Unter dem Ostwind. Wilhelm Thöring
auch gefragt: Was wollen Sie mit unserem Sohn? Der passt nicht dahin, wo Sie herkommen. Wir sind Weber, wir leben von der Arbeit unserer Hände, ehrlich und aufrichtig. Sie waren hart, alle beide! Hart und fromm und stolz. Und misstrauisch gegen alles, was ihnen fremd war. Sie sagten: Um uns zusammenzubringen, habe mein Vater den Stanislaus gekauft.“
„Wenn ich dabei war, dann wurde nie über die Sache gesprochen“, sagt Amalie. „Aber wie kann man einen Menschen kaufen?“
„Aber das weißt du, dass mein Vater Stanis’ Studium bezahlt hat. Die Schwiegereltern hatten dafür kein Geld. Und hätten sie’s gehabt, dann hätten sie nichts herausgerückt. Wie kann ein Webersohn studieren? Das macht ihn vor der Obrigkeit verdächtig! Für die geriet die Welt aus den Fugen, weil der Sohn aus allem Vertrauten, aus der alten Ordnung auszuscheren versuchte. So etwas hat’s bei den Erdmanns noch nie gegeben!.“
Es ist so dunkel im Zimmer, dass die Frauen sich nicht sehen können. Antonya zündet eine Kerze an und stellt sie auf das Tischchen. „Dass Stanislaus mich liebte und ich ihn – das war für die Schwiegereltern ebenso unmöglich. Wer heiratet denn aus Liebe? Neumodische Kindereien sind das. Wenn geheiratet wird, dann wird weder aufs Gesicht noch auf die Figur geguckt, vielleicht auf den Charakter, sondern auf das, was der andere in der Tasche hat. Aber diese Regel galt bei uns nicht. Nicht bei Stanislaus, nicht bei mir. Denn ...“ Antonya kichert. „Obwohl ich doch, wie man so sagt, mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wurde – so eine wollten sie trotzdem nicht. So hoch hinaus sollte der Sohn nicht langen, denn da stürzt man schnell und tief!“
Sie ist aufgestanden, um den Rücken am Ofen zu wärmen. „Was man vom Adel zu halten habe, das wisse jeder, sagten sie zu Stanislaus. Der Adel ist faul, er presst die Menschen aus, hat einen Dünkel, dass es zum Himmel stinkt. Selbst wenn er so unbedeutend ist, wie wir es sind. – Bei der Beerdigung des Schwiegervaters überfiel mich wieder die Erinnerung und dieses ... dieses Gefühl, dass ich eine Fremde in der Familie bin und wohl auch bleiben werde.“
„Wie, du selbst denkst das auch?“ bricht es aus Amalie hervor und sie schlägt sich sofort vor Schreck auf den Mund.
„Amalie, Schwägerin, das spürt man doch. Du würdest es auch spüren. Du zeigst eine harte Rinde, aber innen, Amalie, bist du aus weichem Holz, bist verletzbar, ohne viel Widerstand. Und jetzt, da von der alten Generation keiner mehr da ist“, sagt Antonya fast fröhlich, „möchte ich Frieden schließen. Mit dir, auch mit dem Jendrik. Darum habe ich alles daran gesetzt, dass ihr nach Lodz kommt. Und ihr seid gekommen. Glaubst du mir, dass ich mich darüber freue? Sehr freue?“
Antonya kommt um das Tischchen, um die Schwägerin zu umarmen. „Amalie, ich möchte alles versuchen, dass wir uns näher kommen und nicht mehr wie Fremde gegenübersitzen.“
Stanislaus ist mit seinem Bruder an diesem Nachmittag in die Fabrik gefahren, die ihm durch eine Erbschaft seiner Frau mit zugefallen ist. Noch vor seiner Heirat mit Antonya hat er sich ins Praktische der Tuchweberei eingearbeitet und den Betrieb in wenigen Jahren zu einem angesehenen und gewinnbringenden Unternehmen ausgebaut.
Das war einer der Gründe, warum sein Schwiegervater, der alte Graf Zlotczinsky, die Eskapaden seines Tochtermannes ertrug. Der andere war dieser: sein Sohn Krystian, Antonyas älterer und einziger Bruder, war sehr früh als Anarchist in den Untergrund gegangen, um mit einer Gruppe junger Männer und Frauen gegen die russischen Okkupanten zu kämpfen. Sie sollen achtzehnhunderteinundachtzig bei dem Attentat auf den Zaren beteiligt gewesen sein, und seither lebte Krystian irgendwo auf der Welt als Gejagter in einem Versteck, das keiner aus seiner Familie kennt.
Aufgebracht ermahnte der alte Graf seinen Sohn: „Patrioten, mein Sohn, das sind wir alle! Auch deine Mutter, die sich nicht zu den politischen Dingen äußert. Du weißt doch: Gewalt erzeugt Gegengewalt. Was ist das schon, was ihr vollbracht habt? Mit Alexander II. habt ihr den falschen in die Luft gejagt! Die Ochrana und die ganze Polizeimacht wird nicht eher Ruhe geben, bis sie euch aufgespürt und gehängt hat. Mein Sohn, du bringst nicht nur Sorge, Unruhe und Enttäuschung über deine alten Eltern, sondern Angst! Angst um dich, um deine Schwester – auch Angst um uns selbst. Das wir so etwas noch erleben müssen!“
Krystian hatte dazu geschwiegen. Und als der Vater nichts mehr zu sagen hatte, stand er auf, hatte wortlos die Mutter geküsst und war gegangen. Seither hat es kein Lebenszeichen mehr von ihm gegeben.
An manchen Tagen äußerte die alte Gräfin: „Mir sagt eine innere Stimme, dass der Krystian tot ist. Es ist so, als flüstere jemand mir das ins Ohr. Immer wieder, immer wieder ...“
Sie bekam dann rote Augen, verließ die anderen und zog sich für längere Zeit in ihr Boudoir zurück und wollte ungestört bleiben.
So ist denn die Leitung der Tuchweberei in Stanislaus’ Hände gekommen.
Die Fabrik liegt jenseits der Straße, weiter zur Stadt, hinter einer Reihe von kleinen schäbigen Arbeiterhäusern. Diese Häuser, erklärt Stanislaus seinem Bruder, werde er in ein paar Jahren für seine Leute kaufen und sie verbessern lassen. „Bezahle deine Leute gut und schaffe ihnen eine ordentliche Unterkunft, so hältst du sie bei der Stange.“ Er lacht laut. „Wenn du erfolgreich ausbauen und erweitern willst, Bruder, dann musst du auch auf solchen Feldern ackern!“
Überall wo Stanislaus sich mit seinem Bruder sehen lässt, da taucht auch bald ein Schwarm dienstbeflissener Leute auf. Jendrik ist die Unterwürfigkeit der Männer zuwider. Mit krummem Rücken, die Mütze in der Hand, erwarten sie Befehle.
‚Die russischen Herren haben viel verbogen, sogar den Charakter der Polen, denkt er. Mein Bruder scheint es zu genießen, dass sie um ihn scharwenzeln und ihm liebedienern‘, denkt er, denn Stanislaus steht sehr achtunggebietend vor ihnen und schaut mit abwesendem Blick über die gesenkten Köpfe hinweg, als gäbe es die gar nicht.
„Wie kannst du das ertragen?“ fragte Jendrik, als sie wieder allein sind. „Diese Demut, diese Kriecherei ...“
„Ich kann es nicht ändern! Glaube mir nicht, dass ich das mag! Was sollen sie sonst vor dem Herrn tun? Über viele Jahre wurde ihnen das mit der Knute eingebläut. Wie sollen sie sich da nicht bücken vor einem, den sie für mächtig halten? Schließlich haben sie doch nur überlebt, weil sie den Rücken krumm gemacht haben und auf dem Bauch gekrochen sind!“ Er bleibt stehen und hält den jüngeren Bruder am Arm fest. „Wenn du nicht auf dem Acker unserer Väter säßest – Bruder, hier würdest auch du dich krumm machen! Aber so, wie du lebst, lebst du wie ein freier Mann und Herr!“
Der Acker der Väter – ja, darum geht es ihm! Vielleicht hat der Bruder das mit Absicht gesagt. Um über das väterliche Land zu sprechen, dafür ist er nach Lodz gekommen. Bis jetzt hat keiner daran gerührt. Das Land zu teilen bedeutet, in ein bedeutungsloses Kätnerdasein zu fallen und, was beinahe noch ärger wäre, Häme und Spott der Nachbarn hinzunehmen.
Stanislaus lässt den Bruder stehen und wendet sich einer adretten Frau zu, die in gehöriger Entfernung auf ihn wartet. Jetzt, da er auf sie zukommt, streckt sie ihm eine Mappe entgegen. Der Bruder blättert darin und erklärt etwas, und die Frau nickt mit gesenktem Kopf. Plötzlich aber reckt sie sich und sieht ihm keck ins Gesicht, wobei sie sich herausfordernd nach hinten biegt.
Stanislaus ist verärgert und weiß nicht, wie er sich vor dem Bruder verhalten soll. Er herrscht die Frau an und sie flüchtet mit rotem Kopf in die Halle zurück.
„Manchmal schlägt das kleine Luder übers Ziel“, meint er verlegen zu Jendrik und wiegt seinen Kopf: ja, da kann man nichts machen.
„Ja, vielleicht ist es so, dass du sie an einer langen Leine laufen lässt, Bruder“, antwortet Jendrik.
Das väterliche Erbe – vor allem Jendrik spukt der Gedanke an eine Aussprache durch den Kopf und bedrückt ihn. Wenn sie allein sind, dann liegt das bleischwer zwischen ihnen, findet er. Was wird der Bruder vorschlagen und unternehmen, der sich in der Rechtswissenschaft gut auskennt und dem in einer Stadt wie Lodz alle Möglichkeiten offen stehen, um an das zu gelangen, worauf er ein Anrecht hat. Hätte nur der Vater diese Sache noch geregelt! Das wäre nicht anzufechten, das hätte Gültigkeit für alle Zeit. Haben die