Das große Bumsfallera. A. J. Winkler
hielt dem verschlafenen Christian eine Zeitung unter die Nase, deren Namen wir hier tunlichst verschweigen. Der Angesprochene konnte nichts Besonderes entdecken und fühlte sich etwas genervt, was er durch ein leises Blöken zum Ausdruck brachte.
“Na denn schaunse doch ma jenau hin, Männeken!”
Auf dem Titelblatt stand eine ganze Menge Meldungen.
“Senat beschließt Anhebung der Gewerbesteuer?”
Der Fremde entzog Christian die Zeitung. “Wen interessiert denn noch Politik angesichts der Ewigkeit,” schnauzte er seinen unfreiwilligen Gastgeber an, “wobei ich allerdings zugeben muss, dass auch die Ewigkeit nicht mehr das ist, was sie einmal war. Ich darf Ihnen vorlesen:
<Verhexte Nacht
Berlin, 2. 9. 1994; in der gestrigen Nacht hat es gegen 23.00 h einen Totalausfall des Telekommunikationsnetzes gegeben. Alle Telefonverbindungen, Faxleitungen und überdies das gesamte Stromnetz fiel im Stadtbereich für einige Minuten vollkommen aus. Während die innerstädtischen Telefon- und Faxleitungen zum überwiegenden Teil nach dieser kurzen Zeit wieder funktionstüchtig waren, sind bis Redaktionsschluss keine Mitteilungen darüber eingetroffen, ob die Verbindungen aus der Stadt heraus wiederhergestellt sind. Außerdem haben alle Computersysteme der Stadt einen sog. Totalcrash erlitten; Arbeiten am Rechner, Senden und Empfangen von Emails sowie die Nutzung des Internet sind seit gestern abend unmöglich geworden, während der Strom inzwischen wieder fließt. Zu diesem Vorfall befragte Wissenschaftler, Techniker und Elektriker haben bislang keine Erklärung für die seltsamen Vorkommnisse. Doch damit nicht genug: Ausgerechnet in besagter Stunde nach 23.00 h haben einige Kuriositäten die Aufmerksamkeit der Berliner auf sich gezogen: so fand man z. B. auf dem Ku’damm in Höhe Café Kranzler eine Kuh, deren Herkunft noch nicht geklärt ist. Wie jeder Berliner weiß, befindet sich weit und breit kein Bauernhof in der Nähe, und es ist noch nicht bekannt, ob sich vielleicht ein Spaßvogel einen seltsamen Scherz erlaubt hat, zumal Augenzeugen berichten, das Tier sei plötzlich “wie aus dem Nichts” auf der belebten Straße erschienen. Noch eigenartiger ist die folgende Sache: im Bezirk Wilmersdorf hat sich, und das ist kein Witz, ein Wohnhaus mit einem Kastanienbaum physisch vereinigt. Siehe Foto unter diesem Artikel....>
So weit, so gut, der Artikel geht noch weiter, aber das soll uns jetzt nicht interessieren. Na, was sagen Sie jetzt?”
“Ich habe keine Ahnung.”
“Hören Sie mal zu, junger Mann, und lassen Sie sich ruhig einmal von einem alten Hasen wie mir etwas sagen: es ist streng genommen schlechterdings unmöglich, dass sich Baum und Haus völlig vereinigen. Das Haus ist bewohnt, stellen Sie sich das man vor. Und plötzlich steht um elf Uhr abends eine Kastanie im Schlafzimmer. Was würden Sie da machen, he?”
“Glauben Sie etwa jeden Mist, der in der Zeitung steht?”
Der Vielleicht-Professor schenkte Christians gutem Einwand keinerlei Aufmerksamkeit und ging direkt zur Erklärung über:
“Ich sage Ihnen, was geschehen ist. Als ich mit meiner Zeitmaschine, nun, ich will sagen: operiert habe, sind einige Unregelmäßigkeiten passiert. Ich möchte fast vermuten, dass dies nicht ganz anomal ist, denn es kann Schwankungen in der Raumzeit geben, und überdies ist eine kleine Zeitreise wie meine natürlich ein schwerwiegender Eingriff in das Raum-Zeit-Kontinuum.
Außer mir selbst habe ich offensichtlich noch einen Kastanienbaum aus dem Jahre 1930 mitgebracht. Das Phänomen mit der Kuh ist etwas schwieriger zu erklären, da es auch in meiner Zeit keine Bauern am Kurfürstendamm gibt; ich denke mir, dass das arme Tier einfach aus der Mark Brandenburg hier herüber transportiert wurde. Auch dies ist eine Unregelmäßigkeit, die aus Schwachstellen in der Raumzeit zu erklären sein dürfte.”
“Aha.”
“Sie wissen ja wahrscheinlich, dass Raum und Zeit keine gänzlich voneinander zu trennenden Dinge sind, nicht wahr?”
“Ähm, ja...”
“Nicht? Ich hätte gedacht, dass die Bildung in der Zukunft umfassender sein wird als in meiner Zeit, zumal Sie doch Akademiker sind?”
“Schon gut, ja, ich weiß bescheid. Aber wir Menschen sind einfach nicht –oder noch nicht –in der Lage, so was zu tun.”
“Was? Eine Zeitmaschine zu basteln und durch zu die Zeit reisen? Hach ja. Sie sind wohl ein Skeptiker. Hören Sie, als ich geboren wurde, fuhr man mit Kutschen durch den Schlamm kleiner Provinzstädte. Sechzig Jahre später besaß man Automobile, flog in ein paar Stunden über den Atlantik, hatte beide Pole entdeckt, Atome gespalten und Kommunisten in den Parlamenten. Und hier halte ich eine Boulevardzeitung in den Händen, die eine ganze Reihe Begriffe verwendet, die ich als durchaus gebildeter Mensch noch nie in meinem Leben gehört habe. Und trotzdem wollen Sie die Möglichkeit einer Zeitmaschine einfach abtun?”
“Nicht einfach. Ich hätte nur gern mehr Beweise.”
“Ach so. –Gut, das kann ich verstehen, als Mann der Wissenschaft.”
“Was haben Sie mir denn noch zu bieten?” fragte Christian in spöttischem Tonfall nach, denn er begann sich zu fragen, was er sich dabei gedacht hatte, den alten Wirrkopf bei sich aufzunehmen.
“Na, die Zeitmaschine, was denken Sie denn? Sie ist nicht weit von hier.”
“Echt?”
“Ja sicher ist die echt. Aber zunächst führe ich Ihnen das Haus mit integriertem Kastanienbaum vor; auch das ist wohl mit Leichtigkeit zu Fuß zu erreichen. Und dabei können Sie mir ein bisschen vom Berlin der Zukunft zeigen.”
“Ich habe nicht allzu lange Zeit. Ich muss ins Büro, es ist Freitag.”
“I wo, nehmen Sie sich frei, so etwas erleben Sie nicht alle Tage. Es ist ein schöner Vormittag. Es tut mir nur leid, dass Sie mich einladen müssen, falls wir irgendwo einen Café zu uns nehmen; aber wenigstens scheinen Sie nicht am Hungertuch zu nagen. Kommen Sie, ziehen Sie sich an, wir machen einen kleinen Spaziergang. Arbeiten können Sie noch den Rest Ihres Lebens.”
“Na gut, aber wollen Sie in den Klamotten rumlaufen?”
“Klamotten? Ach Sie meinen, was ich anhabe. Na, wir werden schon klarkommen. Ich habe ja ohnehin sonst nichts dabei, ich weiß, ich hätte etwas vorausschauender sein können. Aber das macht mir nichts aus.”
Christian schmunzelte ein bisschen, denn er hatte natürlich gemeint, dass sein Gegenüber wie ein verkleideter Scherzbold aussah, und nicht etwa, dass er seine Kleidung schon zu lange trüge.
Im gleichen Moment bemerkte er natürlich auch, dass es keinen Sinn haben würde, dem Fremden seine eigenen Klamotten zu leihen; es bestand zwischen den beiden eine gewisse Silhouetten-differenz, um es vorsichtig auszudrücken: Er selber war lang und schmal, während sich die durchaus beträchtliche Leibesfülle des Professor-Unrat-Verschnitts auf eine nur mäßige körperliche Größe verteilte.
Im übrigen war seine Laune sprunghaft gestiegen, denn insgeheim hatte er überhaupt keine Lust, heute zu arbeiten, im Gegenteil; die frisch aufgegangene Sonne zwinkerte ins Zimmer und verhieß einen schönen Tag, und noch dazu verführte ihn irgend etwas in seinem Innern, dem seltsamen Fremden vielleicht doch einfach für ein paar Stunden Glauben zu schenken...
Die beiden durchstreiften den Bezirk und fanden sich schließlich vor dem rätselhaften Haus wieder. Ein paar Dutzend Schaulustige hatten sich bereits davor versammelt und machten ihre Witzchen. Tatsächlich waren die Äste und Zweige sauber in das moderne ansehnliche Mauerwerk eingearbeitet, so als hätte es der Architekt des Gebäudes durchaus beabsichtigt, weswegen Christian schmunzelte und sich im Kopf allerhand absurde Ideen zurechtlegte. Der Stamm des Baumes war nicht zu sehen, er geruhte wohl, sich im Innern des Hauses aufzuhalten; an einigen Stellen lugten kleinere Zweige aus den Wänden und schwangen in der leichten Morgenbrise hin und her.
Eine ältere Frau schaute aus einem der oberen Fenster heraus und brüllte unentwegt Beleidigungen in die Menge.
Als Christian und der Professor