Unter dem Ostwind. Wilhelm Thöring

Unter dem Ostwind - Wilhelm Thöring


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auf dem Hof stand. Keiner konnte sich erinnern, sie vor der Beerdigung des alten Siegismunds in dieser Stadt gesehen zu haben.

      „Werdet ihr damit zum Jahreswechsel so vornehm in die Kirche fahren?“, wurde Amalie gefragt.

      „Nicht in die Kirche.“ Dann etwas überheblich: „Nach Lodz fahren wir. Zum Schwager.“

      „Ei, seid ihr vornehme Leute geworden!“

      War das vergnüglich! Amalie muss jetzt noch darüber lachen. Nachdem sie sich gegen die Fahrt nicht mehr verweigern konnte, gab es schon wegen der Kinder vieles zu bedenken; dazu die Aufregung und Fragerei bei ihnen!

      Für die Kinder hat sie Ziegelsteine heiß gemacht und Wärmflaschen mitgenommen und sie zu ihnen in die Decken gelegt. Es dauerte nicht lange, ein wenig hinter Zdunska Wola, und die Kleinen haben zu jammern angefangen und über kalte Füße und Hände geklagt. So mussten sie und Jendrik während der langen Fahrt abwechselnd das eine oder andere auf den Schoß nehmen, um es zu wärmen.

      Als sie durch Pabianice gefahren sind, haben die Kinder Gucklöcher in die vereisten Scheiben gekratzt und gehaucht und sich die Nasen platt gedrückt. In Lodz schließlich wollten sie aussteigen und zu Fuß gehen. Solche breiten und festen Straßen, wo sich Geschäft an Geschäft reiht und wo in einer einzigen Straße mehr Menschen unterwegs waren, als in ihrer Stadt wohnen – das hatte keiner von ihnen je gesehen. Auch Amalie und ihr Mann staunten, und gegenseitig machten sie sich auf die vielen unerhörten Dinge aufmerksam, die es hier zu bewundern gab. Zu beiden Seiten der Straßen standen hohe Lampen, die von einem Mann mit einer langen Stange angezündet wurden, so dass es selbst am Abend heller war als an manchen Tagen in dieser Zeit. Und in unerhörter Fahrt jagten Kutschen rechts und links an ihnen vorbei, dass ihnen schwindelig werden konnte.

      „Wohnen hier denn nur Reiche?“ hat sie ihren Mann gefragt. „Wie gut die gekleidet sind! So wohlgenährt ...“

      „Das ist die Stadt“, versuchte der Mann zu erklären. „Da kleiden sie sich anders als bei uns auf dem Land. Hier verdienen sie in den Fabriken gutes Geld. Sogar die Frauen arbeiten, sagt Stanislaus.“

      Amalie ist entsetzt. „Die Frauen arbeiten? Und die Kinder!“

      „Frag meinen Bruder. Arme gibt es hier auch mehr als genug. Die fallen nur weniger auf.“

      Sie wunderten sich über die schnurgerade Straße, durch die Menschenmassen schwärmten, über die aneinandergereihten Häuser wunderten sie sich, in denen sie Geschäft an Geschäft sahen. Dann bogen sie in ein stilleres Viertel ein, in dem weniger Menschen unterwegs waren. Nur die Kutschen jagten noch hin und her. Die dichten Häuserfronten blieben zurück, dafür tauchten zu beiden Seiten der Straße Villen auf mit Erkern und verzierten Giebeln, mit hohen hellen Fenstern, vor denen durchscheinende Vorhänge hingen, über die die Frau sich sehr wunderte. Hinter den Scheiben erkannten sie Menschen, die in den Abend schauten oder miteinander sprachen. Manche Villa stand dicht an der Straße, aber eine hohe Mauer oder ein kunstvolles Gitter schirmte sie ab. Andere versteckten sich in einem weiten Park, und der Weg dahin wurde von kleinen Laternen beleuchtet; in der Ferne blinkten ihre Lichter aus hohen Fenstern in die Dunkelheit.

      Das Pferd, das ihre Kutsche zog, in der sie saßen, ist ruhig und gelassen durch das Gewühl gegangen. Plötzlich jedoch verfiel es in einen leichten Trab. Es hielt sich dicht an der rechten Straßenseite und einige Frauen, die nebenher gingen, grüßten, und Männer zogen ihre Mütze vom Kopf und verneigten sich.

      Sie haben die Straße verlassen und sind in einen dunklen Weg eingebogen, der vom Schnee freigefegt worden war. Verschneite Tannen waren zu erkennen, schwarze Baumstämme und Büsche, die sich unter der Last des Schnees bogen. Nach einer scharfen Kurve tauchte rechts neben der Kutsche ein Haus mit Säulen und einer weiten Freitreppe auf. Jemand leuchtete mit einer Fackel durch das Wagenfenster und rief: „Sie sind da! Sie sind da!“

      Augenblicklich waren die oberen Stufen der Treppe voller Licht. Amalie erkannte den Schwager und die Schwägerin, daneben deren Kinder und etwas im Schatten die stupsnasige derbe Person in ihrer Dienstkleidung.

      „Wie weit bist du denn, Schwägerin?“ fragt Antonya so leise, als sei jemand eingeschlafen. Sie ist ins Zimmer gekommen, ohne dass Amalie sie bemerkt hat. Antonya lehnt gegen den Porzellanofen. Sie steht tief im Schatten und ist noch immer nicht zu erkennen.

      „Ach, Antonya, Schwägerin, bist du hier? Ich habe dich gar nicht gehört. Wovon sprichst du?“

      „Von deiner Schwangerschaft. Ich habe das bei der Beerdigung schon bemerkt.“

      „Es müsste der dritte Monat sein.“

      „Nicht weiter?“ Sie tritt aus dem Schatten. „Diese unersättlichen Kerle!“ schimpft Antonya mehr für sich.

      „Nein, ich freue mich auf dieses Kind, denn es wird das letzte sein ...“ gibt Amalie zurück.

      Antonya kommt an Amalies Seite, gallig sagt sie: „Ja, das hat man uns gelehrt: freue dich, denn zum Gebären bist du da. Freue dich, Kinder sind eine Gabe des Himmels. Aber jede dieser Himmelsgaben zerstört unseren Körper und macht uns mit einem Schlag um Jahre älter und hinfälliger, und dann ...“ Sie bläst verärgert Luft durch die Nase. „ ... und dann, dann machen sich die Kerle davon und lassen uns mit unseren Himmelsgaben im Regen stehen! So ist das! So machen sie es alle.“

      „Jendrik nicht“, widerspricht Amalie.

      „Vielleicht jetzt noch nicht.“

      Amalie ist, seit sie dieses Haus betreten hat, noch irritierter, als sie es vor der Reise gewesen ist. Diese Antonya ist so ganz anders als jene, die sie vorher kennengelernt hat. Antonya wirkte immer etwas fremd, etwas zurückhaltend und von oben herab, nicht selten sogar dünkelhaft. Der Schwiegervater nannte sie das ‚Polnische Madamchen’, wenn sie oder Stanislaus nicht in der Nähe waren. Oder er winkte ab oder zog die Mundwinkel verächtlich nach unten, wenn jemand ihren Namen erwähnte. Es soll sogar zwischen ihm und Stanislaus, seinem älteren Sohn, zu lauten, zu aufbrausenden Auseinandersetzungen nach der Hochzeit gekommen sein, worauf der Sohn sich nicht mehr in Zdunska Wola sehen ließ. Erst als die Mutter beerdigt wurde, traf er mit dem Vater zusammen und hat sich mit ihm ausgesprochen; zu einer Aussöhnung sei es nicht gekommen, hat der Sohn durchblicken lassen. Antonya ist, als es zu dieser Begegnung kam, in Lodz geblieben.

      Das war vor acht Jahren.

      Antonya beugt sich über die Handarbeit und hebt sie etwas in die Höhe, um sie besser besehen zu können. „Wie sauber du stickst, Schwägerin. Das sieht aus, als würdest du nichts anderes tun, als käme es aus Asien. Es heißt, die handarbeiten so vollendet wie kein anderer.“

      Amalie lacht etwas. „Ich habe seit Jahren nicht mehr gestickt. Was ich getan habe, Schwägerin: am Webstuhl habe ich gesessen! Seit der Heirat – nur am Webstuhl. Dann kamen die Kinder. Haus und Garten waren zu versorgen, zuletzt dazu noch die Schwiegereltern ...“

      „Ja, du bist stark. Ich hätte das nicht gekonnt.“

      „Nein, stark bin ich nicht.“

      „Ich fühle mich an manchen Tagen schon mit den Leuten hier überfordert! Alle diese schwerfälligen Schädel! Wenn du denen nicht jede Einzelheit vorkaust –“ Antonya läutet, und augenblicklich erscheint die Halina, diese stupsnasige Person, als hätte sie hinter der Tür gestanden.

      „Halina, bringen Sie uns den Tee. Aber hierher an den Ofen!“ fügt sie mit Nachdruck hinzu.

      Später, die Halina hat gehorsam ein Tischchen an den Porzellanofen getragen und einen Stuhl dazugestellt, gesteht Antonya: „Ich habe mich auf das Zusammensein mit dir, Schwägerin, gefreut. Ich weiß, dass du überhaupt keine Lust hattest, nach Lodz zu kommen. Aber ich wollte, dass du mitkommst! Du und die Kinder. Ich dachte mir, nein, ich habe es gehofft, dass das eine Gelegenheit ist, die uns zwei näherbringt ...“ Sie bricht ab und machte eine Pause. Dann: „Zwichen uns gab es immer so etwas wie eine Mauer. Weißt du, ich finde, dass die eingerissen werden muss; ich habe das Gefühl, dass wir uns verstehen könnten.“

      Amalie macht ein Gesicht, als verstehe sie nicht.

      Die


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