Voll erwischt. Ellen Sommer

Voll erwischt - Ellen Sommer


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Direktor ist noch in einer Besprechung“, ließ mich die Schulsekretärin wissen und ich kaute auf meiner Unterlippe herum, weil ich mich nicht entscheiden konnte, ob ich mich setzen oder auf und ab laufen sollte. Rumstehen war noch nie meins gewesen und ich hörte die Sekundenzeiger der Schuluhr vor sich hinschleichen.

      Schlag Acht mit dem Gong ging die Tür zum Büro des Direktors auf und heraus kam Direktor Hofmann, mit einem Schwung, den man einem Lehrkörper dieser „ehrwürdigen Schulanstalt“ (wie Oma bei der Anmeldung meinte) gar nicht zugetraut hätte. Er hatte das obligatorische Direktoren-Taschentuch zum Stirnabwischen dabei und lächelte mich aufmunternd an: „Ja, hallo Frau Dechamps! Einen guten Start hier an unserer Schule. Ich werde Sie gleich mal zu ihrer Klasse bringen. Frau Sailer, haben Sie ihr schon den Stundenplan gegeben und die Bücherliste? Nein? Die brauchen wir jetzt aber sofort.“

      Frau Sailer händigte sie ihm mit einem genervten Augenaufschlag aus: „Ich soll sie doch nicht schon vorher rausgeben, das wollen Sie doch immer so…“

      Er drückte mir die beiden Zettel in die Hand und meinte, es würde reichen, wenn ich die Bücher im Laufe der Woche besorgen würde, die anderen hätten dafür ja schon in den Ferien Zeit gehabt. Während ich ihm hinterher trabte - er sah gar nicht so sportlich aus mit seinem Bauch - warf ich einen Blick auf die Liste. „Effi Briest“ hatten wir letztes Jahr schon gelesen – o.k. das war ja schon Mal nicht schlecht. Nicht, dass jetzt irgendwer meint, ich hätte das Buch gemocht, aber ich konnte mich noch ziemlich gut daran erinnern und würde es nur noch mal überfliegen, aber nicht mehr komplett lesen müssen.

      Wir mussten nochmal runter ins Erdgeschoß. Dort bog er von der großen Treppe nach rechts, es ging mehrere Gänge auf und ab und am Ende hatte ich keinen Plan mehr, wie ich jemals wieder zur Eingangshalle zurückkommen sollte.

      Während des Marsches erklärte er mir zwar knapp, dass die blauen Türen im Zwischenbau und die roten Türen im Neubau seien, doch dann ging es zwei Etagen hoch und er hielt vor einer orangefarbenen Tür (ganz oben waren sie gelb). Er klopfte zwei Mal und ging dann vor. Ich trat hinter ihm in die Klasse und schaute nur auf die Lehrerin. „Frau Maier, das ist die neue Schülerin Lille Dechamps, sie wird ab heute in ihrem Deutschkurs sein“, und verschwand dann einfach, ohne ihre Reaktion abzuwarten.

      Ich blieb stocksteif stehen. Frau Maier ließ ihre Brille auf die Nasenspitze rutschen und musterte mich mit strengem Blick. Ich hätte schwören können, dass es in ihren Augenwinkeln kurz zuckte, als sie beim „Yolo“ ankam, aber ihr Gesicht blieb wie aus Stein gemeißelt. Ich spürte, wie sich langsam Schweißperlen auf meiner Stirn bildeten und es in meinem Bauch zog, aber ich schaute sie nur mit weit aufgerissenen Augen an und wartete auf irgendeine Reaktion.

      „Soooo, dann einen guten Start, such dir einen Sitzplatz“, nickte sie kurz und wandte sie sich wieder an die Klasse. Ich drehte mich um. Gleich neben der Tür erblickte ich ein Paar schwarze Schnürstiefel und daneben war ein Platz frei. Ich sprang auf den Sitz und machte mich klein. Hoffentlich war der Platz nicht für irgendwen freigehalten und ich müsste noch einmal aufstehen. Ich traute mich nicht nach links oder rechts zu schauen, da schob sich von rechts ein Buch zu mir rüber. In der oberen Ecke stand ganz klein geschrieben: „Hi, ich bin Sara.“ Ich blickte kurz nach rechts und schaute in ein Paar schokobraune Augen, die von ellenlangen schwarzen Wimpern umrahmt waren und von innen her zu leuchten schienen. Ich sagte nichts und versuchte tapfer zu lächeln.

      “Wenn Sie dann so freundlich wären und dem Unterricht folgen würden, dann könnten wir unser Lernziel auch in diesem Schuljahr noch erreichen...“, giftete Frau Maier dazwischen.

      Ich wurde knallrot und schaute zu Frau Maier, die vor der Klasse auf und ab stolzierte und eine Liste diktierte mit zusätzlich benötigtem Material. Nicht genug, dass wir bis Ende der Woche „Effi Briest“ komplett gelesen haben mussten, nein, wir sollten bis dahin auch noch einen Essay übers Lesen schreiben. „Warum lesen wir?“, war die genaue Aufgabenstellung, die in nicht weniger als 20 Seiten bearbeitet werden sollte. Ich schrieb alles mit, was wir brauchten. Sonst war ich immer super im Sachen merken, aber heute war ich so aufgeregt, dass ich heilfroh war, dass mir noch nicht mein Name entfallen war.

      Zum Glück hatten wir nur 45 Minuten bei Frau Maier. Ich hatte „Effi Briest“ im letzten Jahr schon total öde gefunden und mir war klar, dass es beim zweiten Mal mit dieser Lehrerin ganz sicher nicht zu meinem Lieblingsbuch mutieren würde.

      Erst kurz vor Schluss fiel mir auf, wie ruhig es in der Klasse war und dass keine Kommentare in die Klasse gerufen wurden. Es erstaunte mich sehr, dass Frau Maier es schaffte, die Klassenclowns, die ja wohl in jeder Klasse sind, mit so einem Thema ruhig zu halten.

      Da entdeckte ich, dass es in dieser Klasse tatsächlich keinen Klassenclown gab – es war nämlich eine Klasse mit 27 Mädchen…

      „Oh je, da ist ja Zickenterror vorprogrammiert“, schoss es mir durch den Kopf.

      Sara sprang mit dem Pausengong auf, riss das Buch vom Tisch und sprintete zur Tür. Ich war so perplex, dass ich kurz überlegte, ob ich heute Morgen das Deo vergessen hatte, als sie mir von der Tür zurief: „Hast du jetzt auch Englisch? Dann halt dich dran, wir müssen ins Hauptgebäude in den 3. Stock.“

      Ich warf einen kurzen Blick auf meinen Stundenplan: ja, ich hatte auch Englisch. Erleichtert sprang ich auf und hetzte hinter ihr her. „Miss Ibben legt großen Wert auf Pünktlichkeit. Wer zu spät kommt, bekommt doppelte Hausaufgaben und muss am Sonntag mit ihr im Altenheim englische Songs vorsingen, weil ihre Tante dort untergebracht ist und die nichts lieber hört als „What shall we do with the drunken sailor?“.

      Ich war entsetzt von dieser Aussicht und legte noch einen Zahn zu. Sara schaffte es, entgegen der Hauptstromrichtung zu laufen, ohne mit irgendwem zu kollidieren und wir saßen eine Minute vor Pausenende mit den anderen in der Klasse. Ich war heilfroh, dass ich mich neben sie setzen durfte und musterte sie jetzt erst mal von der Seite.

      Sara hatte schulterlange, glatte Haare, die fast genauso schokofarben waren wie ihre Augen und mit einem schwarzen Tuch nach hinten gehalten wurden. Abgesehen von den stark mit Kajal umrandeten Augen war sie ungeschminkt und sah sehr nett aus. Ihr Kleid war tiefschwarz und ging knapp bis übers Knie, es wirkte mit den Rüschen wie aus einem alten Film und ich war mir nicht sicher, ob sie es neu gekauft oder selbst genäht hatte. Sie unterhielt sich die ganze Zeit quer durch den Raum mit Maria und Steffi, und ich bekam mit, dass die drei sich die Ferien über komplett verpasst hatten. Weil alle versuchten, noch vor Pausenende auf ihren Plätzen zu sein, starrte mich niemand an, wie ich befürchtet hatte. Als Miss Ibben mit dem Gong den Raum betrat, begrüßte sie uns alle mit einem energischen: „Good Morning“ und alle setzten sich wie in alten Filmen stocksteif hin und riefen im Chor: „Good morning, Miss Ibben.“

      Ich musste mir ein Grinsen verkneifen, was ging denn hier ab?

      Sie bat uns alle, ein Namensschild vor uns aufzustellen mit unserem Vornamen drauf, und reichte uns eine Liste herum, in die wir uns mit Vor- und Nachnamen eintragen sollten, damit sie eine Strichliste mit Anwesenheit und Beteiligung führen konnte.

      Miss Ibben sah aus, wie man sich eine Englischlehrerin vom alten Schlag vorstellt. Sie trug einen karierten Plisseerock und dazu ein hellblaues Twinset mit einer Brille, die an einer goldenen Kette vor ihrer Brust baumelte. Die Haare waren blondiert, onduliert und leicht antoupiert, so dass sie locker in einem 50er Jahre Film hätte mitspielen können. Beeindruckend waren ihre großen Zähne, ihr ständig grinsender Mund und die leichte Bewegung ihrer Hakennase wenn sie sprach.

      Wenn sie sprach, kam so reines „Upperclass English“ aus ihrem Mund, dass jeder von uns mit dem Schulenglisch klang, als wären wir jahrelang am falschen Ende von London aufgewachsen und meilenweit entfernt, von dem, was man uns als „Oxford-English“ eingetrichtert hatte. Na bravo, das würde ja ein Jahr werden.

      Miss Ibben erklärte uns ganz enthusiastisch, dass wir dieses Jahr so eine Freude hätten Shakespeare auf dem Lehrplan zu haben und den auch noch mit „Julius Cäsar“ und „Romeo and Juliet“.

      Zwei Klassiker in einem Jahr, das hatten wir ja noch nicht mal an dem humanistischen Gymnasium in Bayern hinbekommen, ich war schwer beeindruckt.

      Als


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