Voll erwischt. Ellen Sommer
Klasse johlte. Meine Ohren glühten jetzt durch. Da klingelte es zum Glück schon und alle stürzten nach draußen in die 2. große Pause. Wie waren die 90 Minuten so schnell vorbei gegangen? Ich hatte nichts mitbekommen. Christophers richtigen Zettel steckte ich in meine Hosentasche, ohne ihn anzusehen und rannte die Treppe runter.
„Hey Lille, war doch nur ein Scherz!“ Ich stapfte wutschnaubend davon. „Hey, das war ein Zettel, den ich seit der 5. Klasse mit mir rumschleppe und ihn endlich mal anbringen konnte, wenn ein Lehrer danach fragt…“
Ich ging weiter und schaltete auf Durchzug. Plötzlich sah ich Sara im Foyer stehen und sprintete auf sie zu.
„Hi Lille, wie war es in Kunst?“ Sie verabschiedete sich von einem blonden Mädel, das die Arme voller Bücher und am linken Oberarm ein Tattoo mit Blumenranken hatte. Ich starrte ihr hinterher. Genau SO ein TATTOO hatte Judies große Schwester, genauso ein Tattoo wollte ich mir letztes Jahr auch stechen lassen und wegen genau so einem Tattoo hatte es heiße Diskussionen daheim gegeben, als meine Eltern noch da waren. Ich hatte extra mein Geld gespart und wollte von ihnen nur zum Tattooshop gefahren und wieder abgeholt werden. Die Fahrt als solche wäre nicht das Problem gewesen, aber meine Eltern hatten mir unter Androhung sämtlicher Hausarreste, Fernsehverbote usw. bis ins Rentenalter verboten, mir jemals ein Tattoo stechen zu lassen, nachdem sie von ihrer letzten Reportage zurückkamen und felsenfest davon überzeugt waren, dass man vom Tattoostechen Hepatitis, Aids und Krebs kriegen kann - und da waren sie nicht von abzubringen.
Um sie nicht vollends um den Schlaf zu bringen, hatte ich versprochen, mir niemals eins stechen zu lassen…
Sara fragte jetzt zum 2. Mal, wie es mir in der Kunststunde ergangen sei und ich erzählte ihr von dem peinlichen Zettel. Sie lachte kurz auf und erklärte mir dann, dass ALLE an dieser Schule für alle Fälle so einen Zettel in der linken Hand hätten. Alle hatten gelacht, weil das der „Running Gag“ der Schule war.
Ich war, ja was war ich eigentlich? Geschockt, entsetzt, angewidert, aber irgendwie auch amüsiert. Das heißt, die Lehrer hatten im Laufe der Jahre immer wieder denselben Witz geboten bekommen? Ich schüttelte verwirrt den Kopf. Sara stupste mich mit dem Ellenbogen an: „Hey, bist du immer so ernst?“
Ich wurde schon wieder rot und wünschte mir zum
wiederholten Male, Mama hätte damals doch dem Drängen ihres Kommilitonen Jean aus dem Senegal nachgegeben und hätte sich von ihm schwängern lassen, dann würde man mir nicht jedes Erröten ansehen und ich könnte immer cool und gelassen mein Pokerface aufsetzen. Tja, stattdessen hatte sie sich in Paps verliebt, der mit seinen Sommersprossen und den roten Haaren wie ein waschechter Ire aussah. Die blasse Haut hatte ich von ihm, wenn auch zum Glück meine Ohren von Mama waren, denn er hatte ziemlich große Ohren, mit denen er getrennt wackeln konnte. Das hatte mich immer schon fasziniert, wie er das hinbekam, aber das konnte ich auch nach jahrelangem Üben vor dem Spiegel nicht nachmachen. Bei ihm sah es auf jeden Fall immer so lustig aus, dass ich immer lachen musste, und so bekam er mich aus den tiefsten Depressionen heraus (Liebeskummer usw.). Von ihm hatte ich auch meine roten Haare, allerdings waren meine nicht so kupferfarben sondern kastanienbraun, weil Mama mit ihren schwarzen Locken auch mitgemischt hatte. Ich hatte mir immer so glatte Haare gewünscht wie Judy, deren Haare wie Honig glänzten, aber die Kombi Mama und Paps hatte zu einer kastanienbraunen Löwenmähne geführt, wo die Locken in alle Richtungen abstanden, egal wie oft und wie lange ich sie kämmte. In den Ferien hatte ich stundenlang mit dem Glätteisen versucht, die Mähne zu bändigen, um am ersten Schultag mit einer anständigen Frisur zur Schule zu gehen, aber nachdem es hier ja andauernd regnete, habe ich es frustriert aufgegeben.
Auf Saras Frage zuckte ich nur mit den Schultern und gab dann zerknirscht zu: „Meistens nicht, aber ich hasse es, neu irgendwo zu sein. Da hab ich dann das Gefühl, ich werde zum Trampel der Nation und weil ich so vorsichtig bin, passiert dann meistens auch was….“
Sara lachte, aber nicht gehässig, eher so wie Judy, wenn ich mal wieder absoluten Mist von mir gegeben habe.
„Was hast du als nächstes?“
„Französisch und danach Bio.“
„Französisch habe ich auch, da gehen wir dann zusammen hin und zu Bio kommst du diesen Gang hier runter- grüne Türen, die letzte links. Jetzt müssen wir nur hier entlang, bleiben aber auf der gleichen Etage, so dass es ganz leicht zu finden ist…“
Ich war sehr erleichtert, dass Sara mit zu Französisch gehen würde, so hatte ich nur noch eine Stunde vor der ich Panik haben musste und dann müsste ich nur noch die Busfahrt hinter mich bringen.
Oma hatte darauf bestanden, dass ich nicht mit der Vespa zur Schule fahre. Sie meinte, bei dem Regen könnte alles Mögliche passieren und es sei viel sicherer mit dem Bus zu fahren. Sie musste sich da ja auch nicht anstarren lassen.
Irgendwie gingen dann auch die letzten zwei Stunden noch herum und ich ging erleichtert die Stufen zur Bushaltestelle runter, als ich von hinten angerempelt wurde und fast die Stufen heruntergefallen wäre. Bevor ich fiel, spürte ich aber, wie sich von hinten ein Arm um mich legte und mich zurückzog: „Hey, kein Grund sich vor den Bus zu werfen…!“ Es war seine Stimme, ich blieb wie angewurzelt stehen und er krachte mit voller Wucht gegen mich. Langsam drehte ich mich um und fuhr ihn an: „Willst du mir den Tag heute komplett vermiesen oder was sollte das jetzt?“ Er grinste nur etwas schief und dabei blitzten seine Augen auf. In mir schrillte eine Alarmglocke: „Charmeoffensive die 3.“, dachte ich und schaute ihn fragend an. Die Antwort kam aber nicht, stattdessen schaute auch er. Nach 10 Sekunden kam ich mir vor wie in einem alten Kitschfilm, den ich mit Judy als 8-jährige heimlich gesehen hatte als unsere Eltern Onkel Pauls Geburtstag feierten und wir länger aufbleiben durften. Ich guckte als erstes weg, spürte seinen Blick aber immer noch. Also schaute ich erneut hin. „Du siehst süß aus, wenn du rot wirst, hat dir das schon mal jemand gesagt?“ Mir fiel da jetzt gar nichts mehr zu ein und ich lief feuerrot an. „Hey, ich habe dir einen Plan gemalt, mit allen Klassen, die wir zusammen haben – achte auf die roten Herzchen und der Rest ergibt sich von selbst.“ Danach sprang er in den vollen Bus und war weg, ehe ich irgendwas sagen konnte. Die Tür ging zu und ich setzte mich auf die klitschnasse Treppe und starrte auf den Plan, der akkurat gezeichnet und beschriftet war. Es war ein Grund- und ein Aufriss der Schule und es waren 3 rote Herzchen eingezeichnet.
Ich war kurz davor den Plan zu zerreißen und hinter dem Bus her zu werfen, aber die pure Notwendigkeit morgen nicht wieder so orientierungslos durch die Gegend zu irren, ließ mich ihn in meinen Rucksack stopfen. Der nächste Bus kam mit 15-minütiger Verspätung und ich war nach 20 Minuten komplett durchnässt.
Christopher
„Puh, das war knapp“ – ich sprang in den Bus und setzte mich in die letzte Reihe. Dort saß ich neben Sara, die den Fensterplatz blockierte, wo sie meistens saß, es sei denn, ich war schneller. Heute war der Tag an dem ich scheinbar überall zu spät war. In Bio hatte ich mich gar nicht erst blicken lassen, weil Direx Hofmann immer so einen Aufstand macht, wenn man ihn beim Reden unterbricht und man lieber draußen bleibt, das schätzt er mehr. Witzigerweise war auch sein Lieblingsschüler Bobbele zu spät und so hatten wir uns nur angestarrt und waren dann in getrennte Ecken der Pausenhalle abgedreht. „Hi Sara!“ Sie starrte weiter aus dem Fenster und würdigte mich keines Blickes. War klar, irgendwie. Ich hatte gehofft, sie sei jetzt nach den Ferien drüber weg aber sie hatte sich scheinbar immer noch nicht eingekriegt. „Bist du immer so nachtragend?“ Wieder keine Reaktion. Es war, als wäre ich gar nicht da. Ich stopfte mir die Kopfhörer in die Ohren und drehte meinen Ipod auf.
Draußen schüttete es wie aus Eimern und ich fragte mich, was sie wohl soooooo interessantes in dieser grauen Stadt sehen würde, dass sie sich nicht normal benehmen konnte.
Zwei Haltestellen später stand ich auf und sprang in den Regen hinaus, ohne die Musik leiser zu drehen. Ich ging, ohne mich umzudrehen, weiter in die Stadt. Im „Da Vinci“ ging ich an Celia und Nina vorbei bis in die Küche, warf meinen Rucksack in den Spind und zog mir die Schürze von gestern wieder an. Sie war ganz mehlig und man konnte nicht mehr so genau sagen, ob sie mal blau oder schwarz war. Claudio nickte mir kurz zu, als ich mich an die Spüle stellte, um mir die Hände