Der verborgene Erbe. Billy Remie
immer litt Cohen unter Alpträumen, oder zuckte zusammen, wenn er nicht damit rechnete, berührt zu werden. Solange Desiderius lebte, würde er nicht mehr von Cohens Seite weichen. Er würde seine Fehler nicht wiederholen.
»Eagle, es tut mir leid. Aber es geht hier um meine Familie«, sagte Cohen entschuldigend. »Ich begehe keine Fahnenflucht, ich komme wieder. Es dauert nicht lange, wenn ich den Weg durch die Berge nehme. Ich verspreche es, ich bin rasch wieder an deiner Seite.«
Eagle sah ihm ernst in die Augen, doch seine Worte sprach er ruhig, wenn auch nicht weniger gewichtig: »Ich werde keinen von Euch daran erinnern müssen, welches Opfer ich erbringen musste, damit wir alle überhaupt eine Chance haben.«
Umgehend senkten sich die Köpfe aller im Raum.
Eagle ließ seinen Blick langsam von einem zum anderen wandern, eher er weitersprach. »Ich verstehe deine Gefühle, Cohen. Kein Mann will zulassen, dass der eigene Vater ihm die Frau stiehlt.«
Unbehaglich trat Cohen von einem auf den anderen Fuß. »Sie ist meine älteste Freundin, die alles über mich weiß, und der ich viel verdanke. Ich schulde es ihr.«
»Und meine Mutter war meine Mutter«, konterte Eagle, »die Frau, die mir das Leben schenkte, mich aufzog, und zu meinem Schutz ein ganzes Land verriet.« Seine Stimme senkte sich um eine Oktave, als er flüsterte: »Und im Gegenzug verriet ich sie, um das Unrecht zu sühnen, das sie begangen hat.«
Einen nicht enden wollenden momentlang herrschte betretenes Schweigen. Keiner wagte, aufzusehen oder Eagle zu wiedersprechen, denn er hatte recht. Sein Opfer war das größte gewesen, und er hatte es nicht für sich getan.
»Wir sind alle stolz auf das, was du getan hast«, ergriff Desiderius schließlich das Wort.
Eagle nickte gefasst. Er beeindruckte Desiderius mit der Stärke, die er an diesem Tag zeigte.
»Ich tötete meine Mutter«, sprach Eagle weiter auf Cohen ein, »zum Wohle aller. Und du wirst die Angelegenheit mit deiner Frau verschieben, bis ich mich dessen annehmen kann.«
Cohen taumelte zurück, bis er nahe der Tür auf einen gepolsterten Sessel fiel, der nicht so wirkte, als sei er zum Sitzen gemacht. Unter dem Gewicht von Cohens Muskeln und seiner schweren Kettenrüstung, wölbten sich die Beine des dekorativen Möbelstücks. Er beugte sich vor und stützte das Gesicht in die Hände; er gab sich angesichts Eagles Strenge geschlagen.
»Sie ist stark«, versuchte Arrav Cohen zu beruhigen. Er ging zu ihm und legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter. »Sigha war nie hilflos.«
»Und was ist mit den Kindern?«
Diese Frage konnte ihm leider niemand beantworten.
»Hast du wirklich geglaubt, sie wären bei den Rebellen sicherer?«, fragte Bellzazar und schnaubte verachtend. »Wohl kaum. Sieh es mal so. Bei Rahff, beim König, wird ihnen wohl kaum etwas geschehen. Dein Vater mag vielleicht deine Frau ficken, aber immerhin ist deine Familie dort sicher vor dem Krieg. Und die Kirche kann sie wegen deines Verrats nicht hinrichten. Wenn ihr mich fragt, hat Rahff dir damit einen Gefallen getan, denn deiner Familie wird nichts zustoßen.«
»Wie immer sehr einfühlsam«, bemerkte Desiderius trocken. Er löste sich von der Wand und ging zu Bellzazar an den Kartentisch, um ihn einen kräftigen Stoß in die Seite zu verpassen.
»Die Wahrheit ist immer erschreckend ernüchternd«, konterte Bellzazar. Er zuckte mit den Achseln, als kümmerte es ihn nicht, wie grausam seine Worte rübergekommen waren.
»Cohen«, Eagle sah ihn mitfühlend an, »du musst mir vertrauen. Ich weiß, was ich tue. Und ich verspreche dir, dass ich deine Familie nicht vergessen werde. Vertrau auf meinen Plan, sie werden vielleicht schneller wieder bei dir sein, als du denkst.«
Alle im Raum horchten umgehend auf.
»Plan?«, fragte Desiderius ein wenig zu überrascht. »Es gibt einen Plan?« Es ärgerte ihn, das Eagle annahm, er würde einfach tun, was er sich ausdachte, ohne vorher von ihm mindestens zur Rate gezogen worden zu sein.
Eagle wandte ihm mit einem geradezu herausfordernden Blick das Gesicht zu und nickte überheblich. »Gewiss, ich habe mir einige Gedanken gemacht.«
»Welche?«, verlangte Desiderius zu erfahren, er richtete sich stolz auf und verschränkte die Arme vor der breiten Brust. Neben ihm nahm Bellzazar die gleiche Haltung ein. Es war überdeutlich, wem Zazars Loyalität gehörte, und er war sich nie zu schade, es offen kund zu tun.
»Das wird dir nicht gefallen«, sagte Eagle zu Desiderius.
Desiderius verengte argwöhnisch die Augen. Ein ganz mieses Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit und ließ ihn brodeln. Er und Eagle starrten sich unnachgiebig in die Augen. Zwei starke Männer, die sich selten beugten. Sie spürten die Spannung nicht, die sich um sie herum aufbaute, während Desiderius auf eine Erklärung wartete. Ihre Gefährten hielten nervös den Atem an, die Luft knisterte vor Erregung.
»Eure Hoheit?«
Sie fuhren zu dem Klopfen an der Tür herum, das Eagles Erklärung weiter aufschob.
»Tretet ein«, forderte Eagle die Wache auf.
»Vergebung.« Der Mann in der eisernen Rüstung verneigte sich so tief, dass Desiderius sich darüber wunderte, wie er in dieser Rüstung ohne fremde Hilfe wieder hochkam. »Ihr habt … ähm … adligen Besuch, Eure Hoheit.«
Eagle sah sich verwirrt nach Desiderius um, der nur ratlos mit dem Kopf schüttelte.
Er kam um den Tisch herum, um sich neben Eagle zu stellen. Denn was auch immer in diesem Raum besprochen wurde, welcher Streit auch immer hier entfachen mochte, wenn Fremde kamen, waren sie eine gemeinsame Stärke, die zusammenhielt.
»Ich hoffe, Ihr wart nicht so dumm, sie einfach rein zu lassen«, meinte Desiderius wütend.
Die Wache schüttelte eilig den Kopf. »Nein, Kommandant, gewiss nicht. Sie warten vor den Toren.«
»Und wer ist es?«, fragte Eagle verwundert. »Wir erwarten niemanden.«
»Er sagt von sich, er sei ein zukünftiger Lord«, berichtete die Wache nervös, »und er ist hier, um dem rechtmäßigen König ein Angebot zu unterbreiten.«
10
Der Wind blies stark seine unsichtbaren Böen um das große Gasthaus, unweit der Straße entfernt. Noch immer war der Regenwald dicht um sie herum, doch gelegentlich kreuzten von Völkern angelegte Straßen und Pfade ihren Weg.
Nachdem sie ihre Wunden mit Salben versorgt hatten, wobei sie tiefere Wunden ausbrennen mussten, um einer Entzündung vorzubeugen, waren Wexmell und seine Gefährten zu einem langen, gefährlichen Marsch aufgebrochen. Dainty und Janek hatten ihnen erklärt, dass jede noch so kleine Wunde im Regenwald katastrophale Folgen haben konnte. Allein die Gefahr, dass die Insekten ihre Eier darin ablegten, war hier um ein hundertfaches größer als an jedem anderen Ort der sterblichen Welt. Deshalb hatten sie so gleich allesamt bei jeder kurzen Rast erneut Karrahs Salbe aufgetragen, um die Fliegen fernzuhalten.
Gegen Mittag, nach dem sie sich mit ihren Schwertern durch den dichten Regenwald gehackt hatten, hatten sie eine geeignete Flussstelle erreicht, um ihn zu überqueren.
Der Strom war dort nicht so reißend gewesen, das Wasser flach. Wexmell hatte ja nicht mehr daran geglaubt, hier sah alles so gleich aus, dass er sich mehr als einmal sicher gewesen war, sie würden nur im Kreis umherlaufen. Man fühlte sich gleich viel winziger in dieser Welt, wenn man im Grün des mächtigen Regenwaldes unterzugehen drohte.
Aber Daintys Fähigkeiten als Assassine, und Luros und Allahads gute Instinkte, hatten sie sicher zum Fluss geführt. Dort mussten sie eine kurze Rast einlegen, da sie zunächst ein Floß bauen mussten. Es war kein stabiles, und diente nur dem Zweck, schnell hinüber zu gelangen, wobei sie jedes Pferd einzeln über den Fluss transportieren mussten, damit das Floß nicht unterging. Sie bauten es aus Bambusrohren, und nutzten dicke Lianen als Seile.
Lazlo