Memento mori. Klaus Schneider Erich
Damals, als er noch ein kleiner Junge war, leiteten und betreuten diese Frauen meist die Kindergärten, und in einem solchen muss er sich gerade befinden. Doch was hatte er allein, ohne die anderen Kinder, in diesem Raum zu suchen, was wollten diese Frauen von ihm? Die Erinnerung verblasst. Nur noch Bruchstücke, zusammenhanglos, sind sichtbar. Eine ältere, stämmige, resolute Schwester, sie schien seine Bezugsperson zu sein, eine etwas dickliche, behäbige und zwei jüngere Frauen, hielten sich zeitweise ebenfalls in dem Raum auf. Der muffige Geruch, der merklich von den halbbekleideten Nonnen ausging, raubte ihm beinahe die Luft zum Atmen. Körperausdünstungen jeglicher Form ekeln ihn an, er spürt dabei nahezu körperlichen Schmerz.
Was wollten sie von ihm? Es gab doch zahlreiche andere Kinder; sicher er war ein zarter, hübscher Junge. Warum kann er sich an nichts mehr erinnern, als an diese eine Szene, warum erinnert er sich überhaupt daran? Ist es einfach nur eine Momentaufnahme, ein Bild, ohne weitere Bedeutung, ohne Geschichte? So recht kann er diese Deutung nicht glauben, irgendwas in ihm wehrt sich dagegen. Diese Begebenheit, Jahrzehnte später Thema einer Therapiestunde, veranlasste den Therapeuten das Wort „Missbrauch“ in den Raum zu stellen, „weitläufig definiert“, wie er noch ergänzend anmerkte.
Es macht ihn nachdenklich, er versucht die Eigendynamik seiner Reise zu unterbrechen und zu verweilen, vielleicht gibt es ein paar redseligere Eindrücke, überdrüssig ihres Statistendaseins und gewillt, die Szene zu beleben. Stille, keiner traut sich, keine Souffleuse gibt ein Stichwort. Resignierend lehnt er sich zurück. Was soll diese Reflektion auf sein bisheriges Leben bringen, wenn sich nur die Fragen manifestieren? Er spürt jedoch einen Drang, eine Unruhe, so schnell will er noch nicht aufgeben. Er fühlt es, irgendeine prägende Begebenheit, unguter Natur, verbirgt sich hinter dieser Mauer des Vergessens. Seine Lethargie, zu Beginn seines Nachdenkens noch dominierend, weicht einer leichten Euphorie. Im weiten Spektrum seiner Gedanken und Gefühle tauchen verschüttet geglaubte Begriffe auf, wie „ ich habe ein Ziel, ich will das unbedingt“. Erregende und auch gleichzeitig besorgniserregende Gedanken!
Kann etwas Aufregendes oder anregendes denn Besorgnis auslösen? Es kann, wenn das Ziel nicht klar, der Erfolg nicht messbar und der Aufwand unkalkulierbar ist. Vor geraumer Zeit handelte er weitaus pragmatischer: Schublade auf, Vergangenheit rein, zu sperren und den Schlüssel wegwerfen. Ein plausibles Verhalten, nur wenig nützlich, wenn diese Schublade, das Archiv der Seele und des Unterbewussten, vollgestopft und überquellend mit Ereignismüll, im Besitz eines Ersatzschlüssel ist und sich öfters Platz schafft.
Seltsam, dass er sich an dieses Ereignis erinnert. An seine Eltern ist kaum eine Erinnerung aus dieser Zeit vorhanden. Vage glaubt er die Stimme der Mutter zu hören, die so etwas wie Stolz ausdrückt, dass ihr Sohn von den Schwestern bevorzugt wird. Für sie persönlich scheint dies eine Ehrung, eine Aufwertung ihrer Person, gewesen zu sein.
Was um alles in der Welt war in seinen ersten Lebensjahren los? Irgendwas im Leben dieses Knaben ist in irgendeiner Form abnorm verlaufen. Die Bemerkung eines Arztes fällt ihm ein, der sich auf Grund einer körperlichen Anomalie erkundigte, ob er als Kleinkind, eine nicht behandelte Rachitis hatte. Die Nachfrage bei der Mutter und seiner Oma löste bei beiden eine heftige, empörte Verneinung aus. Etwas zu heftig, zu emotional für seinen Geschmack, und mit der unausgesprochenen und doch unüberhörbaren Aufforderung „Frag nie wieder“! Ein seltsames Verhalten, oder nicht?
Seine Mutter – eine Zumutung für ein Kind! Eine lapidare Aussage, die ihm dennoch so treffend vorkommt. Es ist sicher eine diskreditierende Bemerkung, doch gedacht ohne Reue und entschuldigenden Nachsatz. Die Struktur ihrer Psyche wies Vergleiche mit der eines Geröllfeldes auf, nur mit Mühe und Risiko begehbar, ein Straucheln immer möglich und kaum zu verhindern. Eine unerschöpfliche Fundgrube für jeden Psychologen, Lebenswerk inklusive seiner Habilitation. Wäre der Begriff „widersprüchlich“ nicht schon im Sprachgebrauch verankert, für sie müsste er eingeführt werden. Er spürt eine leichte Müdigkeit. Nein, das ist keine Müdigkeit, es ist purer Frust. Die Erinnerung an diese Frau zehrt an den Eingeweiden seiner Seele. Er fühlt sich wie ein kurz vor dem Bersten stehender Dampfkessel. Seine ganze Erregung und Unruhe windet sich um diese Person. Ein Wesen, für ihn unbegreiflich, unbekannt, nur aus unerfreulichen Erinnerungsfetzen bestehend.
Es kann doch nicht sein, dass eine Mutter, die in der allgemeinen Begriffsdefinition des Wortes, etwas mit Liebe, Geduld, Fürsorge und Verständnis zu tun hat, keine positive Gefühlsregung, weder spontan noch zeitlich versetzt, auslöst. Er unterbricht seine Gedanken, unfähig sich zu konzentrieren, und starrt wieder zum Fenster hinaus. Die Schatten der Wolken treiben mit dem Wind über die Kornfelder. Ein Spiel der Natur, beruhigend, einnehmend. Seine Gedanken legen sich in die wogenden Pflanzen wie in eine Wiege, die sich sanft bewegt. Könnte er diesen Augenblick anhalten, er würde es ohne Zögern tun und alle Zeit beenden. Aussteigen, umsteigen, ein Teil der Natur sein, eingebettet in diesen Kernbegriff allen Seins, losgelöst von einer erbärmlichen Existenz mit ihren banalen und doch so existenziellen Problemen.
Weglaufen, er fragt sich, warum er als Kind nie weggelaufen ist, was hat ihn abgehalten? Stärke oder Schwäche? Kam ihn nie der Gedanke, es zu tun? Gründe waren zu Hauff vorhanden, täglich präsent. Die langsame, unmerkliche Gewöhnung ist wohl die Basis allen Erduldens. Er musste sie lange erdulden, diese Mutter. Viele Jahre war sie gegenwärtig, eine unüberwindliche, festgeschriebene Tatsache. Die Abhängigkeit von ihr, in ihrer Intensität nach dem Lebensalter zwar abgestuft, war die Basis seines Lebens, seines Überlebens. Zurückblickend stellt sich die Frage, ob er das Leben so wollte?
Damals, als Kind, stellte sich die Frage etwas anders. Wollte er leben? Ja, das wollte er wohl, wie die anderen Kinder auch. Er wollte wie andere Kinder eine Mutter haben, sicher ohne die Kenntnis, wie andere Mütter waren, doch er fühlte, dass ihm etwas fehlte. Was ihm fehlte, konnte er nur ahnen. Die passenden Begriffe sind einem Kind noch nicht geläufig, es kennt die Worte nicht, um seine Gefühle zu beschreiben. Ähnlich einem Erwachsenen, der über seinen begrifflichen Horizont hinaus zu denken versucht und sein Denken, seine Vorstellungen in Worte fassen möchte, Worte die er nicht kennt, ein unverständliches Gestammel.
Die ersten schemenhaften Erinnerungen an die Mutter beginnen mit der Geburt seiner Schwester, eine Hausgeburt, im Schlafzimmer der Eltern. Im Wohnzimmer eines alten, maroden Bauernhauses, wartete er mit seinem Vater auf etwas. Er kann sich weder an seinen Vater noch an ein Gefühl erinnern, es bewegte ihn nicht sonderlich, seine sechs vergangenen Lebensjahre bescherten ihm anscheinend wenig emotionale Reife.
Nach einiger Zeit des Wartens, sein Vater ging schon früher ins hintere Zimmer, riefen sie auch ihn. So, nun freue dich, du hast jetzt ein Schwesterchen! So oder so ähnlich lautete ihr Verlangen bei der Vorstellung dieses runzligen, hässlichen Wesens, das da bei der Mutter lag. Die glücklich strahlenden Gesichter von Vater und Mutter und einer älteren Frau, einer Hebamme, wirkten auf ihn hämisch und abstoßend. Alles wegen diesem Ding da? Er verstand überhaupt nichts. Nicht, dass er den Zuwachs ablehnte, er war ihm einfach gleichgültig.
Diese Begebenheit hätte jetzt bei weitem nicht so eine Bedeutung, wenn er nicht ab dieser Zeit in den Genuss der unerschöpflichen Vielfalt menschlicher Unzulänglichkeiten und Abgründe gekommen wäre. Mutter und Tochter, Vater und Sohn. Nein, das ginge ja noch, doch es stellte sich anders dar: Mutter und Tochter, ein Vater und ein Sohn. Sein Dilemma: Er war allein. Die Mutter verfuhr nun nach dem einfachen Prinzip: Klappt es mit dem alten Kind nicht, leg es beiseite und versuche es mit etwas Neuem. Somit hatte er ausgespielt, er war nun ein Kind zweiter Wahl. Der Vater, in sich zurückgezogen, depressiv, kaum zu einer stabilen Gefühlsregung fähig, schien keine rechte Hilfe für ihn und schon gar kein Gegenpol zu dem weiblichen“ Duo Infernale, “ Mutter und Tochter.
Nun, die Welt drehte sich in der Hauptsache fortan um die Tochter der Familie. Zielstrebig trieb die Mutter seine Demontage voran, hatte sie jetzt doch Ersatz für ihn... und zwei Kinder waren für sie eines zu viel. Keine Zuneigung zu erhalten und nicht zu wissen, was das ist, Zuneigung, ist mit einer Portion angeborener Ignoranz sicher lebbar, auch für ein Kind. Zu sehen, was das ist, Zuneigung, und sie dann nicht zu erhalten, das ist bitter für ein Kind.
Die Entfremdung wuchs, unterschwellige,