Das große Bumsfallera. A. J. Winkler
“Sie haben sich für 128 nicht schlecht gehalten,” spöttelte Christian, “Kompliment, dass Sie noch nicht tot sind!”
“Spotten Sie man ruhig!” meinte der Professor milde, “Tatsache ist, dass ich niemals oder doch nur sehr selten lüge, und 128 haben Sie gesagt, nicht ich.”
Christian machte große, unschuldige Augen und wartete immer noch auf den Außerirdischen, der sich der albernen Aufmachung entledigen würde. Doch es geschah nichts dergleichen; der Fremde hub an zu einer Erklärung:
“Lieber Herr Fink, auch wenn Sie es nicht für möglich halten, Sie werden vielleicht doch noch etwas dazulernen an diesem wunderschönen heutigen Abend. Ich bin Wissenschaftler, bin Physiker, habe mein Leben dem Fortschritt in Forschung und Technik verschrieben. Ich hatte schon lange einen Traum, den ich vielleicht mit vielen anderen Menschen teile, den ich aber im Unterschied zu diesen anderen Menschen verwirklichen wollte. Und konnte. Manchem mag es freilich befremdlich erscheinen, wenn ich sage, dass ich diese Idee zuerst in einem Roman aufgeschnappt habe, nämlich in dervon H. G. Wells, einem auch im übrigen hervorragenden englischen Autor.
Ja, dieser Gedanke faszinierte mich mit jedem Jahr mehr, das ich älter wurde: in der Zeit herum zu spazieren, in die Zukunft oder Vergangenheit zu reisen und über die Zeiten zu lernen.
Und ich wollte der erste sein, der die Fiktion des Romans zur Wirklichkeit erhebt. Lange Jahre Forschung vergingen, lange Jahre des Probierens, des Lernens und Lehrens, und schließlich war ich soweit; ich hatte die Zeitmaschine gebaut. Und raten Sie ruhig: ich bin mit dieser Zeitmaschine exakt vom 1. September 1930 in Ihr wunderschönes Jahr 1994 gefahren. Wobei ich zugebe, dass der Ausdruckfast schon gelogen ist, da die Gangschaltung nicht so funktioniert hat, wie ich wollte, und ich auf diese Weise mehr oder minder mit einem Knall in Ihrer Zeit landete... Jetzt sitze ich hier vor Ihnen, und Sie schauen mich mit großen Kuhaugen an, als käme ich vom Mond.”
“Das würde mich jetzt auch nicht mehr überraschen,” erwiderte Christian, von der Erzählung des Alten etwas geplättet.
“Nun, nun, mein lieber Freund. Ich bin selbstverständlich gespannt auf Ihre Zeit, auf Ihre Epoche, und das ist ja auch der Grund, weswegen ich mich zu meiner –entschuldigen Sie: zu Ihrer Wohnung begeben habe: ich will natürlich zunächst einmal vergleichen und schauen, was ist in diesem Jahr so los, vierundsechzig Lenze nach meiner Zeit...”
“Hören Sie, ich finde Ihre kleine Story ja ganz amüsant, aber...”
“Sie sind im Zweifel, nun, das verstehe ich. Ich erwarte ja auch nicht zu viel. Wir können das morgen besprechen, wenn wir ein bisschen Zeit finden. Vielleicht können wir ein wenig von einander lernen, nicht wahr? So, es ist ohnehin schon spät. Wo kann ich mich hinlegen?”
Christian verschlug es angesichts solcher Dreistigkeit den Atem.
“Was, Sie wollen hier pennen?”
“Ich penne nicht, ich nächtige. Und ich gedenke dies hier zu tun, ja. Ich habe gerade 64 Jahre hinter mir gelassen und fühle mich etwas schlaff von der Reise. Ansonsten wäre ich selbstredend nicht so aufdringlich, junger Freund. Im übrigen stelle ich keinerlei hochtrabende Ansprüche an meine Unterkunft, ich kann spartanisch leben, und mir reicht ein harter Fußboden durchaus. Habe ja schließlich gedient.”
Der Professor streifte Christian unbekannte Kleidungspartikel ab und breitete sich anschließend an einer beliebigen Stelle auf dem Boden aus. Christian, in der Befürchtung, er habe den Alten nun für immer und ewig an der Backe, bemühte sich noch ein paar Minuten, ihn hinaus zu komplimentieren, doch Unrat-Wittmann gab nur noch Grunzlaute von sich.
Christian war konsterniert und wollte das Nachdenken über diesen komischen Vorfall auf morgen verschieben. Allerdings fiel ihm noch ein, dass er den Alten zunächst für einen Einbrecher gehalten hatte, und fragte ihn noch in den Halbschlaf, warum er sich an dem Schloss zu schaffen gemacht hatte.
“Wollte sehen, ob der Schlüssel noch passt...” Die Antwort war kaum noch verständlich, und Wittmann hatte die Augen auch schon fest geschlossen. Christian räumte die Gläser vom Tisch und war sich sicher, demnächst das Gespött der Stadt zu sein. Erstaunlicherweise war ihm das aber irgendwie egal. Sein Bekanntenkreis war eher übersichtlich, außerdem musste ja niemand erfahren, worauf er sich eingelassen hatte.
Er legte sich ins Bett und überlegte, was ihm gerade widerfuhr. Einen Einbrecher hatte er erwartet, einen Verrückten hatte er hereingelassen, und, wer weiß, vielleicht ein echtes Genie ins Haus geholt? Zwar bestand für ihn kein Anlass, den komisch - kosmischen Ausführungen des Alten Wort für Wort zu glauben. Aber irgendwas war dran an diesem seltsamen Kerl, irgendwas hatte dieser Mensch an sich, dass Christian es nicht bereute, ihn bei sich übernachten zu lassen, eine ungewöhnliche natürliche Autorität, selbstsichere Ausstrahlung, und, allem widrigen Anschein zum Trotz, auch eine Glaubwürdigkeit, welche ihn die noch vorhandenen sorgenvollen Gedanken allmählich vergessen und ganz langsam einschlummern ließ, so als handelte es sich um das Normalste von der Welt.
Und er träumte von dicklichen Professoren und Zeitmaschinen.
2. September
Name: Christian Fink
Wohnort: Berlin-Wilmersdorf
geboren: 22. Mai 1960 in Berlin-Köpenick
Größe: 1,79m
Gewicht: 72 kg, Tendenz leicht steigend
Augenfarbe: hellgrau
Haarfarbe: dunkelblond
Beruf: Architekt
Lieblingsspeise: Artischocken
Lieblingsgetränk: Martini bianco (mit Olive)
Lieblingsautor: H. Mann, Tolstoi
Lieblingsmusiker: wechselt zwischen H. v. Veen und Tori Amos
Lieblingskünstler: A. Macke, J. Miró
Lebensstationen: Schule, Studium, Praktikum, Anstellung
Lebenseinstellung: nachdenklich und gewissenhaft, trotzdem Hang zum Chaotischen
Christian erwachte, da sich irgendetwas in seine Nähe gedrängt hatte, das nicht allzu angenehm roch. Er blinzelte mit den Augen und versuchte, seinen Schlaf gegen den unerwünschten Wachzustand zu verteidigen, doch vergebens. Der Fremde beugte sich über ihn.
“Fein, dass Sie auch endlich zu sich kommen.”
Christian begriff, dass der unangenehme Geruch aus dem Mund des Professors strömte, und rümpfte die Nase.
“Wie viel Uhr?” murmelte er.
“Oh, es ist kurz vor sieben.”
“Dann hab ich noch ´n halbes Stündchen.”
Der andere kicherte.
“Na, wer wird denn sein Leben nach der Uhr richten? –Hören Sie, ich trinke Ihnen Ihren Saft weg, das tut mir wirklich leid. Ich werde mich bei Gelegenheit revanchieren, wenn Sie verstehen, was ich meine. Übrigens ein bemerkenswerter Geschmack.”
Er drehte die Flasche Multivitaminsaft in seiner Hand und beäugte sie von allen Seiten.
“Ich habe mir ein paar Mark von Ihnen geborgt, da, wie ich mir gleich schon gedacht hatte, mein Geld in dieser Zeit nichts mehr wert ist. Das ist mir natürlich außerordentlich peinlich, müssen Sie wissen. Sie bekommen selbstverständlich alsbald einen entsprechenden Gegenwert zurück.
Das wollte ich Ihnen nur gesagt haben, damit Sie nicht denken, ich sei ein schäbiger Dieb.”
“Na toll.”
“Ja, Herr Fink, ich kann natürlich nicht beurteilen, ob eine Mark wirklich noch eine Mark ist, wenn Sie verstehen –aber wenn dem so ist, sind die Preise allerdings kräftig gestiegen. Ich war an einem Kiosk, um mir Tabak zu kaufen, was mir aufgrund der unmöglichen Preise verwehrt blieb. Auf dem