Memento mori. Klaus Schneider Erich

Memento mori - Klaus Schneider Erich


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Zeit der Entbehrung nicht wichtig. Wichtig war das Dazugehören, auf den Zug seiner Entwicklung aufzuspringen und nicht wie bisher als inaktiver Betrachter zu verharren.

      Seine bisherige Lebensphilosophie war in die­sem Bereich nicht mehr zu halten. Doch es gab eine Verknüpfung zwischen bewährter Zurückhal­tung und offensiver Agitation, offensive Zurückhal­tung. Was nichts anderes bedeutete, als seine ver­bliebene Unsicherheit als vornehme Zurückhaltung zu verkaufen. Interessiert aber introvertiert, das hob ihn anscheinend von der Masse balzender Jüng­linge ab.

      Das andere Geschlecht beachtete ihn, vielleicht nur als Alternative, diese Möglichkeit bedachte er nicht weiter, es spielte für ihn keine Rolle. Die Einstellung zu sich selbst, seinem Aussehen, seiner Attraktivität gedieh so weit, dass er sich selbst nun ein Stück weit akzeptierte. Kleine Kratzer in die­sem Selbstimage bügelten sich von selbst aus. Ein neuer Lebensinhalt fand Einlass. Mädchen, Frau­en, er verlangte nach ihrer Nähe, ihrer Zuneigung, ihren Körpern. Er, der frühere Loser, verbuchte uner­wartete Erfolge, Selbstläufer ohne größere Mühe oder affiges Gebalze.

      Die unendliche Vielfalt weiblicher Wesen, insbesondere die, die sich für ihn interessierten, brach­ten ihn alsbald zu einer bedenklichen Erkenntnis. Er konnte fast keiner Versuchung widerstehen. Süchtig nach der Bestätigung seines Egos, das wie ein trockener Schwamm eine Unmenge von im­mer neuen Erfolgen aufsog. Unersättlich war die Gier danach. Beziehun­gen mussten keine Offenba­rung von tiefer Liebe oder erregendem Sex sein, allein die Anzahl stand als Maß für den Er­folg.

      Getrieben von dieser Manie, fand er lange Zeit keine Ruhe in einer Beziehung. Der Reiz des Neu­en war zu stark, als dass er ihm hätte widerstehen können oder gar wider­stehen wollen. Ein neues Gesicht, ein verführerisches Lächeln, ein erregender Körper, Erwartungen und Hoffnungen, ein Feuerwerk von Fantasien und Träumen. Dagegen war bei lang dauernden Beziehungen doch nur de­ren Ende sicher und meist erst nach unerfreulichen Auseinandersetzungen Eine Beziehung diente ei­gentlich nur einem Zweck, seiner Bestätigung als Mann, was er damals auch immer darunter ver­stand.

      Durch seinen sensiblen Charakter gestaltete sich das Ende einer Beziehung immer zu einer be­schwerlichen Prozedur. Daher löste er sie passiv. Er bezeichnete das da­mals als genial, er zog sich einfach still und leise aus dem Leben eines Mädchens zurück und verschwand. So versuchte er, das seinem sensiblen Wesen abträgliche Stimmungstief einer un­schönen Szene, zu ersparen.

      Auch eine weitere Lebensweisheit zeigte sich ihm in jener Zeit: Komme immer drohenden, nicht abzuwendenden Niederlagen zuvor. Der Demütigung, die eine Beendigung der Beziehung, initiiert durch die andere Seite, mit sich brachte, beugte er nach einigen de­moralisierenden Erlebnissen kon­sequent vor. Jede spürbare Disharmonie, ob nun gewichtig oder nicht, war Anlass genug, zur Ver­meidung von eigenem Schaden an Leib und Seele, die Bezie­hung seinerseits in bewährter Manier zu beenden.

      So schützte er den zarten Trieb seines neuen Selbstwertgefühles. Egoistisch, feige, das mag alles zutreffend sein, nur er würde alles tun um nicht nochmals in die unteren Sphären der Bedeutungslo­sigkeit seines Selbst abtauchen. Sicher hatte er ein schlechtes Gewissen, seine Sensibilität war nicht nur Ich – bezogen. Er mochte die Mädchen ja, respektierte sie, ging auf sie ein, ob er eine einmal wirklich geliebt hat, würde er jedoch bezweifeln. Das Gefühl der Liebe war damals, so wie er sie heute versteht, noch nicht in seinem Repertoire. Wie auch? Dazu fehlte ihm jegliche Erfahrung.

      Er lehnt sich zurück, viele Tage waren inzwischen vergangen, seit er die Reise zu sich, zu dem, was ihn formte, begann. Wie oft hat er sich die Frage nach dem Sinn seiner Existenz gestellt. Es waren oft keine besonders sinnvollen, tief greifenden Überlegungen. Diese Fragen stellt sich wahrscheinlich jeder Mensch, besonders dann, wenn seine Lebensumstände psychische oder materielle Tiefpunkte erreichen.

      Die Beantwortung dieser eigentlich existenziellen Frage erledigt sich meist von selbst, indem sie sich nach mehreren fruchtlosen Überlegungen nicht mehr stellt. Der fragende Mensch verlässt ent­weder irgendwann das Tal der Tränen oder er ertrinkt darin. Beide Möglichkeiten beenden in ihrer Konsequenz die Beschäftigung mit sich selbst.

      Heute steht er an einem Wendepunkt, vor der Entscheidung, wohin sein Weg gehen soll und gibt damit seinem Leben einen neuen Sinn. Ein ruhiges, gutes Gefühl, in dieser scheinbar zeitlosen Zwi­schenwelt zu verharren, sicher in der Dauer begrenzt, doch im Moment ist dies ohne Bedeutung.

      Jahrelang duldete er nur Fragmente seines früheren Lebens in seinem Bewusstsein, sich wohl be­wusst um das Risiko einer eskalierenden Reflexion, auf seinen Gemütszustand. Die in jüngerer Zeit vorgekommenen Schwierigkeiten und Probleme glich er, oder es übernahm eine unbewusste, neuro­logische Funktion seines Gehirns, mit den Erkenntnissen der Vergangenheit ab, um in diesem Kon­text zu einer Bewertung des Gestern und des Heute zu finden. Sicher in der Sache richtig und zutref­fend, doch er hat nicht das Gefühl, dass dies ihm weiterhalf.

      Wenn er von dem etwas nüchternen Bild und dem Resultat seiner bisherigen Erinnerung absieht, so rührt sich eine andere, konträre Erinnerung, ganz zaghaft, als würde sie sich für ihre Existenz ge­nieren. Verschüttet zwischen dem Müll der dominanten, prägenden Erlebnisse, gab es sie doch, die schönen Begebenheiten in seinem früheren Leben. Bescheiden, im Hintergrund verborgen, einge­schüchtert durch die Mächtigkeit des nachteiligen Gesamtbildes.

      Er erinnert sich an die Gerüche des Frühlings, an Blumenduft, eingelagert in einer lauen, frischen Frühlingsluft, die durch ein weit geöffnetes Fenster an ei­nem Morgen in das Klassenzimmer strömte. Ein außergewöhnliches, tiefes Empfinden, in einer der sonst so gefürchteten Schulstunden. Eine Im­pression, die in ihrer Deutlichkeit nach fünfundvierzig Jahren verblüffend ist.

      Auch der prägnante Geruch von frisch umgegrabener Erde, Erinnerung an eine Ferienarbeit, wo er mit Kartoffellesen bei Bauern der Umgebung sein Taschengeld aufbesserte. Damit verdiente er sich als Schüler sein erstes eigenes Geld, ein gutes Gefühl.

      Dann die langen, hei­ßen Sommer, Schüsseln voll mit Eis, welches er Sonntagmittag mit dem Fahr­rad vom Konditor holen durfte. Diese Sommertage heizten sich manches Mal so auf, dass sich der Teer auf der Straße ver­flüssigte und an den Fahrradreifen und Schuhen haften blieb.

      Nachmittage im Freibad, er spürt noch das Wassers und die kühle Feuchte der Luft, die von den Duschen vor den Schwimmbecken bis zum Liegeplatz zu fühlen war. Eigenartig riechende Umklei­dekabinen, mit den ewig nassen Holzrosten am Boden. Dumpfer Lärm der Kinder vom Schwimm­becken, schmer­zender Sonnenbrand auf der Haut.

      Sonnenbaden, eine Leidenschaft, schon als Kind exzessiv betrie­ben, führte ihn einmal vom Schwimmbad über einen bedenklich blickenden Hausarzt, auf direktem Weg ins Krankenhaus. Das alles nur, weil er zusammen mit einem anderen Deppen ein Bräunungskonzept aus Südfrankreich auf der Grundlage von Olivenöl, ersatzweise übliches, im Haushalt vor­handenes Sonnenblumenöl, ausprobierte. Eine schmerzhafte Erkenntnis!

      Zur Abkühlung solch hitziger Erinnerungen schweifen diese in die Winterzeit ab, wo sich in man­chen Jahren der Schnee so hoch am Straßenrand auftürmte, dass er als kleiner Junge staunend vor dieser mächtig weißen Wand stand. Er fühlt auch noch die eiskalten, schmerzenden Hände und Füße, den Schnee, der unter den schwarzen, hohen Schnürschuhen knirschte und die klare, flim­mernde Winterluft.

      Seine ersten Skier bekam er im Alter von sechs Jahren, selbst gemacht von seinem Vater. Skifah­ren, das war etwas Besonderes, da gehörte er zu den Besten. Bei den Skirennen des Skivereins be­zwangen ihn nur die Söhne reicher Eltern, die ihr Können aus dem Skiurlaub, den sie regelmäßig mit ihren Familien in den Bergen verbrachten, ausspielten.

      Seine Skipisten dagegen waren ausschließlich die Hügel nahe seinem Heimatdorf, nicht steil, nicht spektakulär, doch sie waren täglich zu erreichen und es kostete nichts. Die Pisten präparierten die jungen Fahrer mit ihren Holzbrettern selbst. Es war nicht viel, doch genug und da sie alle nichts an­deres kannten, gab es auch keinen Grund, unzufrieden zu sein. Ein schönes Gefühl, wenn sie dann gemeinsam am Abend, meist viel zu spät, mit roten Gesichtern und halb erfrorenen Füßen, die Ski­ern auf den Schultern, zum Dorf zurück liefen, und er gehörte dazu, anerkannt und respektiert.

      Von solchen Eindrücken


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