Das große Bumsfallera. A. J. Winkler
des anderen abzuwarten, zwei Dosen Cola. Der Professor starrte die Dose an, die Dose den Professor, und lächelnd öffnete Christian das dem Fremden unbekannte moderne Behältnis.
“Probieren Sie!”
Der Professor trank einen Schluck und spie sofort aus.
“Pfui Teufel, was ist das für ein Dreck?”
“Das ist doch ein guter Anfang für den Tag, nicht?” meinte Christian, “zwölf Stück Würfelzucker und ein bisschen Farbstoff in Wasser aufgelöst...”
“Ich bin mir sicher, niemals etwas Widerlicheres getrunken zu haben. Bekommen Sie davon nicht Krämpfe?”
“Im Gegenteil,” antwortete Christian, “kommen Sie; ich finde, wir haben genug gegafft.”
“Glauben Sie mir nun,” fragte Professor Unrat-Wittmann, als sie sich Richtung Ku’damm bewegten, “dass sich in der Stadt etwas Ungeheuerliches ereignet hat, etwas derart Seltsames, dass man vielleicht auch das Unmögliche in seine Vorstellung und Erklärungsversuche mit einbeziehen sollte?”
“Na ja.” Christian war zurückhaltender geworden. “Zumindest hat die Zeitung nicht gelogen, was schon schwer erstaunlich ist. Und ich gebe zu, das Ding hier mit dem Hausbaum kann ich überhaupt nicht erklären.”
“Wären Sie endlich bereit, mir wenigstens so weit zu glauben, dass ich kein Vollidiot und kein Spinner bin, vielmehr derjenige, als der ich mich vorgestellt habe –auch wenn Sie noch nicht in der Lage sind, sich die Zeitmaschine vorstellen zu können?”
Auch der Professor hatte zu einer etwas vorsichtigeren Sprache gefunden, denn ihm lag viel daran, es sich mit dem jungen Architekten nicht zu verscherzen; immerhin hatte er bei ihm übernachten dürfen, und ganz unsympathisch fand er seinen ersten Bekannten in der fremden Zeit auch nicht.
“Ich will es Ihnen glauben. Ich denke jetzt mal für ein paar Stunden nicht darüber nach, was stimmt und was nicht. Jedenfalls ist die Kastanie wohl kaum in das Haus hinein gewachsen. Ich muss sagen, mir als Architekt imponiert diese Konstruktion schon...”
“Nein, ich meine, halten Sie mich immer noch für einen Verrückten?”
“Das habe ich nie getan.”
Der andere lächelte laut. “Ach, Herr Fink, Sie beleidigen mich nicht, wenn Sie zugeben, mich anfangs für einen Geistesgestörten gehalten zu haben, das ist ja durchaus normal, zumindest verständlich bei der Geschichte, die ich Ihnen erzählt habe. Sie brauchen mir altem Hasen ja auch nichts vorzumachen; ich bin das nämlich gewöhnt, dass Leute mich für verrückt halten. Aber ich bin doch recht froh darüber, dass Sie wenigstens versuchen wollen, mich ernst zu nehmen; mehr möchte ich auch gar nicht, und im übrigen ist das schon mehr, als selbst die meisten meiner Kollegen für mich getan haben. So, jetzt möchte ich aber ein wenig von Ihrem Berlin sehen.”
Name: Professor Julius Wittmann
Wohnort: Berlin-Wilmersdorf
geb.: 30. August 1866 in Prenzlau
Größe: 1,68 m
Gewicht: ca. 85 kg
Augenfarbe: blau
Haarfarbe: grau, ehemals hellbraun
Beruf: Physiker
Lieblingsgetränk: Cognac, Wasser
Lieblingsautoren: H. G. Wells, J. Verne
Lieblingsmusiker: L. v. Beethoven
Lieblingskünstler: Michelangelo, Ingres
Lebensstationen: Schule, Studium in Berlin, dann Anstellung und Doktorarbeit (1894) an Humboldt-Universität, Professor seit 1900 erst in Berlin, dann Breslau, dann wieder Berlin
Lebenseinstellung: arbeitsam, forschungsversessen, liberal, idealistisch
Je weiter sie ins Zentrum vorstießen, desto fragender wurde die Miene des Professors.
“Ich erkenne die Stadt nicht mehr wieder. Was ist hier bitteschön passiert? Ich habe durchaus erwartet, dass sich Berlin im Laufe der Jahre verändert; allerdings hatte ich darunter bislang eine Veränderung zum Positiven verstanden. Hier sieht’s ja aus, meine Herren! Welcher Idiot war hier am Werk?”
Christian dämmerte es erst im zweiten Augenblick, dass Wittmann, wenn seine kuriose Geschichte wirklich stimmte, ja nicht wissen konnte, was in den vergangenen 64 Jahren geschehen war.
“Das ist eine lange Geschichte,” versetzte er, “sie beginnt genaugenommen in Ihrer Zeit. Ich bin kein Historiker, ich kann nur sagen: die Nazis haben verloren.”
“Die Wahlen? Na, Gott sei Dank.”
“Nein, den Krieg.”
“Wie bitte? Um Himmels willen, welchen Krieg? Und gegen wen?”
“Ach, eigentlich gegen den Rest der Welt.”
“Sind die Nazis also dann... tatsächlich an die Macht gelangt!?”
An dieser Stelle ersparen wir unseren Lesern zunächst den Dialog zwischen den beiden, Christian erläuterte, so gut er konnte, die Historie der vergangenen vierundsechzig Jahre. Als er endete, war der Kaffee bereits kalt, und der Professor betrachtete die Tasse mit einem melancholischen Blick.
“Das ist ziemlich beunruhigend,” sagte er. “Ich meine: sobald ich irgendwann in meine Zeit wieder zurückkehre, mit dem Wissen, welches Sie mir soeben vermittelt haben, mit dem Wissen, dass alles geradewegs in die Katastrophe führt, und zwar in eine kolossale Tragödie solchen Ausmaßes –da kann ich doch keine Nacht mehr ruhig schlafen. Ich bin kein ängstlicher Mensch, das können Sie mir glauben, aber was Sie mir da erzählt haben, sprengt doch meine Vorstellungskraft um einiges und lässt mich vor allem auch um meinen besten Freund zittern. Er ist Jude, daher. Ich habe immer gefunden, dass der nationalistische und antisemitische Pöbel endlich Ruhe geben sollte. Dass diese Schreihälse derart Recht bekommen, dass sie ihren hasserfüllten Stumpfsinn auch noch ausleben dürfen, in einem solchen Maße!! –nein, das hätte ich nicht gedacht; ich hätte eher vermutet, dass doch am Ende die Vernunft siegt. –Sie waren übrigens mit Ihrer Erzählung noch nicht ganz fertig. Der Krieg verloren, Deutschland geteilt, aber hier wirkt doch alles ganz wohlhabend und gesittet?”
Christian als gebürtiger Ossi versuchte sich an einer differenzierten Antwort.
“Schon, das ist ja auch Westen. Aber Sie müssen sich mal Frankfurt oder München anschauen. Auch wenn die meckern, geht’s denen so gut wie nie, weil die sich den ganzen Kommunismus-Quatsch gespart haben. Zwanzig Jahre nach dem Krieg war man wieder Europas Wirtschaftsmacht Nummer Eins. Da konnten wir in der DDR nur groß gucken. – Ein frustrierender Staat. – Es war ohnehin der größte Witz, ausgerechnet diese Republik demokratisch zu nennen... Natürlich war der Name Larifari; denn außerhalb der SED konnte in diesem verrückten System überhaupt niemand irgendetwas werden.”
“Und was ist nun wieder SED?”
“Sozialistische Einheitspartei Deutschlands hieß das und meinte so was wie proletarische Einheitsfront und so weiter.”
“Also SPD und KPD in einem?”
“Na ja, von SPD war nicht viel zu merken, sag ich Ihnen. Jedenfalls gab es Politbüros und Planungsbüros und überhaupt sehr viele Büros. Die größte Scheiße war aber die Staatssicherheit; wir haben sie <Stasi> getauft. Das war so ne Art Gestapo für Arme. Wenn man auch nur irgendwie in der Gefahr eines Verdachts war, Systemgegner zu sein, wurde man bespitzelt, abgehört und irgendwann mal verhört, gegebenenfalls auch eingesperrt, und manch einer verschwand auf Nimmerwiedersehen. Außerdem konnten wir auch nicht raus, schließlich gab's ja die Mauer: und da wurde scharf geschossen... Man kann sich gar nicht vorstellen, wie viele aus‘m Osten rüber wollten, also in die BRD, den Westen. Die alten grauen Herren wussten schon, dass sie knapp das ganze Volk gegen sich hatten. Irgendwann war halt dann der ganze faule Zauber vorbei. Und jetzt ist Deutschland wiedervereinigt, beziehungsweise wir wurden vom Westen so in etwa