft verkauft.
Damals war die Berufswahl noch etwas fürs ganze Leben, eine schwer revidierbare Entscheidung. Gesellschaftlich toleriert wurden nur berufliche Aufstiege oder krankheitsbedingte Umschulungen, ansonsten blieb man in der Regel seinem Beruf von der Wiege bis zur Bahre treu. Eine vage Hoffnung, dass er seine Wünsche