Unter dem Ostwind. Wilhelm Thöring

Unter dem Ostwind - Wilhelm Thöring


Скачать книгу
der es nach Gans, nach Bratäpfeln und Tanne riecht. Sogar für die heilige Familie sind Gedecke aufgetragen worden, und diese drei Teller zwingen alle um den Tisch zu einer solchen Feierlichkeit, als säße das heilige Paar mit seinem Kind leibhaftig unter ihnen. Heute Abend stehen nur drei überflüssige Gedecke da, auf die Amalie in Gedanken versunken blickt: ja, zu Hause, bei ihren Eltern, da waren schon einmal Fremde am Tisch gewesen und haben von diesen Gedecken gegessen. In diesem Haus ist das all die Jahre, die sie hier wohnt, noch nie vorgekommen, weil ihre Schwiegermutter bei dieser Feier keine Fremden am Tisch haben wollte. Und das ist auch so geblieben, als die alte Frau gestorben war.

      Nachdem sie das Weihnachtslied ’Lulajze Jezuniu‘ gesungen haben, dürfen die Kinder endlich vom Tisch aufstehen und sich über das hermachen, was ihnen beschert worden ist. Amalie hat, als sie die Führung des Haushalts übernommen hatte darauf bestanden, dass das Weihnachtsmahl und damit der Tag mit diesem schlichten polnischen Lied beendet werde. Die Schwiegermutter hatte sich, so lange sie lebte, durchgesetzt und das deutsche Lied singen lassen: ‚Freuet euch, ihr Christen alle’; seit sie aber begraben ist, singen sie in Erdmanns Haus, obwohl auch Amalie das Polnische ablehnt, ’Lulajze Jezuniu‘.

      Jendrik fällt auf, dass seine Frau nach dem Kirchgang noch stiller geworden ist als vorher, und dass sie ungeduldig mit den Kindern ist und keine Freude zeigt. Ihr scheint der Schwiegervater zu fehlen, sagt er sich. Ja, manchmal sieht sie aus, als hätte sie sogar geweint.

      „Hast du geweint?“ fragt er sie.

      „Nein, weshalb sollte ich weinen? Ich bin nur müde. Nein, es ist nichts.“ Sie schüttelt den Kopf, das genügt ihm, und er lässt sie in Ruhe.

      Nach den Feiertagen werden sie mit allen Kindern nach Lodz fahren, um mit Jendriks Bruder das väterliche Erbe zu besprechen. Wenn Amalie daran denkt, dann legt sich etwas um ihren Hals und würgt sie. Sein Bruder und die Schwägerin verursachen ihr Unbehagen. Bei der Beerdigung des Schwiegervaters hat sie alles daran gesetzt, ihnen nicht zu nahe zu kommen; so ist Amalie entschlossen, nicht zu fahren, sondern mit den kleinen Kindern hier zu bleiben.

      „Hoffentlich ist besseres Wetter, wenn du mit den Großen nach Lodz fährst.“

      „Mit den großen Kindern? Wir sind alle eingeladen“, hat ihr Mann geantwortet.

      „Aber es muss sich jemand um das Vieh kümmern!“

      „Ja. Um Vieh und um Haus wird sich Witold kümmern!“

      „Der Witold? Du willst das alles dem Witold überlassen? Diesem ... Er ist doch noch fast ein Kind!“

      „Mit siebzehn Jahren? Ich weiß, was ich ihm zumuten darf.“

      „Jendrik, außerdem fühle ich mich in letzter Zeit nicht wohl“, wendet die Frau später ein.

      Sie liegt abgewandt und weit weg von ihm im Bett. Obwohl sie den ganzen Tag gearbeitet hat und so vieles bedenken musste – sie kann nicht einschlafen. Der Gedanke an den Besuch bei der Lodzer Verwandtschaft hat alle Müdigkeit verscheucht. Es ist, als hätte sich die Klammer, die sie um den Hals spürte, auch noch um die Brust gelegt.

      Der Mann lässt sich Zeit, ehe er sagt: „Ja, das habe ich bemerkt. Aber die Pflege meines Vaters war für dich auch viel zu ...“

      „Nein, nein, das ist es nicht, Jendrik, nicht das ...“

      „Was ist es dann?“

      In dem Bettchen nebenan werden die Zwillinge unruhig, die sie im Frühjahr geboren hat, und eins von ihnen beginnt zu wimmern. Amalie hat ihm heute den Grund ihres Unwohlseins sagen wollen, aber sie sagte es nicht.

      Sie steht auf und tappt auf bloßen Füßen zu den Kleinen, um sie zu beruhigen. Als sie sich wieder zu Jendrik legt, da ist er schon eingeschlafen.

      Durch den Riss in der Fensterlade scheint der Mond. Oder leuchtet der Schnee in dieser Nacht so hell? Nach und nach bekommen einige Dinge in der dunklen Stube durch das spärliche Licht Konturen oder sie verzerren sich zu Spukgestalten.

      Wenn sie mit der Schwägerin, dieser Antonya, zusammen ist, dann wird der Boden unter ihren Füßen unsicher. Ihr ist, als klaffe ein tiefer, ein unüberbrückbarer Riss zwischen ihr und der Schwägerin. Antonyas Art zu sitzen, plötzlich aufzustehen und etwas in der Stube unter die Lupe zu nehmen, ihre Art zu sprechen – das verunsichert sie. Wenn jene Fragen stellt oder Antwort gibt – deutlicher kann man das Gegenüber nicht klein machen, findet Amalie. Und wie sie mit dem Besteck umgeht! Wenn wir beide zusammen kommen, dann wechseln wir in fremde, in gegensätzliche und beklemmende Welten. Nein, in Antonyas Nähe packt mich nichts als Unbehagen. Warum soll ich tagelang mit dieser Frau zusammen sein, wenn es sich so verhält?

      Mag Jendrik seine Verwandten besuchen! Mag er auch die größeren Kinder mitnehmen. Ich werde nicht fahren!

      „Wie soll ich mit den größeren Kindern fahren können? Wenn sie schreien, dann werden sie nach dir schreien! Ich kenne sie doch: schon während der Fahrt wird das Gequengel losgehen“, hatte er gebettelt. Und als sie schwieg, hatte er weiter eingewandt: „Und außerdem muss ich mich mit dir besprechen können, Malchen. Du weißt, dass ich nur ungern Entscheidungen treffe, die nicht mit dir besprochen wurden ...“

      „Und wenn ich sie nicht gutheiße – du tust dennoch, was du für richtig hältst!“, hatte sie ihn heftig unterbrochen. „Du hörst ja überhaupt nicht auf das, was ich sage, Jendrik!“

      „Das ist nicht wahr! Ich höre schon auf dich, aber du bist oft sehr zögerlich, dir fehlt oft die Entschlusskraft, die für so manche Entscheidung nötig ist. Bedenken, ja, das ist gut. Aber man kann nicht alles so lange bedenken, wie du es machst. – Du wirst mitfahren. Und wenn du es bei ihnen nicht mehr aushalten kannst, nun, dann fahren wir eben wieder heim“, bettelte er weiter.

      Nein, dazu wird es nicht kommen, wollte sie ihm antworten. Auch das hat sie ihm nicht gesagt. Denn sie wird hier bleiben, und wenn sie eine Lüge erfinden muss! Ja, dazu ist sie bereit!

      Aber wie anders ist es, wenn er vor ihr steht und mit ihr spricht! Dann ist es mit ihrer Standhaftigkeit vorbei.

      Sie hat ihm nicht viel entgegenzusetzen gehabt, und eine Lüge, nun die ist ihr bis jetzt auch noch nicht eingefallen. Wenigstens eine solche nicht, die ihn hätte überzeugen können, die einleuchtend gewesen wäre.

      Sie wird mir schon einfallen, sagt sie sich und hört ihm zu, wie er tief und gleichmäßig atmet.

      Etwas Beruhigendes und Angenehmes geht durch sie und lässt sie schließlich einschlafen.

      Kapitel 2

      Im Zimmer ist es dämmerig und still. Wenn Schnee liegt, ist es länger hell, aber bis in dieses Zimmer kann kein Schnee heraufleuchten. Es liegt in der oberen Etage der Villa Stanislaus Erdmanns, zudem halten breite und schwere Fenstervorhänge das Licht draußen. Hier sind sie nicht so sehr auf das Tageslicht angewiesen, in allen Zimmern dieses Hauses hängen prachtvolle Lampen, die jederzeit Licht spenden, mehr Licht, als wenn Amalie in ihrer Stube in Zdunska Wola alle Petroleumlampen und ihren ganzen Kerzenvorrat angezündet hätte. In der Ecke tickt die große Wanduhr, die zu gewissen Zeiten sogar eine kleine, abgehackte Melodie hören lässt; das wäre der Anfang eines Volksliedes, wurde ihr gesagt.

      Amalie sitzt vor dem Fenster im Erkerzimmer, auf dem Schoß liegt eine Stickarbeit, ein Geschenk ihrer Schwägerin Antonya. „Ich weiß, dass du solche Arbeit von jeher gerne gemacht hast“, hat Antonya gemeint. „Wenn sie fertig ist, dann soll sie dich an diese Tage in Lodz erinnern!“ Es ist eine komplizierte, eine kostbare Arbeit und Amalie findet, die passe eher in dieses Haus, nicht in ihre derbe Stube.

      Eben hat die Halina, das stupsnasige Hausmädchen, die Schwägerin nach draußen gebeten. Die Halina ist eine direkte, eine unverblümte Person. Gleich bei der ersten Begegnung hat sie erkennen lassen und eine Bemerkung gemacht, dass sie diese Leute vom Land nicht mag.

      Amalie überlässt sich ihren Gedanken.

      Sie denkt an die lange Fahrt in der kalten Kutsche, die der Schwager geschickt hat. Die Nachbarn in Zdunska Wola waren nicht


Скачать книгу