Flammenkiller. Nick Stein
in Rußland und Amerika.«
Ich sah meine beiden Kollegen an. Svantje gähnte, Hinnerk hatte begonnen, sich eine neue Pfeife zu stopfen. Es war inzwischen dunkel geworden.
»Gut so«, entschied ich mich. »Dann wird meine Frau Überstunden machen müssen, und ein paar weitere Kollegen ebenso. Ich werde nicht dabei sein, ich muss unsere Zwillinge aus der Krippe abholen und mich um die Familie kümmern.« Alle nickten verständnisvoll.
»Dann lassen Sie uns alle zurück nach Wittmund fahren«, schlug ich vor. »Morgen wissen wir mehr.«
Kapitel 2
Zurück im Büro ließ ich Svantje alle Ereignisse des Tages protokollieren und las und unterschrieb ihren Bericht. Eins der kleinen Privilegien, die ich jetzt hatte, aber auch eine lästige Pflicht. Ich habe ein fantastisches Gedächtnis und kann mir alle diese Dingsbumse merken. Diese, na, ach ja. Die Ereignisse.
Ich entließ die beiden und recherchierte weiter. Werner hatte die stark verformte Kugel sofort nach Hannover zum KTI bringen lassen. Ich rief an und erfuhr, dass es sich um ein Hohlraum-Geschoss gehandelt hatte, eine Sonderform der Hohlspitzmunition mit einem noch größeren Hohlraum.
Der Spezialist des KTI schickte mir ein Foto. Es zeigte etwas, das wie eine plattgetretene Tulpe aussah, über dem Boden des Geschosses waren nur einige metallene, nach hinten gebogene Blütenblätter zu erkennen.
»Dabei noch Laufspuren zu erkennen, ist Schwerstarbeit«, erklärte er mir. »Wir haben das Geschoss erst wiederherstellen müssen, so gut es ging. Anders als bei einem normalen Projektil war kaum noch was da, Sicherheit kann es kaum geben. Wir glauben, ich betone glauben, dass es sich bei der Waffe um eine P320 von Sig Sauer gehandelt haben könnte.«
»Kann ich mir gar nicht vorstellen, dass man so ein Überbleibsel überhaupt noch wiederherstellen kann«, schleimte ich. »Wie groß ist denn die Wahrscheinlichkeit für den Waffentyp?«
Mein Gegenüber seufzte. »Tja. Ich sag mal, vierzig Prozent, plus minus. Aber für andere Typen liegt sie bei fünfzehn bis zwanzig Prozent. Sorry, besser geht es bei so einem Pilz nicht mehr.«
Was mich daran erinnerte, dass es mir jetzt mit einem Pils besser gehen würde. Ich bedankte mich und sah auf meinen Notizzettel, was ich noch herausfinden wollte.
Die Identität des zweiten Toten feststellen, wusste ich, bevor ich auf den Zettel sah. Dazu musste ich mich an meinen Rechner setzen. Es gibt viele Systeme dazu, die meisten davon sind bei der Polizei nicht erlaubt. Wir haben begrenzten Zugang zu den biometrischen Daten der Einwohnermeldeämter, aber viele Bürger hatten noch keinen entsprechenden Pass. Es gibt ein paar Systeme in Erprobung, wie das Face ID, Findface und andere. Was man braucht, um jemanden zu finden, sind dessen Daten. Das beste System nützt nichts, wenn man die Daten desjenigen nicht hat, den man finden will.
Die Kollegen hatten den Toten noch nicht identifiziert, wie ich schnell feststellen konnte.
Wir dürfen schließlich nicht alles wissen, die Privatsphäre der Bürger muss geschützt werden, das ist der heilige Gral der Gesichtserkennung.
Wozu hat man Freunde, dachte ich. Mein Freund Onno aus Schleswig-Holstein, der mir das Autofahren beigebracht hatte und Namenspate unseres Sohnes war, machte so etwas in der Freizeit. Er war etwas zu kräftig gebaut, wie er von sich selbst sagte, unfreundliche Leute hätten ihn fett genannt. Um eine Freundin zu finden, hatte er sich Software zugelegt, mit der er die sozialen Netzwerke nach geeigneten Partnerinnen durchforstete.
Wir quatschen eine Weile über alte Zeiten, bevor ich zum Thema kam.
»Onno, wir haben hier eine Leiche, die wir nicht finden können«, begann ich.
»Wie? Ihr verlegt jetzt schon Leichen?«, feixte er.
»Wir können seine Identität nicht klären«, sagte ich. »Ich habe ein paar Fotos vom Gesicht, aus verschiedenen Blickwinkeln. Ich dachte, du schaust mal in die Netzwerke. Irgendwo sind sie doch alle unterwegs.«
»Wenn sie das denn wären«, seufzte er. »Mann, du bist verheiratet und hast zwei süße Kinder, ich hänge hier immer noch rum und finde meinen Topf nicht«, klagte er. Ich stellte mir gerade vor, was das für ein Topf sein musste, wenn er mit seinen hundertzehn Kilo nur der Deckel war.
»Die Toilette für Behinderte ist auf dem Gang rechts«, erklärte ich ihm. »Die müsste groß genug für dich sein.«
»Ha ha. Schick rüber, das Teil«, kürzte er unser Gespräch ab. »Ich sag Bescheid, wenn ich ihn habe.«
Zehn Minuten später meldete sich Onno zurück.
»Hab ihn«, strahlte er über das Telefon. »Er war auf Tinder angemeldet, ich könnte dir Sachen zeigen, na ja. Jedenfalls heißt er Paavo Junolainen und kommt aus Wiborg. Er sucht nach trinkfesten und vollbusigen reifen Damen mit pechschwarzen Haaren und einer gewissen Leidensfähigkeit.«
»Mehr hast du nicht über ihn? Alter, für wen er arbeitet, Hobbys?«
»Nicht auf Tinder«, bedauerte Onno. »Auf anderen Plattformen habe ich ihn noch nicht gefunden.«
»Na immerhin, mit dem Namen und Geburtsort werde ich schon weiterkommen, er muss sich hier ja irgendwo angemeldet haben. Danke Dir, Onno.«
»Dafür nicht«, winkte er ab. »Lass dich mal wieder blicken, Lucky Luke.«
Ich sah auf meine Uhr. Fünf vor fünf, Zeit, die Lütten abzuholen. Ich sah noch nach, ob die Kollegen den BMW des Russen schon gefunden hatten, der Schlüsselnummer nach ein M5. Das war nicht der Fall, ich konnte los.
Vorher ging ich noch bei der Ersten vorbei, die in ihrem Büro vor dem Computer saß, den Tisch neben sich voller Akten, als ich den Kopf durch die Tür steckte.
»Der Wassermann heißt übrigens Paavo Junolainen und kommt aus Wiborg. Ich denke, er ist Finne«, sagte ich so beiläufig wie möglich. »Falls Ihnen das hilft.«
Sie sah mich mit offenem Mund an.
»Bis morgen dann«, verabschiedete ich mich.
*
Ella und Onno waren noch nicht die letzten Kinder, die aus der Krippe abgeholt werden, dachte ich, als ich einen Bus gegenüber der Krippe halten sah. Da war wohl noch jemand spät dran.
Frau Burmeister, die Krippenleiterin, atmete erleichtert auf, als ich das Haus betrat. »Gott sei Dank, ich dachte schon, Sie kommen nicht mehr«, sagte sie. »Die beiden sind hinten und lesen noch.«
»Sind sie etwa die Letzten?«, fragte ich ungläubig.
Frau Burmeister lachte meckernd auf. »Nee, die Letzten sind sie nicht. Das ist immer mein Jonas, aber das ist auch mein Enkel. Die anderen sind schon alle seit einer halben Stunde weg, Herr Jansen.«
Ups, dachte ich. Dumm gelaufen. »Da steht doch noch ein Wagen vor der Tür. Ich dachte…«
»Keiner von den Eltern. Tut mir leid, Herr Jansen, holen Sie die beiden bitte, ich möchte auch mal nach Haus, wissen Sie, ich habe den ganzen lieben langen Tag hier hart gearbeitet, Sie haben ja keine Ahnung, was es heißt …«
Ich war schon hinten im Raum der Gruppe, als sie bei Ahnung angekommen war.
»Papa! Papa!«, rief Ella begeistert und klatschte in die Hände, als sie mich sah. »Onno, Papa ist da!«
Onno zerlegte gerade einen Trecker und sah nur kurz auf. »Nein«, sagte er. »Tecker kaputt.«
Frau Burmeister war mir gefolgt. »Dann waren noch zwei Kinder krank, Durchfall, das können Sie sich gar nicht vorstellen, das Mittagessen kam und kam nicht, und dann diese Frau Westhoff, Sie können sich ja gar nicht vorstellen, was die immer für ein Theater macht.«
Ich unterbrach sie. »Kann Onno den Trecker mitnehmen? Sonst kriege ich ihn hier nicht los, Frau Burmeister. Wir bringen ihn morgen wieder mit.«
»Meinetwegen«, seufzte sie. »Wenn das alles wiederkäme, was hier im Laufe der Zeit so wegkommt, wir wären