Das große Bumsfallera. A. J. Winkler

Das große Bumsfallera - A. J. Winkler


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      “Was gibt es denn am Chaos zu forschen, du liebe Zeit?”

      “Das ist in der Physik der letzte Schrei, das macht inzwischen jeder und ist mittlerweile geradezu zum Totschlagargument in jeder wissenschaftlich angehauchten Debatte mutiert. Na ja, ich verstehe nicht viel davon, geb‘ ich zu. Jedenfalls ist die Zeit seit Ihrem Jahr nicht stehen geblieben.”

      “Ach ja, ich vergaß,” höhnte der Professor, “deswegen bin ich ja auch im Jahre des Heils 94 der einzige, der eine Zeitmaschine besitzt, ja?”

      Die beiden Männer fixierten sich eine kurze Sekunde mit einem Schatten von Feindseligkeit, dann jedoch brach der Ältere den Streit ab: “Wir wollen uns nicht zanken,” sagte er beschwichtigend, “das ist nicht der Zweck meines Besuches, und ich habe wohl auch gar keinen Grund zur Besserwisserei. Bevor wir uns der Lösung unserer kleinen oder großer Probleme zuwenden, kriegen Sie jetzt erst einmal was zu staunen.”

      “Die Zeitmaschine?“

      “Die Zeitmaschine. Aber vorher genehmigen wir uns vielleicht einen Imbiss.“

      Nicht weit östlich von Berlin liegt Frankfurt an der Oder; die kleine Stadt liegt, wie der Name schon sagt, an der Oder und heißt Frankfurt. Man verwechsle sie nicht mit der hessischen „Metropole“!

      Nein, Frankfurt/Oder ist brandenburgisch; von der nicht allzu fernen Hauptstadt ist rein gar nichts zu spüren. Es ist eine beschauliche Kleinstadt; große Anhäufungen von Industrie gibt es hier nicht, und der rauschende, nie abreißende Verkehr Berlins ist hier unbekannt.

      In dieser Stadt lebt ein Mann. Er ist Ende Dreißig und Schreinermeister.

      Die allgemeine Krise hat ihn an den Rand der Arbeitslosigkeit gebracht. Noch gibt es Nachfrage für seine Dienste, doch er verdient eigentlich nicht mehr genug, um sich seinen bescheidenen Lebensstil finanzieren zu können. Und das, wo doch Handwerk goldenen Boden hat. Einen von zwei Gesellen hat er bereits entlassen müssen, und er denkt nun daran, auch den zweiten hinauszuwerfen. Was ihn allerdings große Überwindung kosten wird; er hat keinen Spaß daran, anderen die Existenzgrundlage zu entziehen, und ist in aller Regel ein sozialer und solidarischer Mann. Er ist verwitwet; seine Frau starb vor anderthalb Jahren an einer Krankheit mit einem schwer auszusprechenden lateinischen Namen, und seitdem ist er insgesamt etwas stiller geworden und vertieft sich stärker in seine Arbeit, wenn er denn welche hat. Insgesamt ein recht unauffälliger, nicht dummer, manchmal sogar liebenswürdiger und tüchtiger Zeitgenosse. –Einen kleinen Wermutstropfen muss ich dem geneigten Leser allerdings doch einschenken: der Mann hat einen kleinen Schönheitsfehler; er ist überzeugter Nazi. Judentum, Demokratie und Ausland sind ihm gleichermaßen verhasst. Für ihn steht fest: sie sind schuld. Diese Ansichten vertritt er schon sein halbes Leben, doch es war ihm nie vergönnt gewesen, sie zu artikulieren; nun, wo eine neue Kraft, eine frische Bewegung wieder durch Deutschland zieht, hat er sich dieser Sache verschrieben.

      Natürlich ist er stolz, Deutscher zu sein, und seine Art überschwänglichen und überzogenen Stolzes entsprechen seiner nicht allzu hohen Meinung von sich selbst; denn alleine langweilt er sich meistens, schläft daher viel und ist dem Trunk nicht abgeneigt. Andern Leuten, besonders besser gestellten oder attraktiveren, ist er zurückhaltend und unsicher, bis an den Rand totaler Verklemmtheit. Seine Art, zu hassen und zu verehren –und nämlich besonders Dinge, die er nur von ferne kennt– sind so unüblich nicht, und so begab es sich aber zu der Zeit, dass er einige Kumpanen, “Kameraden”, um sich scharte, welche ihn bewundern, ihm geistig völlig unterlegen und daher bis in Mark und Bein treu ergeben sind.

      Die Rede ist von Hermann Paschke.

      Und übrigens schreiben wir den 2. September 1930.

       Die Zeitmaschine

      Dr. Markowskys Haus, ein putziges zweistöckiges Einfamilienhaus in respektabler Wohngegend, war von Platanen und Birken umgeben und sah reich aus. Wie Wittmanns Freund und Kollege, dürften sich die aktuellen Bewohner der Villa vor allem durch die exzellente Lage, ruhig und im Grünen, dennoch quasi mitten in der Stadt, begeistert haben.

      Christian hatte mittlerweile in Erfahrung gebracht, dass Markowsky, dessen Söhne bereits eigene Wurzeln zu schlagen begannen, und der mit sechzig Jahren sehr wahrscheinlich nicht etwaigen weiteren Vaterfreuden entgegen fieberte, nicht für alle Räumlichkeiten Verwendung hatte, seinem Kollegen einen Kellerraum für den Bau seiner Zeitmaschine zur Verfügung gestellt hatte.

      Zwar hatte auch Markowsky diese Idee belächelt, jedoch war er sein bester Freund und wollte ihm diesen spleenigen Wunsch nicht verwehren.

      Nun standen der beste Freund und dessen frisch gebackener Bekannter vor dem Grundstück und schauten sich um wie Verbrecher. Das Haus lag still und heimelig verlassen; die Birken schüttelten sich in einer auffrischenden Brise und ließen bei der Verteidigung gegen den Wind einzelne schon gelbe Blätter.

      Das ansehnliche Grundstück wurde von einem hohen, nur schwer überwindbaren Zaun umgeben, der sich auf einem durchgehenden niedrigen Mauersims ausruhte; unterbrochen wurde die Begrenzung durch ein nicht unbedingt einladendes Tor: ein schmuckloses, etwas martialisches Steinportal wölbte sich über eine fürstliche doppelschwingige Metallgittertür, deren Rost allerdings an eine ausgestorbene Familie zu gemahnen schien.

      Die beiden schauten sich noch einmal um und betraten das Grundstück; die Gittertür war angelehnt.

      “Keine großartige Vorsichtsmaßnahme,” bemerkte Christian.

      “I wo,” erwiderte der Professor, “es war auch offen, als ich hier ankam; einen passenden Schlüssel habe ich auch nicht gefunden. So lange die Haustür gut verriegelt ist –und sehen Sie! die Fenster sind vergittert– brauchen sich die neuen Eigentümer doch auch keine Sorgen zu machen.”

      “Ich glaube kaum, dass eine verschlossene Tür für einen willigen Einbrecher irgendein Hindernis darstellt. Ich hoffe übrigens, Sie wissen, dass wir uns außerhalb der Legalität bewegen.”

      “Na, na, wer wird denn. Ich wohne ja fast hier!”

      Wittmann öffnete die Tür, und sie betraten eine halbdunkle bürgerliche, etwas staubig riechende Diele. Christian begann sich umzusehen, wurde aber von Wittmann unterbrochen, der so leise er konnte die Haustür wieder schloss.

      “Kommen Sie! Sie wollen doch mein Maschinchen bewundern und nicht in fremder Leute Sachen herumschnüffeln!”

      Er ging voran, einen finsteren Flur entlang, bis nach rechts eine Treppe abging, die in den Keller führte.

      Christian folgte, etwas langsamer, in den Keller und versuchte, sich im Halblicht zu orientieren..

      “Keine Rollläden da oben,“ meinte er, die Treppe hinab steigend, „seltsam, und doch so duster.”

      “Diese Fenster gehen nach Nordosten; da ist am späteren Nachmittag nichts zu machen. Kommen Sie!”

      Wittmann wartete kurz, bis er des anderen Schritte wieder dicht hinter sich vernahm, und tastete sich weiter durch die Dunkelheit, bis er einen Lichtschalter erfolgreich betätigte.

      Der vor ihnen liegende Raum erstrahlte in nun ungewohnt hellem Licht. Und nicht nur der Raum.

      Was Christian in dem abgenutzten Zimmerchen erblickte, ließ ihn für einen kurzen Moment vergessen, dass er existierte, und alle letzten leisen Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Professors waren fort gewischt: das musste ohne Frage eine Zeitmaschine sein.

      Es war ein Gerät ganz aus Metall, nur ein breiter Ledersitz in der Mitte hob sich davon ab und lud zum Besteigen und Reisen ein. Einige verschieden geformte Schaltknüppel konnten von diesem Sitz aus bedient werden. Einer von ihnen erinnerte an die Gangschaltung eines LKW, ein anderer eher an den Steuerknüppel eines Cockpits, ein dritter, der größte, kam Christian völlig unbekannt vor, und selbstredend hatte er keine Ahnung, welche Bewandtnis es damit hatte. Alle waren miteinander verkabelt; und eine Menge Kabel liefen außerdem am Sitz vorbei in einen schwarzen kubikmetergroßen Würfel, der sich an den Rücken des Sitzes presste und keines seiner womöglich zahlreichen Geheimnisse preisgab.


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