Das große Bumsfallera. A. J. Winkler
musste man herauskriegen, was geschehen war; vielleicht war ein Verbrechen an ihr verübt worden, dann würde man alles Menschenmögliche veranstalten, um das Schwein zu kriegen, welches einer derart hübschen, grazilen Person etwas antun würde...
“Vielleicht fangen wir von vorne an,” meinte der ältere Beamte, offenbar der Ranghöchste auf der kleinen Wache, “vielleicht sagen Sie uns Ihren Namen.”
Das Mädchen blies den Rauch in die Luft und schien sich zu sammeln.
“Charlotte Rodewsky. Und ick brauch keen Arzt.”
Der Väterliche nickte. “Na also, geht doch. Und wo wohnen Sie?”
“Na, in Berlin.”
“Das haben wir uns auch schon gedacht. Vielleicht sagen Sie uns Ihre Adresse?”
Sie nannte eine Straße mit dazugehöriger Zahl. Natürlich waren die polizeilichen Computer aufgrund eingangs erwähnter Störung nicht betriebsbereit, und die vorhandenen Karteikarten waren derart unvollständig, dass man sich gar nicht erst auf die Suche zu machen brauchte.
Eine Telefonnummer wäre vielleicht nützlicher.
“Ick hab aber kein Telefon,” antwortete Charlotte.
Die Beamten wechselten ungläubige Blicke.
“Wirklich nich. Wer hat denn mit meinem Hungerlohn Telefon?”
“Na ja,” meinte der Väterliche, “es hätte ja sein können. Wir wollen Sie auch zu nichts zwingen, wir wollen Ihnen nur helfen; und da müssten Sie dann schon Angaben...”
“Ja, ja,” unterbrach sie ihn, “erklärt mir man bloß, wat hier los is. Ick werd det Jefühl nich los, irjendeiner is mir hier jewaltig am vergackeiern. Erklären, wat hier los is: det wär wirklich knorke.”
“Knorke?”
Die Beamten schauten sich abermals verwundert an, als Charlotte ebenso verwundert aufblickte und zum erstenmal ihre Augen auf irgend jemand bestimmtes richtete, den Beamten nämlich, welcher neben ihr im Wagen gesessen hatte. Er wurde rot und grinste verlegen, doch Charlotte wollte offensichtlich nicht mit ihrem natürlichen Charme spielen.
“Na, knorke halt,” erläuterte sie, “seid ihr von vorgestern oder wat? Det sagt doch janz Berlin. Aber irjendwat läuft hier sowieso verkehrt. Und wat habt ihr ooch für komische Uniformen an...!?”
“Hm... Erklären Sie uns doch, was hier verkehrt läuft.”
“Na allet. Ick mach Schluss mit meinem Freund, latsche heimwärts, uff einmal fall ick um, und wie ick uffwache, is allet vadreht.”
“Verdreht?”
“Aber kolossal vadreht, wie ick et sage. Ick kenn mir ja eigentlich schon aus hier, aber wissense, det is ja überhaupt nich Berlin.”
“Doch, doch. Was sollte es sonst sein? ...Also der Reihe nach”, meinte der Väterliche gemütlich, “immer langsam voran.” Er wandte er sich an den Rotgewordenen und trug diesem auf, zu recherchieren, ob eine Charlotte Rodewsky irgendwo bekannt sei, und so weiter, Kripo wäre auch nicht schlecht: „Einfach anrufen, 030 geht ja Gott sei dank wieder. –Das ist ein seltsamer Tag, Charlotte, also können Sie ruhig alles erzählen, was Ihnen so einfällt. Wir haben hier einige merkwürdige Vorfälle gehabt; viel merkwürdiger kann Ihrer nicht sein.”
“Hm. Ick gloobe, ick kann noch einen druffsetzen. Mein Fall is hoffnungslos. Ick weeß nich warum, aber ick kann Ihnen versichern, ick bin total verkehrt hier.”
“Schießen Sie los.”
Charlotte lächelte zum erstenmal. “Na det Schießen is wohl eher Ihre Sache. –Also ick war am Mehringdamm, wo mein Freund wohnt, welcher nu mein Freund nich mehr is. Ick latsche also janz jemütlich hier rüber nach Schöneberg, wo ick nämlich wohne, oder sagen wir mal lieber, wohnte. Det is ja nu nich so weit, und uff die Bahn hatt’ ick ooch keene Lust. Wollte nachdenken, wie det so weiterjehn soll und so, über mein Freund, der nu mein Freund nich mehr is, und so...
Mein Jott, wat fasel ick hier eigentlich?”
Der Väterliche konnte ein Lächeln nicht unterdrücken und zuckte mit den Schultern.
„Na ja, und weil et eben nich weit is und ick noch ’n Stück nachdenken will, latsch ick anstelle von Bahn. Uff einmal macht et rums und ick lieje uff ’m Trottoir. Fragen se nich wie lange, det weeß ick selber nich. Hab wohl wieder det Spannendste verpennt. Na, jedenfalls ick frag mir natürlich schon, wie det sein kann, schlafe jemütlich in Schöneberg ein und wach in Amerika wieder uff, so sieht et nämlich aus.”
“Man hat Sie niedergeschlagen?”
“Wat weeß denn icke? Ick gloobe aber nich, eher wie so ’n Experiment, und nu bin icke det Versuchskaninchen, wenn se mir verstehen wollen. –Also jedenfalls wach ick uff und mach mir uff de Socken, pack mein bestes Englisch aus und quatsche wen an, wo ick mir befinde. Der hat mir angeglotzt, als hätt’ ick zwee Köppe oder so. Jedenfalls versteht er nischt und will wohl lieber woanders hin. Und denne wurd’ et ooch schon hell, und da frag ick mir denn doch ma, wieso ick da stundenlang uff der Straße lieje und keener sagt ’n Ton, aber –irjendwat stimmt ja sowieso nich.
Icke also weiter, und alle Leute, die ick treffe, kieken mir schief an, da denk ick bei mich: ick muss wohl schlimm aussehen. Aber wo die Sprache doch Deutsch is, denk ick mir, nischt wie rin innen nächsten Laden und ma kieken, ob se dir verstehen. Immerhin is det deine Muttersprache, und det wirste ja wohl noch nich verlernt haben. Also wackel ick in sowat wie ’n Kiosk, glotze uff ne Zeitung, und da wird mir aber doch angst und bange.”
“Wieso das denn?”
“Na, det Datum, Meester. Ick seh nur 1994 und fang an zu schreien.”
“Und?”
“Hörense ma! Sie jehörn wohl ooch zu dem Plan, wa? Det haut doch hinten und vorn nich hin.”
“Ich weiß überhaupt nicht...”
“Jaja, schon jut. Seh’ ick aus wie achtzig?”
“Nein, vielleicht wie zwanzig, würde ich sagen.”
“Na denn ratense ma, wann ick jeborn bin, obwohl, ratense lieber nich. Ick sag nur 1908. Und zwar am 19. April.”
Der Polizist war sprachlos. Natürlich glaubte er ihr nicht, so gerne er auch gewollt hätte.
“Das kann nicht sein.”
“Na, wenn ick et doch sage?”
In diesem Moment klopfte es, und zwei Beamte standen in der offenen Tür.
“Wir haben gerade eben eine Vermisstenanzeige bekommen. Beziehungsweise ein Hilfegesuch.”
“Könnt ihr das gerade alleine bearbeiten?”
“Ähm, nein, das ist vielleicht interessant. Es geht um Charlotte Rodewsky.”
Charlotte furchte die Brauen.
“Tja,” meinte Thomas, “Charlotte Rodewsky wird von ihrer Freundin vermisst, wenn man so will. Diese ist eine betagte Dame und ist heute wie üblich vor Frau Rodewskys Wohnung erschienen, um mit ihr einen Tee zu nehmen; das machen die zwei wohl immer so. Die Dame sitzt in Raum 27.”
“Ach!”
Der Väterliche schaute den jungen Beamten verdutzt an.
“Ehrlich gesagt: ich verstehe nur Bahnhof.”
“Da bin ick aber uff Ihrer Seite.”
“Ja,” ergänzte Thomas, “es kommt noch besser. Die alte Dame ist überaus besorgt, sie hat geschellt, geklopft und gerufen, und nachdem niemand aufgemacht hat, ist sie direkt zur Polizei gegangen. Die beiden Damen wohnen übrigens nicht weit von hier in benachbarten Häusern; das habe ich schon in Erfahrung bringen können. Tja, diese Charlotte Rodewsky ist nach Angaben der anderen Dame am 19. April 1910 geboren.”
Charlotte