Voll erwischt. Ellen Sommer
Lächeln begrüßte: „Madam, I am awfully sorry for interrupting you, but I just decided to take English because of reading Shakespeare is so enjoying.”
Miss Ibben war so was von geplättet von ihm, dass sie ihre Brille mehrfach auf- und wieder absetzte, bevor sie zurückflötete (das hättet ihr hören müssen): „Oh, my dear Christopher, that was a very good decision, please sit down, my dear.“
Und alle schlackerten mit den Ohren. Also, zu Hause hätte man so eine Schleimerei nicht durchgehen lassen.
Christopher schwang sich auf den freien Platz neben mich und grinste zu mir und Sara. Sara würdigte ihn keines Blickes und ich wusste auch nicht, ob ich noch eine Sekunde länger zu ihm hinschauen konnte, ohne rot zu werden. Was für ein Grinsen!
Der Typ sah absolut unglaublich aus. Judy hätte gequiekt, wenn er sie so angesehen hätte. Ich zog meinen Schreibblock aus der Tasche und klopfte mit meinem Stift auf den Block, so wie Paps das sonst immer gemacht hatte, wenn er vor einem wichtigen Artikel saß und nicht so recht wusste, wie er anfangen sollte.
Derweil war auch Miss Ibben wieder geistig in der Klasse angekommen und diktierte uns Fragen zur Lektüre, die wir bis zur nächsten Stunde bearbeiten sollten. Fragen, die ungelogen eine ganze DIN-A 4 Seite füllten und mir klarmachten, dass ich bis Freitag nicht nur „Effi Briest“ sondern beide Dramen lesen musste, um die Fragen beantworten zu können. Wie man das hinbekommen sollte, wenn man Freunde und ein Leben hatte, war mir schleierhaft und ich beglückwünschte mich erstmals, dass ich bisher hier noch niemanden gefunden hatte, der mich vom Lesen abhalten würde. Judies Eltern würden ihr sicherlich nicht jeden Tag ein mehrstündiges Gespräch aus dem Ausland zahlen, so dass eine ruhige Woche zu erwarten war.
Sara schob mir einen Zettel zu: „Was hast du nach der Pause?“
Ich kramte erst mal im meinem Rucksack nach dem rosa Zettel mit dem Stundenplan und sah, dass es Kunst war. Kunst als Doppelstunde. Das war mein Lieblingsfach und ich hoffte, dass es auch eine AG wie in meiner alten Schule geben würde.
Ich schrieb es ihr auf. Es kam kein Zettel mehr zurück, denn kurz darauf schellte es. Sie stand betont langsam auf und sagte mir, dass sie mir zeigen würde, wie ich zum Kunstraum im 6. Stock käme, aber dass wir jetzt erstmal in die Pausenhalle müssten. Sie würde sterben vor Hunger. Bevor wir raus gingen, räusperte sich Christopher und sagte: „Sara, ich zeige ihr, wie sie dorthin kommt, ich habe nämlich auch Kunst in diesem Jahr.“ Sie drehte sich um, musterte ihn kurz und nickte:
„Dann treffen wir uns bei Jack und du kannst sie mitnehmen.“ Unterkühlt wäre noch zu warm gewesen, um ihre Stimme zu beschreiben.
Danach nahm sie meine Hand und zog mich hinter sich her. Ich war überrascht über ihren ruppigen Ausbruch und fragte mich, was sie gegen Christopher hatte. Ihr Tempo war jetzt schon wieder so unglaublich, dass ich nicht dazu kam, sie zu fragen, und erst als sie sich einen Becher mit Latte Macchiato und einen Croque Monsieur geholt und rein gebissen hatte, besserte sich ihre Laune enorm und sie sah mich wieder an.
Wie sich herausstellte, war Jack kein Schülercafé, sondern ein Abschlussklässler, der täglich in derselben Ecke der Pausenhalle stand, umringt von seiner Clique. Jack stach mit seinen 1,96 m aus der Menge hervor und war von weitem sichtbar, auch wegen seiner roten Lockenmähne, die sich bis zu den Schulterblättern kräuselte und seiner Rockerkluft. Wie Sara mir berichtete, spielte Jack Handball und war eine Institution an dieser Schule. Zum x-ten Mal Schulsprecher usw. Ich fragte mich, wo sich die Leute im kommenden Schuljahr treffen würden, wenn er weg sei. Sara grinste mich an, als könnte sie Gedanken lesen: „Na da, wo Jack immer gestanden hat, ist doch klar…“ Klang logisch.
Ich schaute mich erwartungsvoll um und hielt nach Christopher Ausschau. Hoffentlich war er kein notorischer Zuspätkommer, denn das konnte ich heute überhaupt nicht gebrauchen. Ich wollte auf keinen Fall als Letzte in die Klasse kommen und von allen angestarrt werden. Langsam stieg Panik in mir auf. Dass seine Charmenummer ein 2. Mal ziehen würde – zumal bei einem Lehrer statt einer mittelalten Englisch Lehrerin –war auch nicht zu erwarten.
Aber genau so kam es:
Der Pausenhof war seit Minuten leer und ich Schaf stand dort, wo Jack gestanden hatte und ärgerte mich maßlos, nicht doch sicherheitshalber Sara nach dem Weg gefragt zu haben. „Wie kann man nur so blöd sein?“, murmelte ich vor mich hin.
Gerade, als ich mich zum Sekretariat aufmachen wollte, um mir eine Wegbeschreibung zu holen, kam Christopher angesprintet: „Sorry, habe die Zeit ganz vergessen…“ Ich joggte hinter ihm her und fluchte innerlich die ganzen 395 Treppen bis zum 6. Stock (könnten auch mehr sein, ich war zwischendrin gestolpert und aus dem Zählrhythmus gekommen).
Oben angekommen, ließ er mir den Vortritt (ganz der Gentleman, auf den ich gut hätte verzichten können). Ich wäre am liebsten zu einer Maus geworden und hätte mich hinter dem Papierkorb versteckt. Dann fackelte er seine Charmenummer ab: „Guten Morgen, Herr Späth, ich habe der Neuen, Lille Dechamps, erst noch den Weg zeigen müssen und bin dabei ins Erzählen gekommen…“ Er log, ohne rot zu werden – ich war geschockt. Wieder dieses Haifischgrinsen und ich traute meinen Augen nicht, als Herr Späth genauso zurückgrinste und säuselte: „Na das ist aber schööööööön, dass ihr jetzt da seid. Dann sucht euch doch mal ein Plätzchen und lauschet.“ Er sagte allen Ernstes „lauschet“ – ich dachte, ich hätte mich verhört und stolperte hinter Christopher her, der mich in die letzte Reihe leitete, wo noch zwei Plätze frei waren. Wo sagt man denn so was? Wir stellten unsere Rucksäcke ab und „lauschten“. Ein Zettel wurde zu mir rüber geschoben: „Er ist stocktaub und wahrscheinlich schwul…“ stand dahingekritzelt und ich hatte Mühe, die Schrift zu entziffern. Das erklärte einiges, aber nicht alles, dachte ich mir. Ich steckte den Zettel ein und versuchte mich auf den Lehrer zu konzentrieren.
Unglaublich, dass Christopher mit seiner Charmenummer schon wieder durchgekommen war. Ich mochte Schleimer überhaupt nicht. Aber keiner hatte blöd geschaut. Judy würde sich über die Story schlapp lachen, da war ich mir ganz sicher. Im nächsten Moment klingelte mein Handy, ich fuhr vor Schreck zusammen und sprang halb von meinem Stuhl. Zu Hause wäre jetzt Pause. Ich drückte auf den Aus-Knopf, denn Judy würde die nächsten 45 Minuten keine Ruhe geben, bis sie mich nicht am Apparat hatte. Jetzt starrten mich alle an. Ich wurde knallrot und hätte am liebsten losgeheult.
Nicht, dass ihr mich jetzt für eine Heulsuse haltet! Ich habe das letzte Mal in der Schule geheult als Peter Kühnmann meine Kaulquappen ins Klo gekippt hat und das war in der 3. Klasse. Damals hatte Judy ihn so was von rund gemacht, dass er sich sogar bei mir entschuldigt hatte. Und seitdem war Judy meine allerbeste Freundin. Wir verstanden uns blind, keiner hätte mich jetzt so blöd angestarrt, wenn sie hier gewesen wäre und ich hätte mich auch nicht anstarren lassen.
Aber das war mir jetzt echt zu viel.
Meine Eltern waren auch nicht da und ich war jetzt hier die Neue, die keinen Plan hatte und am allerliebsten gar nicht hier wäre…
Wieder kam ein Zettel von links: „Dein Freund?“
Ich merkte, wie jetzt auch noch die Ohren kurz vorm Verglühen waren und im Comic hätte man jetzt kleine Rauchwölkchen über meinem Kopf gesehen. Ich schrieb zurück: „Das geht dich gar nichts an…!“ und kam mir dabei sehr gewieft vor. Ich schaute wieder nach vorne.
Wieder schob er den Zettel unter meine Hand. Dabei berührten sich unsere kleinen Finger und ich spürte ein Prickeln, das sich den ganzen Arm hochzog wie beim Akupunktieren. Ich zog meine Hand wieder zu mir und schlagartig endete das Prickeln.
Mittlerweile stand Herr Späth genau vor unserem Tisch, hatte die Augenbrauen hochgezogen und die Hand ausgestreckt. Er näselte: „Vielleicht möchte die neue Schülerin Lille Dechamps uns an den literarischen Ergüssen zum Thema teilhaben lassen“ und winkte dabei unbeherrscht mit den Fingern, damit ich ihm den Zettel aushändigte. Jetzt wäre ich wieder gerne Mäuschen und hätte den Zettel verschluckt. Was tun?
Alle starrten, mir wurde ganz übel und ich merkte, dass ich gleich umkippen würde, da reichte Christopher ihm einen Zettel rüber: „Meinen Sie den hier?“ Herr Späth blickte etwas verblüfft zwischen uns hin und her,