Das große Bumsfallera. A. J. Winkler
Professor sah ihn durchdringend an.
“Hören Sie, lieber Fink, ich würde vorschlagen, wir machen erst einmal Schluss mit der Politik und wenden uns erfreulicheren Dingen zu. Lassen Sie uns ein wenig spazieren gehen; zum Plaudern haben wir sicherlich noch genug Zeit. Ich möchte ein wenig von der Stadt sehen.”
Die beiden zahlten und schlenderten den Ku’damm entlang Richtung Breitscheidplatz.
“O je,” grummelte der Zeitgereiste, “was ist denn das?”
Er zeigte auf den “hohlen Zahn”, jenen markanten Überrest der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.
“Berlin war halt auch ein bisschen kaputt,” meinte Christian lakonisch, “aber finden Sie nicht, dass es etwas bunter geworden ist?”
Der andere schaute sich um.
“Nun ja,” erwiderte er achselzuckend, “es sind mehr Neger hier, wenn Sie das meinen.”
“Es heißt Farbige, nicht Neger,” verbesserte Christian.
“Oh, ich wollte nicht abwertend sein.”
“Es sind mehr bunte Leute hier: schauen Sie, manche färben sich die Haare, es sind Menschen aus aller Herren Länder unterwegs, man zieht sich das an, worauf man gerade Bock hat...”
“Bock?”
“Oh, entschuldigen Sie; das ist auch so ein neudeutsches Wort, das nicht mehr totzukriegen ist.
Es bedeutet so viel wie Lust, im ganz neutralen Sinne.”
“Aha. Und woher kennen Sie das Berlin meiner Zeit? Ich frage, weil Sie einfach so geurteilt haben, dass Ihr Berlin bunter ist als meines?”
Christian musste kurz überlegen.
“Stimmt, Sie haben recht; von Filmen und Fotografien, und die sind schwarzweiß.”
Der Professor lachte.
“Ich hätte nie vermutet, dass Sie sich in Ihrem Alter noch Reste solcher Naivität bewahrt haben.
–Übrigens, sagen Sie mal: wie alt sind Sie eigentlich?”
“Ich bin vierunddreißig. Ich könnte Ihr Sohn sein. Oder”, fügte er grinsend hinzu, “Ihr Urenkel. Schließlich sind Sie offiziell hundertachtundzwanzig!”
Der Alte wurde unwirsch. “Also, Sie haben ja einen seltsamen Humor. Ich kann nur hoffen, dass Sie mir irgendwann glauben. –Ach wissen Sie, es ist zum Heulen, wenn niemand das für voll nimmt, was man gerade tut. Und ich rede ja nicht von blindem Vertrauen und naseweisem Glauben, wie man etwa als Kleinkind seinem Vater und später dann seiner Bibel vertraut; sondern ich spreche ja stets von Anerkennung der logischen Deduktion. Selbst mein bester Freund musste an sich halten, um mich nicht auszulachen, als ich ihm von meinem Projekt erzählte; später, als er die Maschine selber gesehen hatte, blieb er reserviert, oder er hielt das Gerät für meine verrückte Altersmarotte. Und das, obwohl er wie ich Physiker ist! Aber fein, Sie sind wenigstens bereit, mir zuzuhören. Sie werden Ihren Lohn noch bekommen, der allerdings vor allem in blankem Erstaunen bestehen wird.”
Professor Wittmann blickte seinen Begleiter gravitätisch an.
“Im übrigen bin ich gespannt, welche technischen und wissenschaftlichen Neuerungen Sie mir noch präsentieren werden.”
“Och, eine ganze Menge, denke ich. Es ist ja nicht so, dass die Zeit vierundsechzig Jahre stehen geblieben wäre.”
“Die Zeit ist wohl das einzige, was nie stehen bleibt,” sprach der Professor belehrend.
“Schon möglich. Wie gesagt, es gibt ziemlich viel, was Sie noch nicht kennen dürften, und zwar in allen Bereichen des Lebens. Ich glaube, noch nie wurden in der Geschichte der Menschheit so viele Erfindungen in so kurzer Zeit gemacht. Zeitmaschinen habe ich allerdings nicht zu bieten.”
Wittmann hielt plötzlich in seiner Bewegung inne und packte seinen Begleiter rüde am Arm.
“Sie sagen das so leicht. Haben Sie sich überlegt, was das bedeutet?”
“Was?”
“Sie sagten: Zeitmaschinen hat Ihre Epoche nicht zu bieten! –Wenn Ihre Welt meine Erfindung aber nicht kennt, dann... dann kann dies nur zwei Ursachen haben.”
Christian runzelte die Stirn und begann allmählich zu begreifen, wovon der Professor sprach.
Wittmann nahm seine Hand von Christians Arm. Die stattliche Erscheinung schien förmlich in sich zusammenzusinken.
“Die erste Möglichkeit ist, dass, nachdem ich zurückgekehrt sein werde, die Maschine zerstört wird, auseinander fällt oder schlichtweg nicht mehr funktioniert –und dass damit mein Wissen und meine Technik mit mir in die Ewigkeit entschwindet. Die andere Möglichkeit aber bestünde darin,” und hier strich er sich den schütteren Spitzbart, “ich bleibe mit meiner Maschine in Ihrer Zeit hängen. Das würde natürlich einwandfrei erklären, warum Sie meine Technologie nicht kennen können, und sie überdies retten. Ich muss allerdings hinzufügen, dass ich davon nicht unbedingt begeistert bin.”
Christian überlegte. “Gibt es nicht noch eine dritte Möglichkeit?”
“Welche denn?”
“Gesetzt den Fall, Sie kehren in Ihre Zeit zurück, und Sie überleben mitsamt Ihrer Maschine. Es bleibt aber kein Geheimnis, was Sie da gebaut haben, zumindest nicht für eingeweihte Kreise. Sie werden, in Ihrer Zukunft und unserer Vergangenheit, von einer Regierung für ein Geheimprojekt verpflichtet...”
“Ich lasse mich nicht von irgendwelchen Regierungen vereinnahmen. Ich arbeite für die gesamte Menschheit.”
“Nach allem, was ich Ihnen bisher über die Geschichte und über die Nazis erzählt habe, entschließen Sie sich nach Ihrer Rückkehr vielleicht anders?!”
“Und arbeite den Amerikanern oder den Russen zu? Das wäre doch Verrat.”
“Vielleicht würden Sie darin die einzige Chance sehen, ein übermächtiges Nazireich zu verhindern...”
Der Professor wurde etwas milder.
“Schön und gut; übrigens halte ich das alles für an den Haaren herbeigezogen. Ich stimme Ihnen soweit zu, dass rein theoretisch diese dritte Möglichkeit bestünde, muss allerdings doch einwenden, dass es ein Kunststück wäre, die Zeitmaschine vierundsechzig Jahre vor der gesamten Weltöffentlichkeit geheim zu halten, was ja erforderlich wäre, damit sich unser hübscher kleiner Kreis schließt.”
“Also den Amis ist es schon gelungen, ganz andere Sachen Jahrzehnte lang geheim zu halten.”
“Ganz andere? Andere als die Zeitmaschine? Da müsste die Geheimhaltungskette über sechzig Jahre fehlerfrei funktionieren! Glauben Sie, es gebe auch nur einen einzigen Journalisten auf der Welt, der sich dieses skandalon entgehen lassen würde –die reale Existenz einer Zeitmaschine?”
Wittmann zog neugierig die Brauen hoch, und Christian wurde stiller.
“Außerdem,” fuhr er fort, “sind wir ja nun Gott sei Dank in der Lage, alle unsere Schritte gut zu überdenken, und ich will nicht verhehlen, dass ich ganz froh bin, in Ihnen einen zumindest halbwegs ebenbürtigen Mitstreiter gefunden zu haben. Der Zufall hätte mir auch ein unwürdigeres und dümmeres Individuum zuspielen können.”
Christian fühlte sich geschmeichelt, ohne genau zu wissen, warum. Vielleicht war es der natürliche Respekt vor dem deutlich Älteren, vielleicht auch eine gewisse durchaus beiderseitige Zuneigung, welcher der alte Herr gerade Ausdruck gegeben hatte.
“Überdies,” ergänzte Wittmann, “hat Ihr Gedanke sozusagen eine gesunde Nebenwirkung.
Wir sollten uns unsere Mitwisser sehr, sehr vorsichtig aussuchen. Am besten, wir behalten unser kleines Geheimnis erst einmal für uns. Sollten später unliebsame Kreise von diesem Gerät erfahren, sind wir selbstredend gehalten, die gesamte Öffentlichkeit einzuweihen, denn