Das Medaillon von Ofon. Jessica Giffard

Das Medaillon von Ofon - Jessica Giffard


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betrat, der Lehrer war schon anwesend und schaute verärgert zu mir herüber. Er sah auf die Uhr, sagte nichts und zeigte mit einem Kopfzeichen auf meinen Platz.

      Ich setzte mich und nahm mein Buch zur Hand. Meine Gedanken waren allerdings ganz woanders. Ich konnte mich einfach nicht auf den Unterricht konzentrieren. Wieder und wieder war ich im Geiste bei der Villa und konnte es kaum noch erwarten, bis Schulschluss war, um zu sehen, ob der Wagen immer noch dort stand.

      Gerade als ich dachte, dass der Schultag gar nicht mehr vergehen würde, klingelte es zum Unterrichtsende. Ich nahm mein Zeug und rannte hinaus, ohne mich auch nur umzusehen oder mich von meinen Klassenkameraden zu verabschieden und schnappte mein Rad, das noch an der Stelle stand, an der ich es zurückgelassen hatte. Als ich gerade losfahren wollte, hörte ich jemanden meinen Namen rufen.

      »Sarah!«

      Ich drehte mich um. Es war Jane.

      »Hallo, Jane.«

      »Sarah, wo willst du denn hin? Wir wollten doch heute zusammen etwas unternehmen.«

      »Jane, es tut mir leid. Ich kann heute nicht, es ist was dazwischen gekommen und ich muss dringend nach Hause.«

      »Wieso? Ist zu Hause etwas passiert?«

      »Nein. – Na ja, meine Mutter fühlte sich heute Morgen nicht so gut. Muss schauen, ob es ihr mittlerweile besser geht. Wir können morgen was zusammen unternehmen, wenn es dir nichts ausmacht?«

      »Ok, dann bis morgen. Ruf mich an!«

      »Das mach ich.«

      Nachdem Jane sich Bob zu wandte, mit dem wir schon als Kinder spielten und der auch noch in dieselbe Schule ging wie wir, konnte ich endlich losfahren, wenn auch mit einem schlechten Gewissen, da ich Jane angelogen hatte. Ich konnte ihr nicht sagen, dass ich unbedingt zur Villa wollte, weil sie nicht verstanden hätte, warum ich wie besessen von diesem Gebäude war.

      Wir hatten uns schon früher über die Villa unterhalten. Damals hatte sie gesagt, dass ich spinnen würde und eine lebhafte Fantasie hätte. Ich konnte es ihr nicht erklären, noch nicht mal mir selber, warum ich so besessen davon war und wieso mich das Grundstück so an sich zog.

      Ich war aufgeregt und wollte so schnell wie möglich zum verlassenen Anwesen, denn ich war mir nicht sicher, ob ich mir nur etwas eingebildet hatte. Konnte das sein? Entsprang der Wagen in der Auffahrt wirklich meiner Fantasie?

      Nein, nein! Es konnte keine Einbildung gewesen sein. Ich war keine Tagträumerin. Gut, nachts hatte ich oft von der Villa geträumt, aber niemals tagsüber.

      Schließlich sah ich das Eingangstor. Es war zu, aber nicht abgeschlossen und nun stand es offen. Also hatte ich es mir nicht eingebildet.

      Ich stieg vom Rad ab und ging näher heran. Tatsächlich, der altmodische schwarze Wagen war noch dort. Er parkte zwar nicht mehr vor der Eingangstür, sondern war seitlich neben der Villa abgestellt, aber er war da. Ich konnte nur noch den Kofferraum sehen. Eine ganze Weile stand ich da, bevor ich beschloss hineinzugehen.

      Was war, wenn ich erwischt werde? Vielleicht konnte ich einfach sagen:

      »Willkommen in der Nachbarschaft, wir wohnen nicht weit von hier.«

      Zwar ist das nicht gerade sehr originell, aber etwas Besseres fiel mir nicht ein. Ich wollte unbedingt sehen, wer eingezogen war. Vielleicht waren die Leute ja morgen auch schon wieder weg? Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich nicht hineinging und nie erfahren hätte, wer hier war.

      Deshalb nahm ich all meinen Mut zusammen, schritt auf das Tor zu und ging hinein. Der Weg zur Villa kam mir unendlich vor. Von draußen sah es gar nicht so weit aus. Ich schob es auf meine Aufregung und ging entschlossen weiter. Schließlich stand ich vor der Eingangstür.

      Mir schlug das Herz bis zum Hals, als ich meine Hand ausstreckte, um zu klingeln. Mit einem Mal verließ mich mein Mut und ich wollte gerade wieder gehen, als ich plötzlich hörte, dass die Tür geöffnet wurde. Ich erschrak, drehte mich um und sah, dass ein älterer Herr an der Tür stand.

      Er hatte volle, schneeweiße Haare. Falten hatte er noch keine, was, sonderlich war, wenn man bedenkt, dass die Haare schon so weiß waren. Sein Gesicht zeigte keine Emotionen. Ich konnte nicht erkennen, ob ich ihm vertrauen oder die Beine in die Hand nehmen und weglaufen sollte. Angst machte er mir nicht, nur unheimlich war es mir schon, weil er die Tür öffnete, obwohl ich nicht geläutet hatte. Er war korrekt gekleidet, trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und schwarze Schuhe. Alles passte zusammen, es sah einfach perfekt aus. Er sah recht gut aus für sein Alter, obwohl ich natürlich nicht einschätzen konnte, wie alt er war.

      »Guten Tag, Miss Clarus.«

      Ich sagte nichts. Es kam einfach kein Wort über meine Lippen.

      »Kommen Sie bitte herein, Miss Clarus, Sie werden bereits erwartet.«

      Wie? Wer erwartet mich? Woher kennen sie meinen Namen? Woher konnten sie wissen, dass ich komme? Mit einem Mal merkte ich, dass ich dieses Gespräch nur in meinem Kopf führte. Noch immer kam kein Ton aus meinem Mund heraus – meine Stimme versagte.

      »Bitte, treten Sie ein.«

      Ich folgte dem älteren Herrn, ohne zu zögern. Wir kamen in einen riesigen Eingangsraum, fast so groß wie das Haus, in dem ich wohnte. Es war ein sehr eindrucksvoller Raum. Die Wände hingen voller Porträts. Die Personen darauf trugen Kleidung, die ich aus den Geschichtsbüchern kannte. Das müssen Familienmitglieder sein, dachte ich.

      »Warten Sie bitte hier, ich sage dem Herrn Bescheid, dass Sie da sind.«

      Er verschwand hinter einer der vielen Türen. In der Mitte des Flures war eine Treppe, die hinaufführte. Was dort wohl ist?

      Dann fiel mir eine Tür mit zwei Flügeln auf. Was mag hinter der Tür sein? Ich war neugierig und wollte nur hineinschauen, bevor der ältere Herr wiederkam. Also ging ich langsam auf die Tür zu und klopfte leise. Es antwortete niemand. Gut so, dachte ich. Ich öffnete die Tür vorsichtig und streckte meinen Kopf hinein.

      »Hallo? Ist da jemand?«

      Es kam keine Antwort und ich trat einfach ein. Die Regale an den Wänden waren voller Bücher. In der Mitte des Raumes stand ein Schreibtisch, der wirklich riesig war. Rechts war ein Kamin, auf dem ein Porträt von einer Frau stand, die bildhübsch war. Wer sie wohl ist?

      Mir fiel auf, dass die Kette um ihren Hals fast so aussah, wie die meiner Mutter, die sie allerdings nie trug. Ich verweilte einen langen Augenblick vor dem Porträt und schrak auf, als die Tür aufging.

      »Bitte folgen Sie mir, Miss Clarus.«

      Als ich den älteren Herrn ansah, fühlte ich, dass mein Gesicht ganz heiß wurde. Was er wohl von mir dachte? Bestimmt nichts Gutes denn ich sollte im Flur warten und nicht hier sein ohne Aufforderung. Ich antwortete nicht und folgte ihm einfach. Doch statt den Raum so zu verlassen, wie wir hereingekommen waren, ging er an mir vorbei, öffnete die Terrassentür und ging hinaus. Ich folgte ihm mit leicht gesenktem Kopf nach. Als wir im Garten waren, sah ich dort einen jungen Mann sitzen, der eine Zeitung las und sich nicht rührte.

      »Mr. Albus, Miss Clarus.«

      Der Mann legte die Zeitung zur Seite und erhob sich.

      »Miss Clarus, schön Sie endlich persönlich kennenzulernen!«

      »Guten Tag, Mr. Albus.«

      »Nur Ben, bitte. Darf ich Sie Sarah nennen?«

      »Hm ... Ja«

      »Bitte, setz dich doch.«

      Ich setzte mich und konnte meine Augen nicht von ihm lassen. Er hatte etwas an sich, dass mich in den Bann zog, ich aber nicht beschreiben konnte.

      »Woher kennen Sie meinen Namen?«

      »Sarah, ich werde es dir erzählen, aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Nun, erst mal zu deiner Frage. Ich kenne dich bereits seit 15 Jahren und weiß alles über dich und deine Familie.«

      »Meine Familie?«


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