Das große Bumsfallera. A. J. Winkler

Das große Bumsfallera - A. J. Winkler


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und im übertragenen Sinne soviel bedeutet wie <das, was alle hören und immer gleich klingt>. Man kann Pop-Musik allerdings auch nach dem Sound unterscheiden, also nach der Art zu spielen und zu schreiben, etwa Wave, Grunge, Punk, Hard Rock, Reggae...”

      “Schon gut, schon gut, ich verstehe schon.” Wittmann schaute verlegen zur Seite.

      “Zum Beispiel sind Nirvana der ganz große Kracher.”

      “Jaja.”

      “...eher für die depressiven Kids, allerdings...” (Christian mochte die nicht besonders.)

      “O Gott.”

      “...und für die flacheren Naturen gibt‘s dann Techno, wobei die Leute, die Angst vor der vollen Dröhnung haben, sich eher für Dance-Floor interessieren. Außerdem ist der deutsche HipHop schwer im Kommen.”

      “Schon gut.”

      “...na ja, die ganz Ausgefallenen halten natürlich Wave, EBM und was es da noch so alles gibt, die Treue.”

      “Hmpf...”

      “Wobei die Kiffer-Fraktion sich traditionell für Reggae und manchmal auch Ska interessiert...”

      “Sei Er doch endlich still!”

      Christian schwieg und legte sein berühmtes Halbmetergrinsen auf. Erst jetzt merkte Wittmann, dass er verkohlt wurde.

      “Hören Sie, mein lieber junger Freund. Sie überfordern mich hier ein bisschen; ich habe keine Ahnung, wovon Sie eben sprachen. Aber eine Sache ist mir doch aufgefallen. Genaugenommen sprechen Sie kein Deutsch, sondern irgendein Kuddelmuddel, für das mir kein passender Name einfallen will, was vielleicht auch besser so ist. Meint man in Ihrer Zeit vielleicht, besonders intelligent oder modern zu sein, wenn man die arme deutsche Sprache derart verunstaltet?”

      Christian blieb bei seinem Grinsen: “Tja, genau so ist das heute, genau so.”

       Charleston

      Unterdessen irrte Charlotte, die gar nicht mehr wusste, was sie tun sollte, durch die moderne Großstadt.

      Berlin hatte sich verändert. Es schien viel von seinem eigentümlichen Charakter verloren zu haben, fand sie auf den ersten Blick: dieser spröden Mischung aus Grobheit, Charme und unbedingtem Lebenswillen. Die Stadt wirkte vergleichsweise ruhig, wohlhabend und ein bisschen bequem. Große Baulücken machten aus der Riesenstadt eine bebaute Parklandschaft.

      Wirklich schön war sie ohnehin nie gewesen, die Vier-Millionen-Metropole inmitten der “Sandbüchse” des untergegangenen Disziplinarstaates Preußen, jenes trockenen, kühlen, pflichtbewussten und dienstwilligen Gebildes; und der Hauptstadt dieses Gebildes fehlte –wen kann es wundern– die ebenmäßige Ästhetik von Paris, die dunkle Sinnlichkeit Roms oder die melancholisch-tropische Grazie Lissabons. Sie bot keinen Louvre und kein Kolosseum, keine Palmen schwankten im atlantischen Wind.

      Aber diese Stadt hatte pulsiert, war hektisch, laut und überaus modern, so dass mancher Pariser von dieser fremden Metropole vollkommen überrascht in seine Heimat zurückgekehrt war.

      Wo andere Städte gewissermaßen bedächtig und allmählich in ihr heutiges Gesicht und ihre heutige Atmosphäre hinein gewachsen waren, da legte Berlin stets das doppelte Tempo vor: ständig sich verändernd, sich neu definierend, beständig mit sich selber in Krach und Zank; eine Stadt ohne Altstadt, mit Hunderten verschiedener Viertel, welche sich ebenfalls ständig und rasch veränderten, so als gelte es, irgend etwas aufzuholen, ohne Zentrum, aber mit vielen Zentren, die schnell, traditionslos aus dem Boden hervorschossen und ebenso schnell wieder vergingen.–

      Es war aber nicht solch verstiegene Philosophie, die Charlotte beschäftigte; sie vermisste einfach nur “ihr” Berlin, ihre Heimat, in der sie ihre bisherigen zwanzig Jahre praktisch ohne Unterbrechung gelebt hatte: nicht nur die Fassaden, mehr noch die Atmosphäre:

      das rabiate Chaos und das beispiellose Tempo, das der Stadt seinen Stempel aufgedrückt hatte. Alles schien gesetzt, ruhig, höchstens abgeklärt, eher langweilig, und die Menschen sagten ihr irgendwie gar nichts.

      Berlin, das einst jeden so neugierig auf mehr gemacht hatte, schien in den Ruhestand getreten.

      Charlotte suchte ihr altes Lokal.

      –Das “Café Modern” war ein eigentümlicher Anziehungspunkt für einige der schrägsten Vögel, die die Stadt zu bieten hatte. Es besaß eine eigene kleine Kapelle –will heißen: eine Jazzband– fünf Mann, davon zwei Amerikaner, die es im legal alkoholisierten und exzessschwangeren Berlin des Jahres 1930 gemütlicher fanden als im Prohibitions-Amerika. An Schlagzeug, Bass, Gitarre, Saxophon und Klavier wurde jeden Abend anderes Programm gespielt, ob Dixieland, Charleston oder wildes Ausprobieren neuer Klangdimensionen unter Haschisch-Einfluss. Und die Leute strömten in Scharen hin, das Café, das kein Café war, hatte die Bude allabendlich gerammelt voll. Manchmal waren Sängerinnen oder Sänger zu Gast, Schwarze, Weiße, und es scherte keine Sau, wer wie aussah oder wie bekannt war.

      Es wurde getanzt bis zum Umfallen, Schweiß spritzte, es wurde gefeiert, geflirtet, geküsst, geliebt, und ab und an saßen auch welche da herum, die bis oben hin voll mit Zeug einfach nur noch existierten. Ab und an kamen auch Menschen hin, die eher ein Nachtlokal klassischer Prägung erwarteten, ehemalige Landser, frustrierte Lehrer –alles mögliche verkehrte da, alles kam hinein und bei sporadisch auftretenden Schlägereien auch wieder hinaus; manchmal gab es Razzien, dann war das Geheul groß, schnell mussten Brüste bedeckt, Pulver versteckt und Haschischzigaretten unaufgeraucht im Aschenbecher zerquetscht werden. Auch Charlotte, die dort gelegentlich als Tänzerin in einer Gruppe von vier Mädels auftrat, hatte schon eine Razzia erlebt und war zum Glück entkommen; denn neunzehnjährig nahezu “oben ohne” und wahrscheinlich mit Hanf im Hirn dort herum zu hopsen war schwer verboten. Lieber hätte sie gesungen, und auf die Dauer war ihr der ganze Laden ohnehin etwas zu exzentrisch, aber eine andere, ihr genehmere Richtung einzuschlagen war angesichts ihrer finanziellen Situation vorläufig ausgeschlossen.

      Zudem war der Besitzer des Cafés, auf das sie derzeit doch noch angewiesen war, überaus skeptisch, ja, argwöhnisch, was die Auswahl der Sänger(innen) anbelangte –vorerst keine Chance für Charlie. Lieber ließ er das schmalhüftige Mädchen “mit den schönen großen Augen” (Gästezitat) tanzen, er glaubte mehr an ihre Ausstrahlung als an ihre Fähigkeiten.

      Charlotte war dort angekommen, wo ihr Arbeitsplatz eigentlich sein müsste; das alte Gebäude stand jedoch nicht mehr, ein neues mit schicker Glasfassade und unzähligen Büros war an seine Stelle getreten. Architekten, Rechtsanwälte und Ärzte bevölkerten diesen Platz, der einst einfache Wohnungen und unten drin ein kleines Sündenbabel beherbergt hatte.

      Sie wunderte sich eigentlich nicht, es hatte sie nur interessiert, was daraus geworden war.

      Denn dass sie durch irgendein Missgeschick in der Zukunft gelandet war, daran gab es für sie nun keinen Zweifel. Schnöde Buchhalterei statt exzessiver Lebensfreude –sie hatte es seit einer kleinen Weile vorausgeahnt. Sah so etwa die Zukunft aus?

      Charlotte war hungrig und ahnte, dass die Probleme jetzt erst richtig losgehen würden.

      Zu kaufen gab es viel; an jeder Straßenecke bekam man die kulinarischen Spezialitäten aus aller Welt unter die Nase gehalten; die Warenhäuser waren voll, eine Menge Geld zirkulierte in der Stadt. Charlotte hatte jedoch keines. –Eins war gleich geblieben: Sie ging pleite an all der Prachtentfaltung des modernen Kapitalismus vorbei.

      Aber es gab einen Umstand, der ihre Situation doch deutlich verschlimmerte: sie hatte keine Unterkunft, nichts anzuziehen außer dem, was sie am Leibe trug, und noch weniger zu beißen. Irgendwie musste Geld her, sonst würde sie elend verhungern und verdursten. Auch wenn sie sich gerade ausmalte, wie es wohl sei, zusammengekrümmt auf der Straße zu liegen, wusste sie doch, dass sie natürlich notfalls ihre alte Freundin aufsuchen könnte –kein Grund also, gleich an den nahenden Tod zu denken.

      Dennoch kam diese Möglichkeit aus ganz bestimmten Gründen ebenfalls nicht in Betracht; sechzig Jahre Altersunterschied zudem in einer ohnehin verdrehten


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