Das große Bumsfallera. A. J. Winkler
haben Sie gesagt, wann wurden Sie geboren?”
Charlotte stiegen Tränen in die Augen.
“Am 19. April 1908.”
“Was jetzt, 08 oder 10?”
“Ja, 10 stimmt schon, ick mach mir immer ´n bissken älter...”
“Also, Thomas, bring die Dame doch mal rein.”
Eine Minute später kam der Beamte mit einer älteren, aber noch rüstigen Frau mit glatten, schlohweißen Haaren wieder, die sich etwas verunsichert umschaute und deren Blick schließlich an Charlotte kleben blieb. Sie rief etwas aus und sank in sich zusammen. Sofort bemühten sich die Beamten, die wohl von einem Herzanfall ausgingen, um sie, doch die Konstitution der alten Dame war stärker als zu vermuten war; sie kam schnell wieder zu sich.
“Ja, Charlie, ist denn das die Möglichkeit? Das ist ja die Höhe!”
Charlotte blieb verständnislos, aber die Tränen in ihren Augen verrieten mehr, als sie vielleicht preisgeben wollte.
“Erkennst du mich nicht mehr, Charlie? Was hast du gemacht? Was ist passiert? O mein Gott!”
Kurze Stille.
„Sophie? Bist du da drin?“
Charlotte schien ihre Freundin ganz undeutlich in dem gealterten, faltigen Gesicht zu erkennen.
“Sophie!”
Das junge Mädchen und die alte Dame fielen sich nach einer kurzen zögerlichen Pause in die Arme.
“Was ist passiert, Charlie?”
“Det weeß ick doch ooch nich. Ick fall uff de Straße, und uff einmal is allet vadreht. Ick bin jung, du bist alt, und hier sieht et sieht aus wie ick weeß nich wie. Ick verstehe jar nischt.”
“Also, meine Damen,” unterbrach sie der Väterliche, “ich muss zugeben, das ist wirklich die ungewöhnlichste Geschichte heute. Also, Frau... ähm... wie auch immer, erkennen Sie die von Ihnen gesuchte Charlotte Rodewsky wieder?”
“Ja, sicher. Aber sie sieht aus wie vor sechzig Jahren, du liebe Güte.”
Wieder wurden ihre Beine weich, und Thomas eilte hin, um sie abermals aufzufangen, doch sie blieb bei Bewusstsein und wehrte ab.
“Können Sie beschwören, dass diese Charlotte Rodewsky identisch ist mit der von Ihnen vermissten Person, geboren am 19. April 1910?”
“Also wenn keine Zauberei im Spiel ist, dann ist sie’s.”
“Das ist wirklich unfassbar,” meinte der Väterliche ernst, “gebt sofort Meldungen an alle Institutionen durch, die euch einfallen; Kripo, Doktor, Unis, und so weiter und so fort, los.
Nur die Zeitung dürft ihr ruhig vergessen. Ich will wissen, was hier gespielt wird.”
Die beiden unterschiedlich alten Freundinnen schauten sich mit einer Mischung aus Freude, Trauer und Verunsicherung an.
“Dürfen wir jetzt gehen?” fragte Sophie, die ältere.
Der Beamte runzelte die Stirn. “Ich muss sie gehen lassen. Es gibt ja keinen Grund, Sie hier festzuhalten. Allerdings möchte ich Sie bitten, sich zu unserer Verfügung zu halten. Nicht weil ich Ihnen misstraue oder irgendwas zur Last legen wollte, sondern weil hier einige seltsame Dinge vor sich gehen, zu deren Klärung wir Sie vielleicht benötigen. Bleiben Sie beide bitte in der Stadt, und bleiben Sie bitte für uns erreichbar.”
Die beiden Frauen wurden entlassen, und untergehakt wie Oma und Enkelin traten sie aus dem Polizeigebäude auf die offene Straße.
Der ältere Beamte starrte auf sein Telefon und danach auf seinen Kollegen: “Und? Was meinst du?”
“Süß.”
“Oh, nicht schon wieder. Such dir endlich ne Freundin. Die hier ist nix für dich, die ist ne Nummer zu groß. –Was hältst du von der Sache?”
“Ich glaube, hier steht irgendwo ne Zeitmaschine.”
“Ach was.”
Thomas zuckte mit den Achseln. Er kannte das. Seine Ideen galten schon immer als viel zu abgefahren.
Name: Charlotte Rodewsky
Wohnort: Berlin-Schöneberg
geb. am 19. April 1910 in Berlin-Spandau
Größe: 1,73m
Gewicht: max. 53 kg
Augenfarbe: dunkelbraun
Haarfarbe: kastanienbraun
Beruf: derzeit Tänzerin; Jobs
Lieblingsgetränk: wechselt jeden Tag
Lieblingsmusiker: George Gershwin, Friedrich Hollaender
größte Abneigung: politisch motivierte Dummschwätzer
Lebensstationen: alles dreht sich um Berlin
Lebenseinstellung: locker, kämpferisch, genießerisch
Die beiden Frauen saßen in einem ziemlich biederen Café.
Charlotte fühlte sich etwas befangen; schließlich war ihr Gegenüber, auch wenn es sich um ihre Freundin handelte, eine alte Dame, und sie wusste nicht recht, worüber sie nun sprechen sollten. Auch hatte sie Mühe damit, diesen Menschen zu duzen.
“Du liebe Jüte, bin ick erschrocken,” versuchte sie zu plaudern, “wie ick da lieje, und allet sieht aus wie ick weeß nich wat. Ick fühl mir jetz noch janz daneben. Dabei ha’ck doch jar nischt jemacht.”
Natürlich war ihre Freundin genauso verunsichert wie sie, die alte Dame wollte wissen, was hier gespielt wurde, aber im Grunde war sie vor allem fassungslos.
“Du bist wirklich die alte Charlie? –Na, ich meine, die junge Charlie? Du hast dich nicht zurück verwandelt?”
“Na, mittlerweile will ick ja nischt mehr ausschließen. Aber wie ick umjefalln bin, war noch 1930.”
“Mein Gott, wie kann denn so was passieren? Und du kannst dich nicht erinnern, auch nicht an deine Männer?”
“Wat heißt hier meine Männer?”
“Meine Güte, du hattest ja wahrlich nie ein Problem damit. Na, du konntest deine Männer ja immer schnell vergessen. Ich war da immer anders. Du liebe Zeit, seit fünfundzwanzig Jahren bin ich jetzt allein.”
Charlotte schwieg. Man kann sich vorstellen, dass sie diese Art von Unterhaltung nicht gewöhnt war und nicht besonders schätzte.
Und nun begann die Ältere ihr ihre halbe Lebensgeschichte zu erzählen, was Charlotte, gerade erst halbwegs zu sich gekommen, überhaupt nicht schön fand; Sophie erzählte von mehreren Männern und Ehen und von den Bombennächten, und wie sie stets Freundinnen geblieben waren, wie sie selbst, Sophie, ihre Freundin immer für ihre Tatkraft und ihren unbedingten Lebenswillen bewundert hatte, wie Charlotte nach mehreren Heirats- und anderen Beziehungsversuchen ihren alten Namen schließlich wieder angenommen hatte, was in Berlin nach dem Krieg passiert war, und sie erzählte und erzählte und wollte gar nicht wahr haben, wie sehr Charlotte damit überfordert und erschreckt zugleich war, wollte auch nicht wahrhaben, dass sie sich im Grunde mehr ihre eigene Lebensgeschichte erzählte, etwas verträumt und sentimental, wie alte Menschen gerne sind; sie wollte auch nicht wahrhaben, dass ihre Freundin Charlotte all diese Dinge nicht einfach vergessen, sondern schlicht und einfach noch nicht erlebt hatte, auch nicht, dass ihre Unterhaltung für das Mädchen mehr und mehr von einer überraschenden, unangenehmen Begegnung zu einer Quälerei wurde, denn wer hört schon gerne seine Lebensgeschichte der Zukunft, vorgetragen, als sei sie Vergangenheit, als sei sie –vorbei?
So spürte Charlotte nur Fremdheit, Altersunterschied und die Entfernung, die zwischen ihnen lag; auch die Angst, ein Leben nicht gelebt zu haben; sie spürte ihren Lebensmut, ihre Kraft entweichen. Sie war in der falschen Zeit gelandet, ohne zu wissen,