Unter dem Ostwind. Wilhelm Thöring

Unter dem Ostwind - Wilhelm Thöring


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hetzenden Menschen, die endlosen Häuserzeilen, an denen sie vorbeifahren. Das alles fesselt ihn so, als sähe er es zum ersten Male. Er hört den Bruder sagen: „Mit Vaters Erbe gibt es nichts zu regeln, Jendrik. Es ist geregelt, wie es schon vor seinem Tod geregelt war. Und so soll es bleiben.“

      „Ich verstehe dich nicht ... Nichts zu regeln?“, stottert er verwirrt. „Deine Frau sagte doch ...“

      „Ach was! – Es bleibt alles, wie es ist. Bruder, ich habe mehr, als ich brauche. Die Tage, die du bei mir bist, habe ich mir die Sache wieder und wieder durch den Kopf gehen lassen. Nein, eigentlich nicht – im Grunde, Jendrik, stand mein Entschluss schon bei Vaters Beerdigung fest. Ich habe mit Antonya gesprochen, die hält es auch für richtig, dass alles so bleibt, wie es ist, und dass das Land nicht in billige, nutzlose Flicken zerrissen wird.“

      „Heißt das, dass du verzichtest? Vaters Land, das Haus – nicht teilen? Meinst du das?“

      „Ja. Wir dürfen nicht teilen. Denn jeder Erdmann vor uns hat versucht, den Besitz zu vermehren.“

      „Ja, das ist wahr.“

      „Und du, Bruder, sollst es wie unsere Väter machen! Was ich hier in Lodz besitze, das siehst du ja. Und dann sind da noch die Güter meines Schwiegervaters. Meine Kinder sind versorgt, alle vier. Was mit dem Krystian ist, das steht in den Sternen. Der wird sein Erbe, wenn sich die politische Lage nicht ändert, niemals antreten können. Ja, wenn der überhaupt noch lebt! Solange die Russen einen Fuß in Polen haben, wird der das Leben einer Ratte führen müssen: immer im Untergrund, immer im Verborgenen ... So ist das doch.“

      „Ihr wisst nichts von ihm?“

      „Gar nichts. Also, noch einmal: mit Vaters Land und Haus bleibt es, wie es ist!“

      Vor der Villa toben die Kinder im Schnee. Als sie die Kutsche entdecken, rennen sie schreiend nebenher. Der Kutscher Frantizek ist abgesprungen, um einen Unfall zu verhüten. Er hält die kleine Horde behutsam von den Rädern fern. „Was gibt’s denn?“ fragt Stanislaus durch den Fensterspalt. „Warum schreit ihr wie die Pferdeknechte?“

      „Wir dürfen Silvester Schlittschuh laufen, Vater! Alle! Bis in die Nacht! Ach – bis ins neue Jahr hinein!“

      „So?“

      „Es soll ein richtiges Fest werden! Weil wir Besuch haben!“

      „Wer sagt das?“

      „Mutter!“

      „Ja, dann wird das wohl so sein.“

      Antonya steht mitten im Zimmer. Sie kehrt ihrem Mann den Rücken zu als sie fragt: „So, du willst auf die Bärenjagd?“

      „Ja.“

      „Wann hast du dir das denn überlegt?“

      „Seit ich weiß, dass es einen Bären in der Jezower Gegend gibt.“

      „Um diese Zeit?“ fragt sie misstrauisch. „Ein Bär? Ende Dezember? Liegen die nicht im Winterschlaf?“

      „Man hat ihn aufgestöbert oder aufgeschreckt ...“

      „Wer will hier wem einen Bären aufbinden, Stani?“

      „Bitte, Antonya, es ist ein Bär ...“ beteuert der Mann. „Mein Bruder wird mitgehen ...“

      Sie dreht sich jäh um und kommt einen Schritt auf ihn zu. „Jendrik? Ja, will der sich dieses schreckliche Treiben denn überhaupt ansehen?“

      „Er will.“

      Damit muss Antonya sich zufrieden geben. Sie lässt die Halina kommen und gibt Anweisung, alles herzurichten, was die beiden Herren für die Jagd benötigen.

      Am Vormittag des folgenden Tages brechen die Männer auf, um bei Jezow nach dem Bären zu suchen.

      In einem zweiten Wagen fahren ein paar von Stanislaus’ Leuten und die Hunde mit; es geht ostwärts. Ein kleines Stück fahren sie durch die Stadt, dann sind sie im freien Feld. Hier ist es frostiger und der Schnee nicht so grau und voller Flecken. Die Kälte hat einige Bäume zerrissen und manchmal müssen die Männer die Straße von Ästen und Zweigen freiräumen. Es kann vorkommen, dass Bauern, die verstreut im Feld hausen, vor ihre Hütte treten und über die wunderliche Gesellschaft lachen, die bei diesem Wetter mit einer jaulenden Hundemeute übers Land fährt.

      „In mir hast du nicht mehr als einen Zuschauer“, sagt Jendrik zu seinem Bruder.

      „Kein Gewehr?“ fragt Stanislaus und tut belustigt.

      „Nein.“

      „Du bist dir treu geblieben, Jendrik, bist immer noch die Taube, die du als Junge schon gewesen bist.“

      Die Männer hocken frierend in ihren Pelzen und Decken in der Kutsche. Von oben bis unten sind die Scheiben vereist. Wenn jemand spricht, dann zeigt sich eine Fahne von Rauhreif vor seinem Gesicht. Den Frantizek anschreiend, erkundigt sich Stanislaus, wo, verflixt noch einmal, sie denn überhaupt sind. Die Kälte und das Gerumpel des Wagens zerrten an seinen Nerven. Ebenso laut, dass die beiden Männer zusammenzucken, brüllt der Frantizek seine Antwort durch einen Spalt im Dach. Jendrik hat nichts verstanden, aber der Bruder nickt zufrieden: „Gott sei Dank, jetzt dauert’s nicht mehr lange.“

      Der Boden, über den sie fahren, scheint glatt zu sein wie ein zugefrorener See; das Gerumpel hört auf. Wie in einem Schlitten gleiten sie fast lautlos durch lichte Gehölze. Immer öfter verdichten sie sich zu Wäldern, die sich schwarz, abweisend den Fuhrwerken entgegenschieben und die aussehen, als sei noch nie jemand hier durchgegangen. Dann weitet sich das Land wieder und hinter einem Hügel taucht das verschneite Dach einer Hütte auf. Der rauchende Schornstein verrät, dass sie bewohnt ist.

      Als die Wagen sich ihr nähern, treten zwei Menschen ins Freie. Die Arme fest um den Leib geschlungen, sehen sie den Ankömmlingen entgegen, und dann erkennen sie sie und beginnen heftig zu winken.

      Frantizek brüllt durch den Schlitz: „Die Szannowskis erwarten Sie schon, Herr Graf!“

      Stanislaus schlägt die Decken zurück und pellt sich mit steifen, verfrorenen Fingern bei dieser Nachricht aus seinem Pelz. Seine dicken Stiefel treten den Boden, als wollte er ihn einebnen. „Wir sind angelangt!“ ruft er fröhlich. „Bei den Szannowskis können wir uns erst einmal aufwärmen.“

      Lachend und sich verneigend kommen die beiden Alten an den Wagen. Von ihren Gesichtern sind nur die Augen zu sehen. „Willkommen der Herr, willkommen! Der Herr Graf will den Bären schießen? Madonna, bei diesem Wetter!“ ruft der alte Mann und reibt vergnügt seine Hände.

      „Ja, ja, den Bären! Wo habt ihr ihn gesehen?“ fragt Stanislaus ihn.

      Der Alte deutet über seinen Rücken. „Dahinten am Wald. Vorgestern haben wir seine Spuren hier in der Nähe entdeckt. – Aber ans Haus hat sich der Halunke noch nicht getraut. Ich habe auch mehrmals in die Luft geschossen!“

      Während seine Alte die Männer in ihr Haus führt, kümmert Szannowski sich um die Pferde. Die Hunde ahnen wohl, worum es geht. Sie kläffen, als röchen sie den Teufel, sie rennen wie besessen durcheinander und schnüffeln in der Luft herum und würden am liebsten sofort losstürmen.

      „So bindet doch erst einmal die Viecher an!“ schreit Stanislaus. „Oder sperrt sie weg! Das Höllenspektakel ist ja nicht zum Aushalten!“

      Szannowskis Stube ist niedrig und dunkel. Auf den schmalen Fensterbänken hat die Alte zusammengerollte Decken und Säcke vor die Ritzen gelegt, die den Luftzug, der durch die undichten Rahmen kommt, abhalten sollen. In einem Verschlag neben dem Ofen stehen ihre drei Schafe. Die vielen Menschen, die plötzlich die Stube füllen, haben die Tiere erschreckt, dass sie ihr Wasser ablassen und wegzuspringen versuchen. Die alte Szannowska steht bei ihnen und ist bemüht, die Tiere zu beruhigen.

      Szannowski langt eine Flasche vom Bord und ein paar Gläser. „Trinken wir!“ ruft er. „Dass es Ihnen glückt, Herr Graf, den Bären abzuknallen. – Das hier wärmt, das macht Mut!“ fügt er augenzwinkernd und die Schnapsflasche schwenkend


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