Memento mori. Klaus Schneider Erich

Memento mori - Klaus Schneider Erich


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ihm schon nach der kurzen Zeit seiner Abwesenheit etwas fremd vor. Auch vermisste er die Ausnahmestellung als Praktikant. In dieser Welt war sein Platz klar defi­niert: er war der Lehrling, der Geringste der Geringen.

      Seine Stellung war weder gut noch schlecht, doch seine Meinung, falls er sich traute, sie zu äußern, wurde allenfalls wohlwol­lend ignoriert. Nur stand er sich jetzt einen höheren Wert zu als früher und begann sich gegen die Dienstgrad bedingte Dominanz der Kollegen aufzulehnen. Na­türlich vorerst still für sich, so ganz sicher war er sich doch nicht, ob er da wirklich dagegenhalten konnte. Intellek­tuell fühlte er sich durchaus zum Mitreden berufen, doch das Stottern meldete sich immer wieder zurück, was dann manchmal zu peinlichen Situationen führte.

      Seine Meinung nicht artikulieren zu können, eine bekannte, wenig erfreuliche Situation. Instinktiv vermied er die Situationen, die ihn in Gefahr bringen konnten. Er blieb der kritische Zuhörer und Beobach­ter, vermied Äußerungen in der Gruppe, zog den Dialog mit einzelnen Personen vor. Zu­hören und beobachten brachten ihm aber unschätzbare Erkenntnisse über seine Mitmenschen, ihre intellektu­ellen Fähigkeiten und ihre oft selbstgefällige Moral.

      Profiliersüchtige Egoisten mit allerlei Halbwahrheiten ausgestattet, diese fatale Kombination führte oft eine Diskussion ins Absurde. Dann boten sie ein Bild des Jammers, diese biederen Lichtgestalten der Mittelschicht, alles und doch nichts wissend, Treibgut im Strom von angepassten Meinungen und politischen Mehrheiten. Einige Ausnahmen, sehr dünn gesät, aber doch vorhanden, blühten meist im Verborgenen. Das Bedürfnis, der kollektiven Dummheit zu widersprechen lag vielleicht nicht in ihrem Interesse, oder es fehlte ihnen der Mut, sie gaben ihre Gedanken, ihr Wissen selten preis.

      In dieser Zeit geriet seine Duldung von Autoritäten in eine noch tiefere Krise. Bis dahin akzeptier­te er sie, seien es Eltern, Lehrer, Pfarrer oder Chefs, er duldete diese Menschen mit einer Leitfunk-tion. Er sah die Autorität als Sache im Konsens von Leiten, Ordnen zum Ablauf aller lebensnotwen­digen Vorgänge, als erforderlich an. Dies stellte er auch weiterhin nicht in Frage, jedoch die Perso­nen, die diese Autorität verkörperten wurden zur Zielscheibe seiner Kritik.

      Die wohlwollendste Definition von Autorität wäre die: Personen mit einer starken Persönlichkeit, einem hohem Ansehen und her­vorragenden fachlichen Kenntnissen. Das stellt so etwas wie ein charakterlicher oder fachlicher Selbstläufer dar, ein gedachtes Ideal. Dass diese märchenhafte Ausle­gung ein Wunschtraum ist, liegt in der Natur des Menschen, der selten in der Lage ist, solche Ideale zu beleben.

      So muss man diese Definition der Realität anpassen und feststellen: Autorität wird von autoritären Personen verkörpert, die die Welt und ihre Mitmenschen aus einem rigiden machtorientierten Blick­winkel betrach­ten. Sie verhalten sich meist rücksichtslos gegenüber Untergebenen, ihr Verhalten ge­genüber Hö­hergestellten ist devot, unterwürfig, was sie in gleicher Reihenfolge von ihren Unterge­benen erwar­ten. Ein bewährtes System, seit Menschengedenken auf Herz und Nieren getestet und für gut be­funden.

      Auch sein bis dahin zwangs- geachteter Ausbilder, der stramme Ex-Offizier, fiel bei akribischer Beobachtung seines Verhaltens gegenüber Vorgesetzten und Untergebenen in diese Kategorie der rea­len Definition von Autorität. Konnte er diesem Menschen Achtung, gar Respekt zollen? Einem Menschen, der um seines Vorteils willen gelegentlich sämtlichen Stolz und Würde außer Acht ließ, der geäußerte Meinungen gänzlich revidieren konnte, wenn sich diese als nicht konform mit den An­sichten seiner Dienstherren erwiesen. Der willig jede Laune seiner Oberen als Durchlaufposten an seinen Untergebenen weiterreichte. Vorbilder stellte er sich anders vor. Wie Vorbilder gestrickt sein sollten, das abstrakte Ideal einmal außer Acht lassend, wusste er nicht, er kannte ja nun, bei kritischer Betrachtung des vorhandenen Angebotes, keine mehr.

      Der Mangel an präsenten Vorbildern oder Autoritäten im besten Sinn, bergen gewisse fundamen­tale Probleme in der Entwicklung eines jungen Menschen. Der Ideologie einer aufbegehrenden Ge­neration, die alles Autoritäre prinzipiell ablehnte, konnte er theoretisch einiges abgewinnen, mit den idealisierten Vorbildern dieser Weltanschauung hatte er aber seine Probleme. Bei näherem Betrach­ten zeigten sie alle einen eklatanten Mangel auf, einen rücksichtslosen autoritär­en Charakter oder weltfremde, unrealistische Ideen. Sie waren allesamt höchstens als Gegenpol zu ihren ideologischen Pendants der Gegenseite zu verwenden.

      Menschen, die sich selbstlos in den Dienst einer gerechten Sache stellen, sind rar und wenn sie nä­her betrachtet werden finden sich zahl­reiche Leichen in ihren Kellern. Er dachte die Reihen von in­ternationalen Persönlichkeiten durch, Nelson Mandela, Mahatma Gandhi oder Martin Luther King, der vor kurzem ermordet wurde. Ge­waltlosigkeit hatte schon etwas beeindruckendes, aber auch et­was Demütiges an sich. Er fand keinen rechten Zugang zu dieser Philosophie.

      Siegertypen, ehrlich, aufrecht, gerecht… er fühlte selbst, dass er ins Absurde abglitt. So schön be­ruhigend inspirierende Fantasie auch sein kann, einer Lösung brachte es ihn nicht näher.

      Jesus als Vorbild, na ja, wenn seine Nachfolger nicht wären, spräche si­cher einiges für diesen Typ. Nur dieser Begriff „christlich“ war im Laufe der Geschichte mit so vie­len Schrammen und Beulen verunstaltet worden, dass man nicht mehr recht erkannte, für welche Moral dieser Begriff eigentlich stand.

      Zu gut konnte er sich noch an den Religionsunterricht seiner Schulzeit erinnern. Er bekam in die­sem Fach immer gute Noten, wahrscheinlich weil er nie störte und den Mund hielt. Wenn er ein „Kindlein“, das „Jesulein“ schön in Farbe malte, oder durch regelmäßigen Besuch der Gottesdienste dem Pfarrer auffiel, bekam er ein Fleißbildchen, so ein Scheiß!

      Christlich, Kirche, Pfarrer, Vikar, Nonnen, Bischof Papst, nein danke. Das waren alles Begriffe, die negative Gefühle zuließen, sei es aus eigenem Erleben oder auch durch eigenes analysieren der Widersprüchlichkeit dieser Spezies. Außerdem war es absolut nicht zeitgemäß, seine politischen Denkstrukturen in einen Kontext zur christlichen Lehre zu stellen. Das war ihm zu kompliziert, es waren zu viele Differen­zen vorhanden, die seine damaligen, intellektuellen Fähigkeiten überforder­ten.

      So wurden die Fronten wenigstens nicht verwischt und wenn schon keine Vorbilder vorhanden schienen, dann wenigstens klar definierte Feindbilder. Diese betrachtete er recht unbekümmert und da sie seiner Meinung nach nicht zum Vorbild taugten, konnten sie, logischer Weise, als Gegner be­trachtet werden. Der Einfachheit halber überprüfte er diese Denkoperation nicht explizit, das hätte nur Ver­wirrung gestiftet und die Sache verkompliziert.

      Die Konsequenz seiner Klassifizierung verwirrte ihn zuletzt dann doch etwas, es stellte ein eklatan­tes Ungleichgewicht zwischen schwarz und weiß dar. Grautöne hatte er nicht berücksichtigt, wurden sie doch ebenfalls negativ bewertet. Die Menschheit schien sich, als Resümee dieser einfachen Ana­lyse, überwiegend aus Arschlöchern zusammen zu setzen. Diese grundsätzliche und prägende Orien­tierung vollzog sich ohne präzises Hintergrundwissen von gesellschaftspolitischen oder sozialen Zu­sammenhängen. Das sogenannte Bauchgefühl brachte dies zu Wege, und rückwirkend betrachtet, war er gut beraten damit.

      Nur zeigte sich diese Ausrichtung leider nicht richtungsstabil. Waren bis gestern ein Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, ein Finanzminister Franz Josef Strauß, auf Grund ihrer früheren und späte­ren Verfehlungen, als Repräsentanten der Regierungsgewalt, klare Unpersonen, so verlangte der so­zial- liberale Regierungswechsel zwangsweise ein Umdenken. Die Absichten des neuen Kanzlers Willy Brand machte eine klare Abgrenzung zu den Machthabern und deren Klassifizierung schwie­rig. Das Bekenntnis zum gesellschaftlichen Wandel, inneren Reformen, und letztendlich mehr De­mokratie, ohne Scheu vor Experimenten. Das hörte sich fast so revolutionär an, wie die Thesen der APO, es erweckte zumindest Hoffnung.

      Ob er diesen Bekenntnissen Glauben schenken konnte, wusste er nicht. Doch standen die Begriffe Freiheit, Reformen, mehr Demokratie und Wandel wie leuchtende Sterne am trüben Himmel deut­scher Politik. Prokla­miert von einer Person, die über die Macht verfügte, diese Ideen zu realisieren, das hörte sich doch gut an. Er be­schloss, seine Antipathie gegenüber der Regierungsgewalt vorläufig auf Eis zu legen und abzuwarten, was an Veränderungen kommen würde.

      Seine Sympathie für alles Gedankengut aus dem Lager der Außerparlamentarischen Opposition bestand unabhängig


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